05.08.2014, 09:00 Uhr

Technologie-Trends bis 2020

IBM Research gibt den «Global Technology Outlook» bis 2020: Millenials verändern die Arbeit, Micro Clouds ziehen auf und Watson «denkt» mit.
Prognosen von zukünftigen technologischen Entwicklungen sind heikel. Wer vor fünf Jahren gewettet hätte, dass eine Smartphone-App zur ernsthaften Konkurrenz lokaler Taxi-Unternehmen wird, hätte eine hervorragende Quote bekommen. Uber war gerade gegründet. Heute klagen auch Zürcher Chauffeure über den neuen Wettbewerber bei der Personenbeförderung. Die Forscher von IBM Research wagen alljährlich wieder eine Zukunftsprognose, den «Global Technology Outlook». Der Report dient Unternehmensentscheidern zur Orientierung, welche technologischen Entwicklungen auf den Geschäftsnutzen hin überprüft werden sollten. Zwei Manager vom Industry Solutions Lab des IBM-Forschungszentrums in Rschlikon, Karin Vey und Stephan Schneider, gaben Computerworld einen Ausblick auf die Trends der nächsten drei bis fünf Jahre.

Millennials als Führungskräfte

Bereits heute zeichnet sich ab, dass Berufseinsteiger in den Führungsetagen einen anderen Umgang mit Technik pflegen. Diese Manager sind an Computer und Mobiltelefon im Beruf gewöhnt. Viele der Millennials ? Personen, die um die Jahrtausendwende ins Arbeitsleben eingestiegen sind ? setzen Informatik als Unterstützung des Geschäfts voraus. Überdies messen sie die Unternehmens-IT am iPhone und dem MacBook Air, die sie aus dem Privatleben kennen. «Die Geräte müssen einfach zu bedienen sein, eine Installation darf nicht Wochen dauern und bei Fehlfunktionen sind lange Wartungsintervalle nicht akzeptabel», sagt Managerin Vey. Smartphone-Apps dienten als Vorbilder: Sie sind per Fingerzeig heruntergeladen und auf Knopfdruck wieder entfernt, wenn sie die gewünschten Funktionen nicht mitbringen. Durch den Einzug der Millennials kommen auf den CIO nach Überzeugung der IBM-Wissenschaftler neue Praktiken auch in der Entwicklung von Unternehmens-Software zu. Wurde bis anhin gradlinig darauf hingearbeitet, ein definiertes Ziel zu erreichen, wird es künftig ein iteratives Vorgehen und Zwischenlösungen geben. Während des Entwicklungsprozesses wird die Informatik schon vorzeigbare Resultate liefern müssen, mit denen die Fachbereiche arbeiten oder auch spielen können. Dabei gilt es, schon mit den Teilresultaten möglichst viel Aufsehen zu erregen. Wenn viele Mitarbeiter die zwischenzeitliche Lösung testen, bekommt die Informatik maximal viel Rückmeldung, um das Produkt weiter zu optimieren. Wenn so die beste Lösung für diesen Schritt erreicht ist, kann auf das nächste Teilziel hingearbeitet werden, bei dem genauso verfahren wird. Das Entwickeln von Geschäftsanwendungen wird dann ein Kreislauf von Engineering, Testing und Reengineering, meint Expertin Vey. Das letztendlich erreichte Projektziel weicht vielleicht von dem am Anfang des Prozesses definierten ab, aber die erzielte Lösung entspricht viel besser den Anforderungen der Benutzer. In der App-Entwicklung oder beim Web-Design würde diese Entwicklungsmethodik heute teilweise schon angewendet, sagt IBM-Manager Schneider. «Die Anwendungen sind quasi in einem kontinuierlichen öffentlichen Beta-Test.» Dabei werden von den Programmierern alle Benutzerinteraktionen gemessen, um allfällige Fehler möglichst punktgenau lokalisieren und eliminieren zu können. Dies sei ein Vorgehen künftig auch für die Geschäftsinformatik, meint Schneider. Nächste Seite: Micro Clouds Das permanente Testen und Weiterentwickeln mit multiplen Rückmeldungsschleifen benötigt mehr Flexibilität und Agilität als der traditionelle Entwicklungsweg. Für die IBM-Wissenschaftler steht daher fest, dass die Cloud zur grundlegenden Technologieplattform für das Business wird. Das Cloud-Konzept sei mittlerweile gereift. «Die Cloud 1.0 war die Kostenreduktion, Cloud 2.0 die höhere Flexibilität und Geschwindigkeit. Cloud 3.0 ist nun der Business-Case jenseits der internen Informatik», erläutert Schneider. Er sieht Parallelen zur Entwicklung des World Wide Web: Von den statischen Seiten über den Browser-Krieg bis hin zum e-Business, als das Web für das Geschäft sich auszuzahlen begann.
Wer jetzt an Schatten-IT und Beschaffung jenseits der internen Informatik denkt, liegt nach Meinung der Forscher richtig. Die von Schweizer CIOs und Geschäftsführern vorgebrachten Einwände gegen die Public Cloud ? insbesondere Compliance- und Sicherheitsbedenken ? würden zwar respektiert und weitestgehend berücksichtigt. Die Millennials kauften aber anders ein, meint Vey. Wenn Informatikressourcen benötigt werden, würde künftig zwar der CIO konsultiert. Wenn er aber nicht liefern kann, kauft das Business selbst ein. Dann kommt quasi automatisch die Cloud ins Spiel, denn viele der erforderlichen Daten liegen bereits dort, etwa Kundenbewertungen, Produkt-Communities und Social Media.

Micro Clouds

Von der Public Cloud als Königsweg wollen die IBM-Experten aber auch nichts wissen. Vielmehr müsse den rechtlichen Einschränkungen und individuellen Bedenken der Firmen mit hybriden Infrastrukturen Rechnung getragen werden. «In der Cloud-Diskussion ist die Sicherheit das zentrale Thema», betont Schneider. Ein Ansatz, um den Sicherheitsanforderungen zu genügen, ist das Konzept der Micro Clouds. Der Grundgedanke dahinter ist: Wenn (schützenswerte) Daten in dedizierten Speichern eines Unternehmens liegen, kann die Rechenleistung auch zu den Daten gebracht werden. Ein Beispiel wäre eine Bank mit Geschäftstätigkeiten in verschiedenen Ländern. Aufgrund von Compliance-Vorschriften dürfen die Daten nicht verschoben werden. Eine Micro Cloud bringt die Analytik zu den lokalen Daten, wenn eine Quartalsrechnung oder eine Risikokalkulation erforderlich ist. Vey berichtet von Gesprächen mit dem Vorstand eines weltweit tätigen Finanzdienstleisters, der ob neuen Möglichkeiten frohlockt. «Micro Clouds erlauben vergleichende Analysen über Grenzen hinweg, ohne riesige Datenmengen zu bewegen und die Compliance zu tangieren», erinnert sich die IBM-Managerin an die Reaktion des Bankers. Bis anhin würden die Reports aus den verschiedenen Niederlassungen noch manuell an den Unternehmenshauptsitz gemeldet. Nächste Seite: Modelle in der virtuellen Welt In der Industrie hält die Informationstechnologie unterdessen auch Einzug ? Stichworte Industrie 4.0 und Internet der Dinge. Verschiedene Studien sagen voraus, dass sich die Verbreitung von Chips oder Sensoren in Maschinen und Alltagsgegenständen in den nächsten Jahren exponentiell erhöhen wird. Damit kommen einerseits grosse Datenmengen auf die Fertigungsbetriebe zu, andererseits aber auch die Frage nach der gezielten Nutzung. Im Fokus stehen operative Anwendung und die Vorhersage. Anlagen werden schon heute mithilfe von Sensoren überwacht und Ersatzteile bei Bedarf automatisch nachbestellt.
In der Zukunft sollen zum Beispiel Windparkbetreiber die Auslastung der Rotoren modellieren und unterschiedliche Nutzungsszenarien durchspielen können. IBM-Spezialist Schneider sagt: «Das Physical Modelling setzt eine Repräsentation der Maschinen in der virtuellen Welt voraus.» Wenn am Computer die Leistungsdaten des Windparks und die öffentlich verfügbare Wetterprognose vorliegen, kann der Betreiber abwägen, ob es wirtschaftlich sinnvoll ist, eine Anlage zeitweise über die Belastungsgrenze hinaus laufen zu lassen. Ein Überlastbetrieb kann unter Umständen mehr Gewinn abwerfen als die Kosten ausmachen, die durch eine kürzere Lebensdauer der Rotoren entstehen. «Solche Modellierungen erfordern allerdings auch neue Qualifikationen, da unterschiedliche Disziplinen zusammenkommen. Dabei werden auch die klassischen Aufgabengebiete des CIO und des CTO entweder kollidieren oder verschmelzen», glaubt Schneider.

Systems of Insight

Als übergeordneten Trend sieht IBM die «Systems of Insight», eine Kombination der Systems of Record (Geschäftsdaten) und der Systems of Engagement (Mobile und Social Business). In diesen Lösungen kommen mithilfe von Analytik gewonnene Erkenntnisse aus den gespeicherten Geschäftsdaten mit aktuell aus Umweltinformationen gewonnenen Einsichten zusammen. Eine Anwendung wäre zum Beispiel ortsbezogene Werbung auf dem Smartphone-Display: Wenn ein Anbieter die Ortungsdaten von Handys auslesen kann, könnte er einen Passanten, der vor einem Shop steht, mit Rabatten locken. Dabei sind die Möglichkeiten vielfältig. Treue Kunden bekommen mehr Discount, aktive Kunden (Facebook-Likes oder Tweets) bekommen spezielle Produkte offeriert oder einen Kaffee spendiert. Die grösste Herausforderung beim Realisieren der Systems of Insight sind die kaum standardisierten Daten aus verschiedenen Quellen. Experte Schneider beziffert den Anteil von Vorarbeiten für die Datenaufbereitung in einem Projekt mit circa 70 Prozent. Es müssten Informationen aus Business-Applikation extrahiert und Datensilos aufgebrochen werden. Dabei könne natürlich Technologie helfen, ein Patentrezept haben aber auch die IBM-Forscher nicht. Um Systems of Insight in quasi Echtzeit möglich zu machen, arbeiten die Kollegen im Labor in Rüschlikon zum Beispiel bereits mit einigen Schweizer Firmen an Projekten. Nächste Seite: der Watson-Cocktail Im diesjährigen «Global Technology Outlook» ist IBMs Watson-Technologie ebenfalls ein Thema. Aktuell arbeiten Wissenschaftler und auch IT-Berater daran, die Technologie für den geschäftlichen Einsatz fit zu machen. Bekannt sind Anwendungen von Watson als ärztliche Unterstützung in Spitälern, als Assistenz in der Finanzbranche und als Support-Mitarbeiter im Kundendienst.
Die Weiterentwicklung von Watson besteht nach den Worten von Schneider in der Dezentralisierung der Lösung. So soll es in Zukunft nicht nur ein zentrales Watson-System geben, sondern «Cogs». Diese «kognitiven» Agenten unterscheiden sich durch das jeweils vorhandene Fachwissen, etwa ein virtueller Experte für Notfallpläne und ein anderer für lokale Wettermodelle. Je nach Anforderung könnten die Cogs zusammen wirken und über Schnittstellen auch Sensorinformationen oder andere Echtzeit-Datenströme integrieren. Vey erläutert ein Beispiel, in dem ein Energieversorgungsunternehmen mit Hilfe des Systems den Notfallplan für einen Schneesturm oder eine Überschwemmung erstellen könnte. Mögliche Auswirkungen auf die Bevölkerung, die kritischen Infrastrukturen und die Umwelt können betrachtet und Szenarien innerhalb kürzester Zeit durchgespielt werden. Ziel der Simulation ist das Erstellen eines optimalen Notfallplans. Eine Grenze von Watson sehen die IBM-Wissenschaftler in der Kreativität: Das System könne zwar vorhandenes Wissen verknüpfen und in neuer Art kombinieren. Eine wirklich Problemlösung im Sinne einer «Schöpfung aus dem Nichts» ist nach Aussage von Vey mit dem System nicht möglich. Wenn der Computer allerdings mit den chemischen Grundlagen von Zutaten und ihren molekularen Strukturen plus Verbindungsmöglichkeiten, traditionellen Rezepten sowie Statistiken über typische Geschmacksvorlieben von Menschen gefüttert wird, kann er durchaus einen neuartigen Cocktail mixen: Der «französische Champagner Punsch» ist nach Aussage von Schneider und Vey «interessantes, neues Geschmackserlebnis».



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