Windows 8 09.09.2011, 11:43 Uhr

Quo vadis, Microsoft?

Für Windows 8 verspricht Microsoft nicht weniger, als sich – oder zumindest seine grösste Cash-Cow – neu zu erfinden. Dafür muss Windows 8 mehr bieten als schickes Design.
Design-Fans und Feature-Jäger bekommen seit circa einem Monat auf dem Entwickler-Blog zu Windows 8 fast täglich neues Futter. Indes beleuchtete Windows-Chefentwickler Steven Sinofsky bisher fast ausschliesslich Funktionen, die auch mit aktuellen Versionen des Betriebssystems möglich sind. So kann ein findiger Entwickler zum Beispiel problemlos einen neuen Dialog für das Management von Dateinamenskonfliktenprogrammieren. Eine solche Funktion ist zweifellos nützlich, vereinfacht die Arbeit, kratzt aber nur an der Oberfläche des eigentlichen Problems: Wie gewinnt Microsoft die Anwender für sich, die wegen zu komplizierter Handhabung drohen, zur Konkurrenz abzuwandern? Sinofsky und sein Team versuchen, das Problem vorläufig mit einer Kombination aus benutzerfreundlichem Design, Funktionsvielfalt und Wahlfreiheit zu lösen. Auf dem Windows-8-Blog wird etwa anhand von Klickstatistiken dokumentiert, wie Anwender den Explorer benutzen. Diese Bildschirmprotokolle verwendet das Entwicklerteam, um dem Dateimanager eine optimierte Multifunktionsleiste zu verpassen. So ist Microsoft schon im viel funktionsreicheren Office vorgegangen, das Resultat lieben einige und hassen andere seit Ausgabe 2007. Dass der Windows Explorer nun auch eine Multifunktionsleiste – englisch «Ribbon» – bekommt, ist nur konsequent – aber keinesfalls der grosse Wurf für Windows 8.

Software aus dem App-Store

Als ähnlich unspektakulär ist das Einbinden eines App-Stores in Windows 8 zu bewerten. Schon heute liefert Microsoft sein Betriebssystem ohne  Zusatzprogramme wie Fotogalerie, Messenger oder Movie Maker aus. Diese Tools sind in den «Windows Live Essentials» gebündelt, könnten aber genauso im Regal eines App-Stores stehen. Der App-Store von Windows 8 – für den Chefentwickler Sinofsky ein eigenes Team gebildet hat – nimmt lediglich die Grundidee von Apple & Co. auf. Neu führt es Microsoft auf die meist verbreitete Oberfläche der Computerindustrie weiter: den Windows-Desktop. Bisher waren Apps hauptsächlich auf Smartphones und Tablets beschränkt. Nächste Seite: Windows 8 fürs Tablet Obgleich Microsoft schon seit fast einem Jahrzehnt ein Betriebssystem für Tablet-Computer besitzt, musste erst Apple kommen, um den Markt aus der Taufe zu heben. Auf den ersten Blick sieht es nun so aus, als wenn der Windows-Konzern den Trend verpasst hätte und dem Mac-Unternehmen nur noch folgen kann. Zumindest für den umkämpften Endverbrauchermarkt stimmt dieser Eindruck weitestgehend. Im lukrativen Business-Umfeld indes sind heute für beispielsweise Industrieanwendungen durchaus Tablet-PCs im Einsatz. Auf den meisten läuft Windows; Gründe sind häufig die lange Liste kompatibler Geräte, unterstützter Schnittstellen oder schlicht die Tatsache, dass eine Fachapplikation für die Microsoft-Plattform entwickelt wurde.
Angesichts der Verkaufserfolge von Apple, Samsung & Co. strebt Microsoft nun verstärkt auf den Tablet-Markt für Endanwender. Dafür taugen Windows XP, Windows Vista, Windows 7 nur bedingt, obwohl alle drei Systeme die Stifteingabe oder Fingerbedienung unterstützen. Vergleichsweise winzige Menüpunkte, Listen und Icons auf der Windows-Oberfläche erfordern aber Präzision, die Benutzer in Zeiten des iPad nicht willens sind, aufzubringen.

Kacheln für die Finger

Microsoft hat gelernt und verstanden. Im Juni zeigte der Konzern seine Ideen für künftige Tablet-Rechner. Windows 8 bekommt eine spezielle Oberfläche für die Fingereingabe, die den Benutzer von der Pflicht, mit einem Stift auf Tablets zu arbeiten, entbindet. Das «Kachel»-Design der Touch-Oberfläche ähnelt der «Metro»-Oberfläche von Windows Phone. Das ist kein Zufall, denn die Kacheln sind Microsofts Oberflächendesign für die Fingerbedienung. Indes ist das Touch-Interface nur eine Option; der altgediente Windows-Desktop bleibt parallel erhalten. Gezeigt hat Microsoft das Touch-Design auch auf System-on-a-Chip-Plattformen (SoC), die von Hersteller für moderne Tablets verwenden. Die ARM-Systeme sind preiswert, erlauben lange Laufzeiten und entwickeln weniger Abwärme. Allerdings handelte es sich bei den Geräten noch um Prototypen, genau wie beim Betriebssystem selbst. Beim Portieren des Windows-Codes auf die neue Plattform drängt allerdings die Zeit, will Microsoft nicht noch mehr Anteile am Tablet-Markt an Apple und Samsung verlieren.

Killer-Feature Handschrift

Ein Ass, das Microsoft aus dem Ärmel ziehen könnte, ist die Handschrifterkennung. Die Technik wurde zusammen mit Windows XP im Jahr 2001 vorgestellt und seitdem kontinuierlich weiterentwickelt. Seit Windows Vista ist die Handschrifterkennung fester Bestandteil des Betriebssystems. Sie lernt selbständig während des Schreibens die individuellen Charakteristika einer Handschrift. Trotzdem funktioniert die Erkennung weiterhin Schreiber-unabhängig. In Windows 7 schlägt der Texterkennungsalgorithmus dem Benutzer nach wenigen geschriebenen Buchstaben vor, welches Wort er wahrscheinlich schreiben will. Die Microsoft-Technologie ist weit fortgeschritten, führt aber wegen der wenig attraktiven Windows-Tablets ein Mauerblümchendasein. Mit Windows 8 könnte sich das ändern, wenn Microsoft die Verarbeitungsalgorithmen so optimiert, dass sie auch auf schlanken ARM-Systemen laufen. Auch müssen es die Tablet-Hersteller schaffen, die Fingereingabe mit der Handschrifterkennung so zu kombinieren, ohne dass der Anwender auf ein schnell reagierendes Gerät verzichten müssen. Dann gibt es zum Beispiel im Geschäftsalltag keinen Grund mehr, mit einem Bleistift und einem Notizblock in eine Konferenz zu gehen – denn anstatt der Sekretärin kann genauso gut Windows die Handschrift entziffern und in das Protokoll eintragen. Nächste Seite: wer braucht Windows 8?
Insbesondere für Geschäftskunden ist das papierlose Büro mit Windows 8 ein schwaches Argument, um auf ein neues Betriebssystem zu wechseln. Viel überzeugender – auch aus Sicht des CFO – ist der Trend zu «Bring Your Own Device» (BYOD). Wenn Angestellte ihren privaten Rechner für Geschäftszwecke nutzen, erspart sich der Arbeitgeber die Investition in Büro-PCs. Dann müssen natürlich die Business-Applikationen auf den Privat-PCs bereitgestellt werden. Das ist allerdings heute mit Virtualisierung problemlos machbar. Wenn der Client dann auch noch ein schickes Tablet oder ein Design-Rechner sein darf, sind die Mitarbeiter zufrieden – insbesondere, wenn der Arbeitgeber den PC noch subventioniert.

Windows 8 zu früh für die Schweiz

Aus heutiger Sicht sind aber diese Möglichkeiten, die sich für Microsoft und seine Kunden mit Windows 8 auftun, noch Zukunftsvisionen. Hierzulande wird es offenbar vorerst auch dabei bleiben. «Zurzeit ist bei 80 Prozent der Schweizer Unternehmen entweder Windows 7 im Einsatz oder der Wechsel auf das neue Betriebssystem steht bevor», sagte der scheidendeMicrosoft-Landesgeschäftsführer Peter Waser erst im vergangenen Monat. Die Unternehmen, die auf Windows 7 setzen, werden kaum auf Windows 8 warten. Entsprechend täte Microsoft gut daran, Windows 7 noch mehr Zeit zu geben. Ein schon im nächsten Jahr lancierter Nachfolger könnte für Verunsicherung unter den lukrativen Geschäftskunden sorgen, die dem Support-Ende von Windows XP im Jahr 2014 zuvor kommen wollen und auf Windows 7 migrieren. Solche Projekte würden wegen Windows 8 womöglich gestoppt, die getätigten Investitionen abgeschrieben. Einen Start mit Zähneknirschen wird Microsoft für das laut Chefentwickler Sinofsky «wichtigste Windows seit Jahrzehnten» nicht anstreben.



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