Nischen im Rampenlicht 20.09.2021, 07:30 Uhr

Blockchain rückt bei Schweizer IT-Anbietern in den Fokus

Die Blockchain entwickelt sich von einer experimentellen Technologie zum Bestandteil geschäftlicher Ökosysteme. Das ist mitunter ein Grund, weshalb sie von IT-Anbieter nun vermehrt fokussiert wird.
(Quelle: Hitesh Choudhary/Unsplash)
Die Bestimmung der Themen, auf die in den Unternehmen in den kommenden zwei Jahren fokussiert wird, zeigt das wachsende Interesse an Technologie wie Blockchain oder auch am Virtualisierungs- sowie Datenschutz- respektive Compliance-Sektor. Das erstaunt umso mehr, weil sich an der Bedeutung anderer ICT-Be­reiche auch nach über einem Jahr im Krisenmodus kaum etwas geändert hat. Jedenfalls legt das die diesjährige, im Rahmen der traditionellen Top-500-Ausgabe von Computerworld durchgeführte Befragung der IT-Entscheider nahe.
Ihre Agenda für die nähere Zukunft wird hauptsächlich von Herausforderungen im Cloud Computing (57 Prozent), in der Security (54,4 Prozent) sowie der Digitalisierung (47,4 Prozent) bestimmt sein. Bei diesen Top-Themen gab es jedoch kaum Veränderungen gegenüber dem Vorjahr. Nur das Dauer­thema Sicherheit erfährt etwas mehr Aufmerk­samkeit – wollen sich ihm doch im Vergleich zum Vorjahr rund 5 Prozent der Befragten mehr widmen.

Zukunftsthemen lassen Federn

Zugpferde der Schweizer ICT-Industrie
Quelle: Computerworld
Die Befragung zeigt einen Wandel besonders bei zwei früher als wichtig bezeichneten Bereichen. So hat das Inte­resse an künstlicher Intelligenz klar an Bedeutung verloren und ist von fast 34 Prozent auf noch rund 25 Prozent geschrumpft. Ähnlich sieht es beim Internet der Dinge aus, das fast 7 Prozentpunkte eingebüsst hat und nur noch von 15,6 Prozent der Befragten als künftiges ICT-Zugpferd-Thema eingestuft wird.
Auffällig ist der rückläufige Stellenwert dieser zuletzt doch viel diskutierten Zukunftsthemen, weil andere ähnlich junge Technologien klar an Bedeutung gewonnen haben. Das betrifft etwa den Komplex Compliance und Datenschutz, der um über 9 Prozent auf jetzt 24,4 Prozent zugelegt hat. Ausserdem betonen nun 8,1 Prozent der Befragten, dass die Blockchain für die nähere Zukunft wichtig in ihrem Unternehmen werde. Das sind immerhin fast 4 Prozent mehr als im Vorjahr, was gerade in der Pandemiezeit bemerkenswert ist. Denn es schien ziemlich ruhig um Blockchain- respektive die Distributed-Ledger-Technologie (DLT) geworden zu sein. Klar ist, dass die über eine  dezen­trale Datenbank organisierte Möglichkeit, krypto­grafisch abgesichert virtuelle Güter nach dem Peer-to-Peer-Prinzip weiterzugeben, an Attraktivität gewinnt. Ausschlaggebend sind mit DLT einhergehende Charakteristika wie Transparenz, unveränderbare Daten, vollständige Verteilung, eindeutige Identitäten und innerhalb der Transparenz Vertrauenswürdigkeit.

Ökosysteme liegen im Trend

Ein weiterer Grund für die grössere Aufmerksamkeit ist laut der Software-Schmiede AdNovum, dass moderne Geschäftsmodelle immer öfter auf Ökosystemen basieren. Sie konzentrieren sich auf ein Objekt oder eine Dienstleistung und involvieren diverse private und öffentliche Akteure. Um das volle Potenzial eines Ökosystems ausschöpfen zu können, müssen sich die Akteure gegenseitig vertrauen. Für die Abwicklung unternehmensübergreifender Geschäftsprozesse müssen sie sicher auf geteilte Informationen zugreifen können.
Hier entwickelt DLT laut Ad­Novum ein Potenzial, das weit über Kryptowährungen hinausgeht. Sie schaffe ein vertrauenswürdiges Umfeld für transparente sowie reibungslose Transaktionen und biete eine gemeinsame Sicht auf Daten innerhalb eines Öko­systems, erklärt Moritz Kuhn, der als Product Manager Blockchain Solutions für AdNovum im Einsatz steht.
“DLT schafft ein vertrauenswürdiges Umfeld für transparente und reibungslose Transaktionen und bietet eine gemeinsame Sicht auf Daten innerhalb eines Ökosystems„
Moritz Kuhn, AdNovum
Die Software-Spezialisten sehen in Blockchain-Technologie denn auch einen Katalysator für die Digitalisierung von Business-Ökosystemen. Dies werde traditionelle Geschäftsmodelle und ganze Branchen umwälzen. Was das konkret heissen kann, illustriere das «Cardossier», fügt er an. «Die Cardossier-Plattform ermöglicht es, Services anzubieten, an denen verschiedene private und öffentliche Organisationen beteiligt sind. Dank des dezentralen Ansatzes können einzelne Mitglieder oder eine Gruppe von Mitgliedern neue Services als Distributed-App (dApp) autonom anbieten und bewirtschaften.»
Allerdings, gibt er zu bedenken, spiele in solchen Ökosystemen «natürlich nicht nur die Technologie, sondern auch die Governance eine zen­trale Rolle. Nur wenn die ‹Spielregeln› und die Rahmen­bedingungen klar definiert sind, können neue Produkte und Projekte entstehen», sagt Kuhn.

Nicht alles ist DLT-fähig

Ausserdem warnt er davor, DLT für die «falschen» Anwendungen einzusetzen. «Wir haben in den letzten Jahren viele Anwendungsfälle gesehen, bei denen DLT keinen Mehrwert bietet, dafür jedoch zusätzlich Komplexität und Aufwand erzeugt.» Wenn es zum Beispiel in einem Business-Ökosystem eine zentrale Partei gebe, der alle anderen Teilnehmer vertrauen oder vertrauen müssten, sei eine zentrale Lösung viel effektiver und viel effizienter umsetzbar als eine Blockchain-Lösung.
Toni Caradonna, CTO der in Herisau ansässigen Blockchain Trust Solution (BCTS), betont ebenfalls, dass es keinen Mittelsmann mehr brauche, der die Regeln bestimme und überall die Hand aufhalte und abkassiere. «Ich kann Peer-to-Peer-Transaktionen tätigen, kann eigene Ökosysteme bauen, Werte verschieben, Zusammenarbeitsregeln festlegen, die automatisch eingehalten werden, und vieles mehr», führt er aus. Und auch er warnt davor, die Technologie in den Vordergrund zu stellen, statt der konkreten Problemlösung. Ausserdem würde bei DLT «der Skalierungseffekt unterschätzt, was Auswirkungen auf den Preis der Transaktionen hat und den Durchsatz, denn dieser ist begrenzt».
Zu beachten sei weiter etwa die Tatsache, dass alles, was in einem Smart Contract festgelegt werde, sich nicht einfach so über den Haufen werfen lasse. Will heis­sen, dass man sich zu Beginn sehr gut überlegen muss, was wie abgewickelt beziehungsweise abgebildet werden soll. «Im Nachhinein am Mechanismus etwas zu ändern, ist sehr schwierig und äusserst umständlich», erklärt der Technik-Chef von BCTS weiter.

Grosse Vielfalt an Apps und Firmen

Nach Anwendungsszenarien gefragt, verweist er darauf, seit 2012 in der DLT-Branche aktiv zu sein und so eine sehr gros­se Bandbreite zu kennen. Die umfasse die Tokenisierung von Werten genauso wie die Bereiche Supply Chain oder Security sowie alles, was mit Transparenz, Herkunftsnachweis, Rückverfolgbarkeit und Echtheit von Produkten zu tun hat oder mit digitalen Identitäten, NFTs und vieles mehr. Nicht anders sieht es laut Jakob Gülünay, dem CEO und Gründer von BCTS, im DLT-Firmenumfeld aus: Abgesehen von seinem Unternehmen zählt er Apps with Love auf, CollectID, Modum, Crowdlitoken, Securikett, Decentage, Quantoz, Cardossier und hält fest, dass sich die Liste beliebig erweitern liesse.
«Mittlerweile gibt es zahlreiche Banken, Versicherungen und auch Revisionsgesellschaften, die sich intensiv mit der Blockchain-Technologie auseinandersetzen und diese auch schon in diversen Projekten einsetzen.» Für ihn ist die Schweiz «sicherlich eine der führenden Nationen, was das Thema Blockchain angeht – sei es im Bereich Produkte, Dienstleistungen, Infrastruktur oder Wissen generell». Zudem sei hierzulande die Rechtssicherheit für DLT-Projekte sehr gross, zumal soeben erst ent­sprechende Gesetzesanpassungen ohne Gegenstimme im Parlament durchgewunken worden sind.
Ganz anders schätzt Hans-Peter Gier, Gründer und CEO von Trustwise aus Pratteln, die Situation ein. «Breitflächig eingesetzte Blockchain-Lösungen in der Schweiz sind mir nicht bekannt», führt er aus und schiebt nach, «das Cardossier wäre eine solche Lösung, die sich aber aus meiner Sicht noch im Anfangsstadium befindet». Recht weitverbreitet sei dagegen das Banking von Krypto-Assets und alle damit verbundenen Dienstleistungen. Trustwise ist 2017 gestartet und liefert eine selbst entwickelte Blockchain-Lösung namens TWEX zur Ausgabe von Blockchain-basierten Aktien und zur Verwaltung von Aktiengesellschaften, also für Corporate Finance und Corporate Governance. Ausserdem ist mit Trustwise Health eine DLT-basierte Impfpasslösung verfügbar.
Nach seinen Erfahrungen gefragt, erklärt Gier: «Blockchain-Technologie erfordert ein wesentlich präziseres Arbeiten, da die Korrektur von Fehlern wesentlich aufwendiger ist.» Vorteilhaft sei hingegen, dass die Blockchain helfen könne, die Trans­aktionenkosten (präziser: Vertragserfüllungskosten) gerade im internationalen Bereich zu senken. Weiter meint Gier von Trustwise, dass DLT als eine Multi-Jurisdiktions-Technologie internationale Vertragsdurchsetzung deutlich erleichtern könne, indem sie Vertragssicherungskon­strukte (Escrow Accounts) klar verbillige. In Zukunft, ergänzt er, werden auf der Blockchain «nur wirklich wirtschaftlich relevante Transaktionen abgewickelt, zumal ihre Kapazität in der Regel beschränkt ist».

Nicht nur auf den Trend setzen

Die BCTS selbst ist gemäss Caradonna als Infrastruktur-Anbieter am Markt unterwegs und stellt als Blockchain-Provider ein Netzwerk zur Verfügung, das ausschliesslich in der Schweiz betrieben wird. «Weiter entwickeln wir auch Lösungen, welche auf unserer Blockchain betrieben werden.» Konkret nennt der CTO die Tokenisierung von Solaranlagen und hochsicheren Inspektionsprozessen. Ausserdem sei das Unternehmen mit der Porini Stiftung in einem globalen Projekt involviert, bei dem die Tokenisierung von CO2-Zertifikaten in die Wege geleitet werde, illustriert Caradonna das aktuelle Aufgabenfeld.
Interessant ist, dass er nicht zwingend für DLT-Lösungen plädiert. Es komme stark darauf an, welches Problem gelöst werden solle: «Blockchain zu nutzen, ist nicht immer zwingend. In vielen Fällen kann man auch den Prozess optimieren oder eine gute Datenbank nutzen», führt er aus. «Wenn man die Blockchain des Trends wegen nutzt, ist das der falsche Ansatz.»
“Wenn man Blockchain des Trends wegen nutzt, ist das der falsche Ansatz„
Toni Caradonna, Blockchain Trust Solution
Worauf man vor allem achten sollte, sei das Blockchain-Netzwerk, das man nutze, um seine App­likationen zu betreiben. Denn beim aktuellen Hype rund um Kryptowährungen könne der Betrieb von Projekten sehr kostspielig werden, wenn man, wie der grösste Teil, die Projekte auf Ethereum laufen lasse. «Da kann es gut sein, dass eine Transaktion in einem Fall mal ein paar Cent und bei grosser Nachfrage mehrere Dollar kosten kann», warnt der BCTS-CEO Gülünay und fügt an: «Wir haben dieses Pro­blem mit unserer SwissDLT Blockchain gelöst.»

Drei Risikofaktoren

Beachten sollte man zudem drei Risikofaktoren:
  • Energieverbrauch,
  • regulatorische Unsicherheit,
  • Reputationsrisiko.
Ihnen würde insbesondere im Retail-Bereich Aufmerksamkeit gewidmet, obwohl für alle drei Punkte Lösungen vorliegen, sagt Caradonna. Wer Innovationen beispielsweise mit DLT-Lösungen umsetzen wolle, stehe heute vor der Herausforderung, einen Change-Management-Prozess auf allen Ebenen umsetzen zu müssen. Grosse Firmen tun sich da schwerer als kleine, agile Firmen. Mit denen zu arbeiten, mache Spass, «die sehen die Chancen und sind bereit für Veränderung», so der BCTS-CTO.
Interessant ist, was Gülünay und Caradonna heute nicht mehr machen würden. Das jahrelang mühsam aufgebaute Wissen würden sie nicht mehr «einfach so preisgeben» und auch keine Energie mehr in den Fintech-Bereich investieren. Denn es sei sehr aufwendig und kostspielig, das klassische Banken-Business zu revolutionieren. «Die Old Economy hat aktuell noch ein zu grosses Gewicht und lässt sich so schnell nicht ablösen», halten die beiden fest.
Auch bei AdNovum ist man wählerischer geworden. So betont Kuhn, «wir würden heute keine rein technologischen Proof-of-Concepts mehr durchführen». Die Technologie komme inzwischen an zweiter Stelle, man sei viel selek­tiver bei der Auswahl der Anwendungsfälle geworden und hinterfrage mehr, ob ein Case sinnvoll und die Verwendung einer DTL dafür wirklich vorteilhaft sei.

Auf dem Weg zur digitalen Allmend

Man müsse laut dem AdNovum-Product-Manager im Auge haben, dass DLT die Effizienz und Effektivität durch die Synchronisation von Daten zwischen verschiedenen Silos genauso steigert wie die Automatisierung von organisationsübergreifenden Geschäftsprozessen. Klare Dateneigen­tümerschaft (Data Ownership), selektive Datenweitergabe und datenschutzfreundliche Datenstrukturen erhöhten Vertrauen und Compliance. Damit ermögliche DLT «die Individualisierung von Produkten und Dienstleistungen sowie die Entstehung von Datenmärkten», sagt Kuhn.
Genau hier setze Cardossier an und verfolge als Prototyp einer «internet-scaled organization» den Ansatz einer digitalen Allmend. Die Mitglieder entwickeln und betreiben die Plattform gemeinsam und jeder kann seine Business Cases auf der Plattform einzeln oder mit anderen umsetzen. «Dies
erfordert neben einer gemeinschaftlichen Planung und Koordination eine neue Art der Zusammenarbeit. Wir können hier viel von einer Bauerngemeinschaft lernen, die gemeinsam eine Alp betreibt», unterstreicht Kuhn den Ansatz.
Er trifft sich hier mit Caradonna. So verweist auch der BSCT-Cheftechniker auf «gemeinschaftlich genutzte Allmende, die aber nur funktionieren, wenn sich alle an gewisse Regeln halten». Auch wenn das Wort Genossenschaft in einigen Kreisen verpönt sei, in der Schweiz werde sie noch gelebt, «wir sind ja eine Eid-Genossenschaft», schiebt er nach.
Die Welt aber kranke derzeit oft an Pro­blemen, die sich auf das Konzept «Tragedy of the Commons» reduzieren liessen. Nötig wäre ein Umdenken auch bei den grossen Problemen des Klimas, der Luftreinheit oder in Sachen Biodiversität. «Global koordinierte eindeutige Datenstrukturen wie eine DLT, die unveränderbar ist, kann eindeutig helfen, Koordinationsbemühungen effizienter zu gestalten, Transparenz zu schaffen, Effizienz zu fördern und Korruption zu reduzieren», sagt Caradonna.
Der Autor
Volker Richert
ist Wirtschafts- und Technologiejournalist aus Zürich.



Das könnte Sie auch interessieren