«Wir müssen die Hälfte der Wirtschaft neu erfinden»

Braucht es noch CEOs?

Computerworld: Was hat das für Auswirkungen auf die Hierarchien in Unternehmen? Wenn ich mir das anhöre, wird jeder zu seinem eigenen kleinen Unternehmer, der sich selbst und seine Dienstleistungen verkauft. Braucht es da überhaupt noch CEOs?
Quelle: Stefan Walter/Computerworld
Helbing
: Seit Jahrzehnten flachen die Hierarchien ab. Was wir sehen, ist einfach eine Weiterentwicklung dieses Trends. In der Tat könnte es so enden, dass jeder ein sozialer, politischer oder ökonomischer Unternehmer wird - ein Erfinder, der Ideen hat und Projekte mit anderen aufzusetzen versucht. Aber es gibt grosse und kleine Ideen. Daher wird es auch weiterhin grosse Unternehmen geben, die grosse Ideen umsetzen. In erster Linie geht es jetzt darum, Gelegenheiten für alle zu schaffen. Ungleichheit wird es weiter geben, als Triebkraft von Wirtschaft und Gesellschaft. Aber es wird eine neue Art von Wettbewerb geben, der vermehrt auch kooperative Züge hat. Bestes Beispiel ist hier die Sharing Economy, die vielleicht ein Resultat der Wirtschafts- und Finanzkrise ist. Warum? Weil die Leute mit weniger Geld trotzdem ihren Lebensstandard halten wollten, ist man erfinderisch geworden. Man zog die Konsequenzen daraus, dass das Auto die meiste Zeit nur herumsteht und die Bohrmaschine auch nicht ständig benötigt wird, dass man diese Dinge also mit anderen teilen kann. Interessanterweise ist die Sharing Economy nachhaltiger, und sie ermöglicht eine hohe Lebensqualität für mehr Menschen.
Computerworld: Was ja kein völlig neues Konzept ist, denn Genossenschaften gab‘s ja früher auch schon. So teilen Bauern sich Landwirtschaftsgeräte...
Helbing: Genau. Wir haben es in Europa nur versäumt, das Ganze zu digitalisieren. Uber und Airbnb sind hier nur der Anfang. Wir müssen jetzt aufs Gas drücken, um Plattformen zu errichten, mit denen es einfach wird, Ressourcen und Interessen von Menschen zu koordinieren.
Computerworld: Was wären solche Plattformen?
Helbing: Wenn wir hier in Europa Daten zur Verfügung haben möchten, um datengetriebene Arbeitsplätze, Services und Produkte auf den Weg zu bringen, dann müssen wir unsere eigenen Daten erzeugen. Zum Beispiel könnte man das Internet der Dinge als Bürgernetzwerk betreiben. Schliesslich haben wir alle das Instrument dafür in der Hand: unser Smartphone. Das Interessanteste daran ist nicht das Telefon, sondern die Sensoren. Von denen gibt es nämlich deren 15, etwa für Lautstärke, Helligkeit, Beschleunigung oder Geolokation. Und diese Sensoren können wir nutzen, um Messungen zu machen. Nach Alexander von Humboldt steht somit die «Vermessung der Welt 2.0» an. Gemeinsam werden wir unsere Umwelt neu vermessen. Nur ein Beispiel: Leute, die sich für Vögel interessieren, werden aufzeichnen, wo welche Vögel unterwegs sind, wie sie singen und welche Wege sie nehmen. Und all diese Dinge können wir gemeinsam als Gesellschaft im Sinne von «Citizen Science» erfassen. Mit diesen Daten wird es einerseits möglich sein, Geld zu verdienen. Andererseits sind sie wertvoll und wichtig, um Risiken einzuschätzen, um uns zu schützen, um unsere Umwelt zu bewahren, sowie um die Ressourcen, die wir haben, besser und nachhaltiger zu nutzen. Ein Anfang ist hier etwa unser Nervousnet-Projekt, mit dem wir jetzt an die Öffentlichkeit treten können. Nun hoffen wir, dass sich viele dafür begeistern und mitmachen, wie das bei Open Street Map oder Wikipedia der Fall war.
Computerworld: Was genau ist das Nervousnet?
Helbing: Es ist eine App, die man sich aufs Smartphone laden kann, um damit Messungen aller Art durchzuführen. Diese Messungen werden dezentral gespeichert. Dabei soll jeder selbst bestimmen können, welche Sensoren verwendet und welche Daten geteilt werden. Bald wird man auch einstellen können, nach welcher Zeit die Daten wieder gelöscht werden. Irgendwann hoffen wir, dass jeder Bürger einen Personal Data Store hat, über den er selber verfügt. Gesetze werden regeln müssen, dass jeder, der Daten über jemanden erzeugt, diese Daten in dessen Datenmailbox schicken muss. Jeder kann dann bestimmen, ob er Daten zur Nutzung freigeben möchte oder eben nicht. Meines Erachtens werden viele Menschen tatsächlich Daten für bestimmte Anwendungen, die ihnen nützlich erscheinen, zur Verfügung stellen. Und damit wird man früher oder später auch Geld verdienen können. Unsere ersten Anwendungen sind das Treasure Hunt for Falling Walls Spiel und die Swarmpulse App, mit der man Lautstärke und Helligkeit geolokalisiert messen kann. Aber man kann auch Texte oder Links zu Fotos und Videos geolokalisiert teilen. Damit wird es im Prinzip möglich, die Umwelt zu kartieren.
Computerworld: Ihr Projekt ist löblich. Ich kann mir aber vorstellen, dass heutige Datenkraken wie Google und Facebook keine Freude an so viel Selbstbestimmung über die eigenen Daten haben.
Helbing: Ich bin mir da gar nicht mehr so sicher und beobachte ein Umdenken. Google erlaubt jetzt seinen Nutzern, die über sie gespeicherten Daten einzusehen. Man könnte sie also auch kopieren. Ausserdem gab es eine Ausschreibung von Google in Richtung Open Innovation im Zusammenhang mit dem Internet der Dinge. Das ist eine ziemlich ungewöhnliche Initiative, wenn man es vergleicht mit der Verschlossenheit, die das Unternehmen in der Vergangenheit an den Tag gelegt hat. Google hat realisiert, dass es der Firma gegenüber grosse Skepsis gibt. Die Leute haben Angst, dass jede Regung des Lebens, jeder Schritt, jeder Tritt, jedes Wort, das man sagt, in den Datenspeichern eines Unternehmens landen wird. Google ist es daher nicht gelungen, das Internet der Dinge mit der bisherigen Strategie zu dominieren. Kurz vor der Umstrukturierung von Google zu Alphabet hat Larry Page ausserdem gesagt, dass man unabhängiger werden wolle von personalisierter Werbung, die heute 90 Prozent der Einnahmen generiert. Möglicherweise ist das Geschäftsmodell nicht mehr zukunftsfähig. Apple dagegen hat offiziell verlautbart, dass es die privaten Daten besser schützen werde als Google und Facebook und sich von deren Nutzung persönlicher Daten mehrfach distanziert. Es ist somit einiges in Bewegung gekommen. Es gibt auch eine Initiative, die vom MIT lanciert wurde, bei der zwar nicht wörtlich aber doch zwischen den Zeilen gesagt wird, dass das Silicon-Valley-Modell nicht zu dem allgemeinen wirtschaftlichen Erfolg geführt hat, den man sich erhofft hatte, also zu mehr Wohlstand für alle. Insofern macht sich die Forderung nach einer digitalen Wirtschaft und Gesellschaft breit, die inklusiver ist. All das ist exakt auf der Linie dessen, was ich seit Jahren empfehle.



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