Analyse 07.05.2014, 14:40 Uhr

Technikchef Vishal Sikka kehrt SAP den Rücken - was nun?

Paukenschlag bei SAP: Technikvorstand Vishal Sikka, der die Entwicklung des Hoffnungsträgers HANA massgeblich geprägt hatte, verlässt den Softwarekonzern. Der überraschende Abschied wirft Fragen auf, wie Bill McDermott die künftige SAP-Strategie ausrichten wird.
Der berraschende Rcktritt von SAPs Technikchef Vishal Sikka hat Diskussionen angefacht, welchen strategischen Weg der grösste deutsche Softwarehersteller einschlagen wird. Wieder einmal steht der Konzern vor einem Wendepunkt. Nachdem es dem Führungs-Duo Bill McDermott und Jim Hagemann Snabe in den zurückliegenden Jahren gelungen war, den durch die ungeschickte Erhöhung der Wartungsgebühren angerichteten Vertrauensverlust ihres Vorgängers Leo Apotheker wieder gutzumachen und gemeinsam mit ihrem technischen Visionär Vishal Sikka eine langfristige Produktstrategie gerade für wichtige Themen wie Cloud Computing und Big Data auf den Weg zu bringen, steht das erfolgreiche Trio nun vor der Auflösung.
Bereits Mitte vergangenen Jahreshatte Co-CEO Snabe bekanntgegeben, sich nach der Hauptversammlung am 21. Mai dieses Jahres aus dem operativen Geschäft zurückziehen und danach für einen Posten im SAP-Aufsichtsrat kandidieren zu wollen. Nun hat auch SAPs technischer Vordenker Sikka seinen Rücktritt bekannt gegeben. Begründet wurde dieser Schritt in einer offiziellen Verlautbarung seitens SAP mit persönlichen Gründen. SAPs Mitbegründer und heutiger Aufsichtsratschef Hasso Plattner würdigte den «entscheidenden Beitrag», den Sikka zur Entwicklung der eigenen Cloud- und HANA-Plattform geleistet habe. Plattner bedankte sich auch persönlich dafür: «Unsere Freundschaft wird auch in Zukunft bestehen bleiben», betonte er. Sikka galt als ein besonderer Schützling Plattners und wurde von vielen Marktbeobachtern als Wegbereiter für SAPs Hoffnungsträger, der In-Memory-Datenbank-Plattform HANA gesehen. Nachdem Snabe, der im Führungs-Duo den Part für Technik und Produkte verantwortete, seinen Rückzug angekündigt hatte, übernahm Technikvorstand Sikka einen Grossteil von dessen Aufgaben. Bei Analysten galt der Inder als möglicher zweiter Mann neben McDermott. Doch das ist nun Vergangenheit. Der starke Mann bei SAP ist der US-amerikanische Marketing- und Vertriebsspezialist Bill McDermott. Inwieweit Reibereien und Unstimmigkeiten über die Strategie und Ausrichtung von SAP mit ein Grund für die Demission Sikkas gewesen sind, bleibt indes Spekulation. SAP wollte entsprechende Vermutungen nicht kommentieren. Auch rund um Snabes Rückzug hatte es bereits Gerüchte über mögliche Unstimmigkeiten im engsten Führungszirkel gegeben.

Pikantes Timing

Aus Sicht von Forrester-Analyst Stefan Ried ist das Timing von Sikkas Abschied einen Monat vor SAPs Hausmesse Sapphire allerdings durchaus pikant. Gerade auf diesen Grossveranstaltungen werde die Strategie der Softwerker aus dem Badischen festgeklopft. Vielleicht sei man sich in der Chefetage nicht einig gewesen, was man Anfang Juni in Orlando, Florida, seinen Kunden und der Öffentlichkeit präsentieren sollte, mutmasst der Experte. Nächste Seite: Sind SAPs Ziele zu ergeizig? Doch gerade angesichts der gravierenden Veränderungen im Geschäftsmodell - vor allem hinsichtlich Cloud-Computing und der Entwicklung der HANA-Plattform - sowie der selbst gesteckten Ziele, kommt der richtigen strategischen Ausrichtung eine existenzielle Bedeutung zu. Schliesslich steht mit 2015 das Jahr der Wahrheit an. Und die Ziele sind ehrgeizig - teilweise offenbar zu ehrgeizig. Erst Anfang des Jahres hatte die SAP-Führung ihr Margenziel verschoben. Ursprünglich sollte bereits im kommenden Jahr eine operative Marge von 35 Prozent zu Buche stehen. Dieses Ziel werde man jedoch erst 2017 erreichen, räumten die SAP-Verantwortlichen ein. Es habe noch kein Unternehmen gegeben, welches den Schritt in die Cloud gegangen wäre, ohne zwischenzeitlich bei Umsatz und Gewinn zurückzustecken, kommentierte damals Co-SAP-Chef Snabe.
An den anderen Zielen hielt der Konzern dagegen fest: Für 2015 erwarten die Walldorfer einen Jahresumsatz von 20 Milliarden Euro, 2017 sollen es 22 Milliarden Euro sein - zum Vergleich: 2013 beliefen sich die Einnahmen auf 16,8 Milliarden Euro. Um diese Ziele zu erreichen wird sich SAP jedoch steigern müssen. Nachdem man für das laufende Jahr seine Prognose für das Umsatzwachstum auf sechs bis acht Prozent zurechtgestutzt hatte, braucht SAP im kommenden Jahr ein zweistelliges Plus, um seine ambitionierte Messlatte nicht zu reissen. Bei den Cloud-Umsätzen peilt der Konzern für 2015 zwei Milliarden Euro an, das wären zehn Prozent vom Gesamtumsatz. Im vergangenen Jahr standen unter diesem Posten knapp 700 Millionen Euro zu Buche. Vielleicht habe man bei SAP die Geduld verloren, vermutet IDC-Analyst Philip Carter. Wie der Rückzieher beim Margenziel gezeigt habe, stehe der Konzern unter Druck - von verschiedenen Seiten. Einerseits forderten Börse und Anleger mehr Wachstum und bessere Profitabilität, andererseits stehe mit dem Schwenk in Richtung Cloud ein massiver Umbau des gesamten Geschäftsmodells an. Beides lasse sich nur schwer unter einen Hut bringen. Die HANA-Plattform bezeichnet Carter als wichtigen Meilenstein für SAP. Allerdings gebe es an dieser Stelle noch viel Erklärungsbedarf. Schliesslich habe die Entwicklung in den vergangenen Jahren eine rasante Metamorphose von einem Analytics-Werkzeug über eine In-Memory-Datenbank zu einer Applikationsplattform hingelegt. In diesem Zusammenhang wollen die Kunden keine Visionen hören, wie das System in zehn Jahren aussehen wird - so wie es Sikka auf den vergangenen SAP-Hausmessen präsentiert hat, moniert der IDC-Analyst. Die Anwender wollten vielmehr wissen, wie sie die Plattform heute einsetzen können und vor allem was es ihnen bringt. «SAP muss die Dinge erklären und vereinfachen», lautet Carters Fazit. Nächste Seite: Balance zwischen Technik und Vertrieb droht zu kippen
SAP braucht die richtige Balance zwischen Produkt- und Vertriebsfokus, bekräftigt auch Forrester-Analyst Ried. Mit dem Führungs-Duo aus dem Vertriebsspezialisten McDermott und dem Technik- und Produkt-orientierten Snabe habe diese Balance gut und erfolgreich funktioniert - auch nachdem Snabe seinen Rückzug angekündigt hatte, weil mit Sikka eine andere starke Führungspersönlichkeit mit Technikfokussierung bereit stand, die Lücke zu füllen. Mit Sikkas Abschied neigt sich die Waage nun jedoch auf die Seite des Vertriebs.
Eine zu einseitige Orientierung könne jedoch gefährlich werden, warnt Ried und führt als Beispiel die Ära Apotheker an. Nachdem der Vertriebsspezialist Ende Mai 2009 nach dem Rückzug des ebenfalls eher technisch orientierten Hennig Kagermann alleiniger CEO von SAP wurde, schaffte er es innerhalb weniger Monate mit einer komplett verunglückten Kommunikationsstrategie rund um die Erhöhung der Wartungsgebühren das Vertrauen der Kunden zu verspielen. Das kostete Apotheker schliesslich seinen Stuhl. Nach nicht einmal einem Jahr zog Aufsichtsratschef Plattner die Reissleine und erklärte im Februar 2010, dass Apothekers Vertrag nicht verlängert werde. Dieser erklärte daraufhin seinen Abschied. Die Nachfolger McDermott und Snabe brauchten viel Geduld und Einfühlungsvermögen, den Scherbenhaufen, den ihnen ihr Vorgänger hinterlassen hatte, wieder zu kitten.

Zweifel an HANA-Reife

Diese Fehler dürfen sich nicht wiederholen. «SAP braucht eine ordentliche Produktstrategie», sagt Ried. In diesem Bereich lägen auch die grossen Hausaufgaben des Softwarekonzerns. SAP versuche derzeit mit HANA einen neuen Anlauf in Sachen Plattform, nachdem man mit Netweaver ausserhalb der SAP-Applikationen gescheitert sei. Den Anspruch, sich auch als Anwendungsplattform für Produkte von anderen Anbietern im Markt zu etablieren, habe Netweaver nie erfüllen können. Nun nehme SAP mit HANA einen neuen Anlauf. Allerdings fehle derzeit noch die nötige Marktreife, stellt der Forrester-Analyst fest.

Im Rahmen von SAP-Installationen könne HANA zwar überzeugen. Den Beweis, dass HANA auch ausserhalb der SAP-Welt funktioniert, habe die Plattform indes noch nicht antreten können, stellt Ried fest. Auch die Eignung HANAs für den Provider-Einsatz lasse noch zu wünschen übrig. Die Plattform sei primär auf eine Nutzung als Single-Tenant-Enterprise-Lösung ausgelegt. Für einen Multi-Tenant-Einsatz müssten Provider mit virtuellen Maschinen hantieren. Doch das funktioniere dies im Umfeld von In-Memory-Technik nur begrenzt, urteilt der Forrester-Experte. Nächste Seite: Die zweite grosse Baustelle: Cloud-Computing Die zweite Baustelle bilden SAPs Cloud-Plattformen. Gerade durch die Zukäufe der vergangenen Jahre wie SuccessFactors im Human-Resources-Umfeld (HR) sowie der Cloud-Einkaufsplattform Ariba habe sich an dieser Stelle eine gewisse Heterogenität bei SAP eingeschlichen. Wie damit umzugehen sei, war in der Vergangenheit offenbar umstritten, berichtet Ried. Der ehemalige Cloud-Chef von SAP, Lars Dalgaard - Ex-CEO von SuccessFactors -, hatte offenbar kein Problem unterschiedliche Cloud-Plattformen zu unterstützen, solang nur entsprechend gross genug seien. Derzeit - Lars Dalgaard ist längst SAP-Geschichte - scheint das Pendel wieder umzuschwingen in Richtung einer einheitlichen Cloud-Plattform. Doch gerade im Cloud-Umfeld seien die Anbieter Ried zufolge auf das Entwickler-Ökosystem angewiesen. Und diese bräuchten Sicherheit hinsichtlich der Plattformstrategie beziehungsweise der Klientel, die damit adressiert werden soll. Sikka hinterlässt seinen Nachfolgern also ein gut gefülltes Hausaufgabenheft. Im Zuge des Rücktritts des Technikchefs hat der Softwarekonzern seinen Vorstand neu geordnet. Es rücken der Vertriebschef Rob Enslin sowie der bislang für die Anwendungsentwicklung zuständige Bernd Leukert als weltweiter Entwicklungschef in den Vorstand nach. Beide gehörten bislang dem erweiterten Führungszirkel «Global Managing Board» an.

Leukert, ein langjähriges SAP-Gewächs, könne eine gute Rolle spielen, glaubt Forrester-Experte Ried. Es sei jedoch schade, dass Björn Goerke, der im Herbst vergangenen Jahres den CIO-Posten bei SAP übernommen hatte, offenbar nicht zum Zuge kam. Goerke habe sich in der Vergangenheit in erster Linie um die Plattform gekümmert, während Leukert vor allem für die Applikationen zuständig war. Da die Herausforderungen SAPs jedoch primär auf der Plattformseite liegen, wäre Goerke der bessere Mann gewesen, folgert Ried.

Griff Sikka nach dem Co-CEO-Sessel?

Der Zeitpunkt von Sikkas Abschied und die Neubesetzungen im Vorstand seien Belege dafür, dass SAP allem Anschein nach keine Zeit hatte, die Personalien lange vorzubereiten oder zu planen, und von den Entwicklungen offenbar selbst überrascht wurde, glaubt Frank Scavo, Managing Partner beim IT-Beratungsunternehmen Strativa. Der Experte mutmasst, Sikka könnte im Vorfeld des Wechsels von Snabe in den Aufsichtsrat Ambitionen als Co-CEO angemeldet haben und nachdem diese abgewiesen wurden, kurzfristig seinen Rücktritt eingereicht haben. Angesichts dieser Eigendynamik habe die SAP-Führung offenbar schnell gehandelt und bereits im Vorfeld der Sapphire Tatsachen geschaffen, um die Unruhe bis dahin etwas ausklingen zu lassen und sich in Orlando auf die zukünftige Strategie konzentrieren zu können. Ganz werden die Diskussionen jedoch nicht abklingen, meint Ray Wang, Chef des Analystenhauses Constellation Research. Die Sapphire-Besucher werden genau hinhören und Fragen stellen, wie die künftige SAP-Strategie aussehen wird. Mit den Antworten dürfe sich die SAP jedoch nicht viel Zeit lassen, «sonst verlieren die Kunden die Geduld». Nächste Seite: Eine Frage der SAP-Kultur

Eine Frage der SAP-Kultur

Für den neuen starken Mann bei SAP McDermott wird es in Orlando auch darum gehen, neue kulturelle Grabenkämpfe innerhalb der Firma erst gar nicht aufkommen zu lassen. In der Vergangenheit hatte es gerade im Zuge der immer stärker international ausgerichteten SAP-Strategie wiederholt Konflikte zwischen der alteingesessenen Entwicklerfraktion in der Zentrale in Walldorf und den stärker werdenden Dependancen vor allem im Silicon Valley in den USA gegeben. Geschürt wurde der Konflikt auch von den SAP-Verantwortlichen selbst. Erst kürzlich hatte beispielsweise SAP-Gründer Plattner selbst Öl ins Feuer gegossen, als er die Behäbigkeit der deutschen Entwickler kritisierte und mehr Agilität in der Entwicklung einforderte, woraufhin sofort Spekulationen aufkamen, der Konzern plane seine Zentrale ins Ausland zu verlagern - was die Verantwortlichen prompt dementierten. Insider haben auch darüber spekuliert, das den hauptsächlich in den USA arbeitenden Sikka die Bürokratie und Trägheit der deutschen SAP-Organisation zermürbt und schliesslich so frustriert habe, dass er seinen Abschied eingereicht habe.
Mit der Besetzung des Vorstands durch die SAP-Veteranen Enslin und Leukert baut der US-Amerikaner McDermott aber offensichtlich Brücken in Richtung der alten SAP-Welt und könnte so die Gemüter schon im Vorfeld zumindest etwas beruhigen. Auf Anwenderseite scheint man den Umbruch indes noch gelassen zu sehen. «Wir haben die Zusammenarbeit mit Vishal Sikka sehr geschätzt. Er hat SAP technologisch stark geprägt», verlautete von Seiten der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe (DSAG). «Mit dem neuen SAP-Vorstand Bernd Leukert arbeiten wir seit Jahren gut und gerne zusammen. Er weiss, welche Themen die DSAG-Mitglieder beschäftigen.»



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