«Wir müssen die Hälfte der Wirtschaft neu erfinden»

Demokratie 2.0 statt Feudalismus 2.0

Computerworld: Ich stelle aber auch gegenläufige Tendenzen fest. Krankenkassen ermuntern die Leute zum Einsatz von Fitness-Armbändern. Noch kann man sich dem verweigern, aber könnten sie uns nicht bald dazu zwingen, indem sie uns dafür günstigere Prämien versprechen?
«Es besteht durchaus die Gefahr, dass wir im Feudalismus 2.0 landen»
Quelle: Stefan Walter/Computerworld
Helbing: Ich bin mir nicht sicher, ob sich dieses Modell bewährt. Stellen wir uns vor, dass wir übermitteln müssen, was wir essen, wie viel Salat, wie viele Steaks und was noch alles. Aus der Sicht der Krankenkasse mag das Sinn machen. Wenn wir aber einen Big-Data-Algorithmus über unsere Ernährungsdaten laufen lassen, dann wird da implizit, ohne dass das gewollt ist, herauskommen, dass Männer und Frauen, aber auch Christen, Muslime und Juden unterschiedliche Tarife bezahlen müssen. Plötzlich haben wir da ein massives Diskriminierungsproblem. Ich habe deshalb einen besseren Vorschlag: Warum den Patienten nicht digitale Assistenten an die Hand geben, die sie beraten in ihrem alltäglichen Verhalten, ohne dass das Verhalten detailliert an die Versicherung gemeldet wird? Jeder möchte gesünder sein, keiner möchte die Umwelt zerstören. Die Frage ist, braucht es diesen Überwachungsansatz, oder ist es langfristig nicht besser, an den selbstverantwortlichen Bürger zu appellieren, aber ihn auch zu befähigen, bessere Entscheidungen zu treffen? Derzeit besteht die akute Gefahr, dass wir in einer immer mehr entmenschlichten Gesellschaft enden, wo unsere Privatsphäre schwindet und alles, was wir machen, aufgezeichnet wird, bis hin zu unseren intimsten Gefühlen, Regungen, Beziehungen, Begegnungen und Sehnsüchten. Wir kämen dahin, dass wir immer mehr wie Roboter würden, die nur noch Befehle empfangen und ausführen. Es besteht durchaus die Gefahr, dass diese Technologien uns Menschen versklaven. Und wenn wir das nicht ändern, wird das in den Feudalismus 2.0 münden. Ich garantiere Ihnen, dass das keine stabile Gesellschaft wäre, sondern genau zu diesen Revolutionen führen würde, die wir vermeiden sollten. Deshalb müssen wir die Demokratie weiter entwickeln mit den nun verfügbaren digitalen Möglichkeiten, hin zur Demokratie 2.0. Wir müssen also unsere Demokratie einer Frischzellenkur unterziehen. Wir müssen digitale Plattformen benutzen, um mehr Beteiligung zu erreichen. Es muss klar sein, dass der Ansatz, den wir in den letzten Jahren gesehen haben, nicht zum Erfolg geführt hat. Dieser Ansatz war: die Politiker haben sich darüber beklagt, dass die Bürger ihnen das Leben schwer machen. Die Unternehmen haben sich über die Politik beklagt und gesagt: «Wir richten das schon. Gebt uns nur alle Möglichkeiten und macht den Weg frei. Dann lösen wir alle Probleme der Welt.» Hierfür gibt es aber keine Indizien. Unter den lebenswertesten Städten der Welt ist keine einzige Stadt aus den führenden Digitalnationen. Wir dürfen uns deshalb nicht verabschieden vom europäischen Erfolgsmodell, das auf Diversität und Pluralität basiert, auf Werten wie Kultur, Aufklärung und Bildung beruht, und auf verantwortungsvolle Bürger setzt - nicht auf Untertanen. Nächste Seite: Ist die Schweiz prädestiniert für Demokratie 2.0?
Computerworld: Wie sehr ist hier die Schweiz prädestiniert, die Demokratie 2.0, wie sie Ihnen vorschwebt, umzusetzen?
Helbing: Eigentlich sehr. Hierfür bräuchte es Online-Plattformen, wo relevante Themen auf den Tisch kommen, Argumente gesammelt und geordnet werden, wo Ideen diskutiert werden, bis sich einige wenige Perspektiven zu einem komplexen Problem herauskristallisiert haben. Dann könnte die Politik die Vertreter dieser verschiedenen Perspektiven an einen runden Tisch einladen und versuchen, sie so weit es geht in integrierten Lösungen zusammenzuführen. Hier haben wir in der Schweiz grosse Erfahrung. Für die Aktivierung "kollektiver Intelligenz" ist übrigens Diversität ein grosser Vorteil. Leider hat man in letzter Zeit in Europa zu sehr auf Homogenisierung gesetzt, während die eigentliche Besonderheit Europas seine grosse Vielfalt ist. Jetzt müssen wir lernen, wie man sie in einen Vorteil verwandelt. Daran müssen wir arbeiten - nicht die Diversität abschaffen, sondern in Wertschöpfung umsetzen. Globale Unternehmen wissen schon lange,
dass kulturell diverse und interdisziplinäre Teams erfolgreicher sind als homogene.
Computerworld: Was passiert konkret in der Schweiz? Sie sind ja Teil der vom Bundesrat eingesetzten Expertengruppe «Zukunft der Datenbearbeitung und Datensicherheit». Reicht das, um uns für die digitale Transformation zu wappnen?
Helbing: Zur Arbeit der Kommission kann ich nicht mehr sagen, als was bislang öffentlich bekannt ist, denn die Sitzungen sind vertraulich. Es geht um die Bestandsaufnahme sowohl der Potentiale als auch der Risiken der digitalen Technologien, die jetzt verfügbar werden. Aber das ist natürlich nicht das Einzige, was in der Schweiz geschieht. So gibt es Zürich 2025, womit man das Silicon Valley Europas schaffen möchte. Es gibt den Innovationspark Dübendorf, an dem man arbeitet, und es gibt an allen Universitäten und Hochschulen viele neue Aktivitäten. Es ist somit eine Menge in Bewegung gekommen. Ich bin aber Ihrer Meinung, dass noch viel mehr passieren muss und zwar schnell. Denn wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir müssen es irgendwie schaffen, den ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel im gleichen Tempo voranzutreiben wie die technologische Revolution voran schreitet. Aufhalten können wir diesen rasanten Wandel nicht, aber mit etwas Glück können wir ihn zu unseren Gunsten gestalten.



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