Computerworld vor 30 Jahren 31.12.2018, 08:00 Uhr

Modelle für die digitale Schweiz

Dieser Tage schickt sich die Schweiz an, die Chancen der Digitalisierung für sich zu nutzen. Schon 1988 testeten zwölf «Kommunikations-Modellgemeinden» die digitale Zukunft.
Zwölf Schweizer Gemeinden wurden als «Kommunikations-Modellgemeinden» ausgewählt
(Quelle: PTT)
Während vieler Jahrzehnte hatten sich die Telekommunikationsdienstleistungen der PTT kaum verändert. Telegraf, Telefon, Telex und Radio waren die grossen Umsatzbringer. In den 1980er-Jahren erlebte die Kommunikationstechnik eine tief greifende Veränderung. Mit der elektronischen Datenverarbeitung begann sich die Spanne zwischen der Einführung neuer Telekommunikationsdienste ständig zu verkürzen. Der Durchbruch zur Digitaltechnik öffnete die Tür zu einer neuen Epoche in der Entwicklung der Telekommunikation. «Auch bei den PTT-Betrieben wurde noch nie in so kurzer Zeit so viel Neues verwirklicht wie heute», schrieb Viktor Colombo, Leiter des Projekts «Kommunikations-Modellgemeinden». Das Vorhaben war für Colombo «ein Teil des Aufbruchs in ein neues Kommunikationszeitalter».
Die «Modellgemeinden» und ihre jeweiligen Projekte waren im Januar 1988 bestimmt worden. Das Ziel war, die «neuen Angebote der Telekommunikation und das Bedürfnis der Bürger zu testen», schrieb Computerworld anlässlich der Lancierung. Die PTT hatte die Gemeinden eingeladen, Projektskizzen einzureichen. 23 Gemeinden hatten Entwürfe zum Beispiel für Alarmsysteme, öffentliche Datenbanken, Teleshopping und Anwendungen in den Bereichen Hotelreservationen, Medizin, Schulung, Tourismus und Verkehrswesen präsentiert. Zwölf der Gemeinden wurden schliesslich als «Kommunikations-Modellgemeinden» ausgewählt: Basel, Biel, Brig, Disentis, Frauenfeld, Locarno, Maur, Nyon, Sierre, St. Moritz, Sursee und Val-de-Travers. In den zwölf Gemeinden wurden bis zum Projektende 1992 insgesamt 81 Vorhaben realisiert.

Modellgemeinden Basel, Biel, Brig

Basel: Telearbeit bei Sandoz

In der Modellgemeinde Basel arbeiteten Angestellte von Sandoz tageweise zu Hause
Quelle: PTT
Unter den sieben in Basel realisierten Projekten befand sich ein Pilotversuch für Telearbeit. Er bestand aus fünf Heimarbeitsplätzen von Mitarbeitern der Firma Sandoz Pharma. Sie waren über verschiedene Netze der PTT (öffentliches Telefonnetz, Mietleitungen, Telepac) mit mehreren Sandoz-Rechnern verbunden. Die Tätigkeiten umfassten Aufgaben in den Bereichen Bürokommunikation, Dokumentation, Fehlersuche bei Störungen und beim Systemmanagement.
Die Angestellten arbeiteten nur einige Tage pro Woche zu Hause, alternierend zur Arbeit im Firmenbüro. Das Resümee nach Projektabschluss lautete: Telearbeit ist technisch und wirtschaftlich realisierbar. Die Angestellten schätzten insbesondere die störungsfreie Arbeit und den kurzfristigen Zugriff auf Aufgaben – auch zu ungewohnten Zeiten. Allerdings wurde der Telearbeit keine grossen Zukunftschancen gegeben: Die Tätigkeit zu Hause werde kaum in grossem Stil die traditionelle Arbeit im Büro ersetzen. Nur für ausgewählte Arbeiten und Personen könne Telearbeit eine effiziente und kreativitätssteigernde Form der beruflichen Tätigkeit darstellen.

Biel: «sprechender» Teletext

Der im Modellversuch entwickelte Videotext-Sprachmodulator aus Biel fand viele Interessenten
Quelle: PTT
In Biel wurden insgesamt fünf Projekte realisiert, darunter der «sprechende» Teletext. Ziel war es, mithilfe eines Sprachmodulators schriftliche Informationen in gesprochenes Wort umzuwandeln. Mit der Technologie sollte Blinden und Sehbehinderten der Zugang zum Medium Teletext ermöglicht werden. Die Entwicklung koordinierte Professor Philippe Mermod von der Ingenieurschule Biel zusammen mit dem Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband und der PTT. Für den Betriebsversuch wurden 50 Geräte produziert, die über eine Infrarottastatur für die Befehlseingabe und einen Lautsprecher für die Wiedergabe des Textes verfügten.
Der Testverlauf stiess bei den Teilnehmern auf ein durchweg positives Echo. Nach Ende des Betriebsversuchs konnten die Geräte von den Benutzern erworben werden. Sie waren innerhalb weniger Tage ausverkauft. Daneben meldeten diverse Unternehmungen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich ihr Interesse für die Herstellungslizenz des Teletext-Terminals an.

Brig: Bildungsserver Oberwallis

An den Bildungsserver Oberwallis in Brig waren 200 Lehrer und Schüler angeschlossen
Quelle: PTT
Die Kommunikations-Modellgemeinde Brig hat insgesamt elf Projekte umgesetzt. Unter anderem installierte das ortsansässige IT-Unternehmen Ocom gemeinsam mit der PTT einen Server für die Region Oberwallis. Mit dem Rechner wurden sämtliche Oberschulen, Berufs- und Mittelschulzentren sowie das Erziehungsdepartement des Kantons Wallis verbunden. Rund 200 Benutzer, darunter Gemeindemitarbeiter, Lehrer und Schüler, beteiligten sich am Projekt.
Das Informationsangebot umfasste die Studien- und Berufsberatung, Lehrstellenvermittlung, Weiterbildungsprogramme sowie Bibliotheks- und Literaturverzeichnisse. Seit dem Frühjahr 1992 bestand ausserdem eine permanente Verbindung zwischen dem universitären Studienzentrum in Brig und der deutschen Fernuniversität in Hagen. Am Ende des Modellversuchs wurde der Bildungsserver zunächst weiterbetrieben – dank des finanziellen Engagements des damaligen Bundesamts für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) (heute: Staatssekretariat für Wirtschaft, Seco) und privater Firmen. Allerdings gestand die Projektleitung ein, dass die erhoffte Breitenwirkung nicht erreicht wurde.

Modellgemeinden Disentis, Frauenfeld, Locarno

Disentis: Bedarfsbus

Der Bedarfsbus in Disentis fuhr auch in die Gemeinden Camuns und Duvin
Quelle: PTT
Der «Bedarfsbus» war eines von neun Projekten im Bündnerland, der gemeinsam vom Kanton, den Gemeinden der Surselva und der PTT realisiert wurde. Das Ziel war es, eine neue Kombination aus fixem Fahrplan und Bedarfsfahrten zur Errichtung öffentlicher Verkehrsverbindungen mit Mobilkommunikation zu erproben. Dabei sollten auch der Post- und Zustelldienst, der PostAuto-Dienst und Schülertransporte einbezogen werden.
Während des Betriebsversuchs wurde der öffentliche Busbetrieb mittels Natel-C-Anschluss in einem PostAuto mitgesteuert. Unter anderem wurden Camuns und Duvin an öffentliche Verkehrsmittel angeschlossen. Daneben liessen sich kurzfristig auch Sonderfahrten und Spezialtransporte organisieren. Aufgrund des starken Interesses der Bevölkerung und der Gemeinden fuhr der «Bedarfsbus» noch Jahre nach dem Ende der Modellgemeinde Disentis.

Frauenfeld: Schutzraum-Videotex

Bürger in Frauenfeld konnten via Videotex ihren zugewiesenen Schutzraum abfragen
Quelle: PTT
Gemeinsam mit dem Kanton Thurgau und der Stadt realisierte die PTT in Frauenfeld ein Zwei-Wege-Kommunikationssystem für die Schutzraumzuweisung. Das Teilprojekt «Information» wurde mithilfe eines Videotex-Programms realisiert. Am Bildschirm konnte jeder Bürger jederzeit den Standort seines zugewiesenen Schutzplatzes abfragen. In Kriegs- und Katastrophenfällen hätte die Bevölkerung in den Schutzräumen zudem in Kontakt mit der Schutzraumorganisation bleiben können.
Das Teilprojekt «Führung und Alarmierung» wurde mit einer Sirenensteuerungsanlage vom Typ SMT 75 umgesetzt. Die Erprobung erfolgte im Rahmen von Zivilschutzübungen. Die Systeme bewährten sich und waren nach dem Pilotversuch noch einige Jahre im Einsatz.

Locarno: Hochwasser-Alarmsystem

Locarno realisierte ein Hochwasser-Alarmsystem mit telefonischer Datenübermittlung
Quelle: PTT
Wie Frauenfeld lancierte auch die Modellgemeinde Locarno insgesamt sechs Projekte. Für eines der Vorhaben spannte die PTT mit dem Kantonalen Geologischen Institut und der Sektion für Wasserwirtschaft zusammen. Sie installierten elektronische Messvorrichtungen an den Tessiner Zuflüssen des Langensees. Überwacht wurden die Pegelstände des Luganer Sees in Melide, der Wasserführung der Maggia in Solduno, des Ticino in Bellinzona und der Tresa in Ponte Tresa. Die Ergebnisse wurden via herkömmlichem Telefonnetz nach Locarno übermittelt und dort in einem Zentralrechner gespeichert sowie verarbeitet.
Zusätzlich wurde ein Modell zur Simulation von Seepegelschwankungen entwickelt und getestet. Dieses Modell diente als Herzstück für den Weiterausbau eines Hochwasser-Alarmsystems. Die Technologie ermöglichte die effizientere und schnellere Seeregulierung. Von den Initianten wurde das Projekt als Erfolg gewertet.

Modellgemeinden Maur, Nyon, Sierre

Maur: Infolade

Der «Infolade Maur» sollte das erste und einzige Modellgemeinde-Projekt bleiben
Quelle: PTT
Der «Infolade Maur» nahm April 1990 als eines der ersten Schweizer Modellgemeinde-Projekte überhaupt den Betriebsversuch auf. In dem Grossraumbüro sollte der Bevölkerung ein zwangloser Zugang zu moderner Informatik und zu Telekommunikationsmitteln ermöglicht werden. Dafür wurden unter anderem Schulungsprogramme angeboten und Informationstage zu verschiedenen Themen im Kommunikationsbereich veranstaltet.
Ursprünglich war es vorgesehen, dass im «Infolade» die Bevölkerung über die weiteren Maurmer Modellprojekte informiert werden sollte. Dazu kam es allerdings nicht, da sich alle anderen Vorhaben nicht finanzieren liessen. Der «Infolade» blieb das einzige in Maur realisierte Projekt. Er musste wegen absehbar fehlender Eigenwirtschaftlichkeit im Dezember 1991 geschlossen werden.

Nyon: Breitbandnetz

Über das Breitbandnetz in Nyon wurden Radio und TV verteilt – aber keine Daten
Quelle: PTT
Eine «Telekommunikationsautobahn» kündigten die Verantwortlichen der Modellgemeinde Nyon in ihrer Informationsschrift «L'Optimiste» vom April 1992 an. Dank eines eigens verlegten PTT-Breitbandnetzes in Stadt und Umgebung konnte die Bevölkerung bis zu 23 Radio- und Fernsehprogramme in Digitalqualität empfangen. Gleich zeitig sollten die Bürger den Zugriff auf die neuen PTT-Dienstleistungsangebote wie Swissnet, Telefax, Telepac und Videotex bekommen.
Während die PTT, die Services Industriels Nyon und der Verein Communyon im Laufe des Projekts die Empfangskapazität zwischenzeitlich auf jeweils 40 Radio- und TV-Programme ausbauten, krebsten die Projektbeteiligten bei den Datendiensten zurück. Die Aufschaltung wurde bis zum Ende des Modellversuchs nicht freigegeben.

Sierre: Bauwesenserver

Der Zentralrechner im «Technopôle» wurde für den Neubau des Spitals von Sierre genutzt
Quelle: PTT
Die beiden Walliser Modellgemeinden Brig und Sierre waren mit jeweils elf Projekten die eifrigsten Tester der neuen Kommunikationstechnologien. Im Unterwallis wurde unter anderem das Projekt «Telematik im Bauwesen» umgesetzt. Dafür wurde im Rechenzentrum «Technopôle» der Arbeitsgruppe Nomocom in Sierre durch die Firma Commutel ein Zentralrechner eingerichtet. Auf dem Computer konnten angeschlossene Ingenieurbüros mit ihren Dokumenten, Plänen oder Zeichnungen arbeiten. Über einen Plotter im «Technopôle» liessen sich zudem Ausdrucke bis zum A0-Format beziehen. Die Daten wurden über Swissnet oder via Modems über das Telefonnetz übertragen.
Die neue Technologie wurde jenseits des Modellvorhabens unter anderem für den Bau des neuen Regionalspitals von Sierre genutzt. Die Initianten und Projektteilnehmer lobten die grossen Arbeitserleichterungen, die Verkürzung der Arbeitsabläufe und die relativ geringen Betriebskosten der Systeme im «Technopôle».

Modellgemeinden St. Moritz, Sursee, Val-de-Travers

St. Moritz: Tennisplatzreservation

Im Tennis-Center Corviglia in St. Moritz automatisierte der Computer die Platzreservation
Quelle: PTT
Die Platzreservation im Tennis-Center Corviglia in St. Moritz sollte komplett automatisiert werden. Für das eine von acht Projekten im Engadiner Ferienort spannte das Tennis-Center mit der Firma Tecuria und der PTT zusammen. Sie entwickelten ein Programm, das durch Spracherkennung über Telefon direkte Buchungen aufnehmen, verwalten und bestätigen konnte. Das System «Teres» nahm die Angaben des Anrufers auf und las sie vollautomatisch in die Reservationsliste des Tennis-Centers ein.
Die Anlage blieb nach Ende des Betriebsversuchs im Tennis-Center Corviglia noch einige Jahre in Betrieb. Das Spracherkennungssystem bot nach Einschätzung der Projektinitianten zwar Potenzial für ähnlich gelagerte Einsatzbereiche. Jedoch verschwand die Technik in der Versenkung.

Sursee: Telearbeit für Behinderte

Vom Telearbeitsplatz in Sursee aus gaben Behinderte Tipps an der Videotex-Hotline
Quelle: PTT
Die Modellgemeinde Sursee hatte sich zum Ziel gesetzt, einen Telearbeitsplatz für Behinderte zu schaffen. Der Betriebsversuch wurde als eines von zwei Projekten in der Kleinstadt von der Invalidenversicherung, der PTT und der Videotex-Stadt Sursee realisiert. Mit dem Kommunikationsmedium Videotex wurde ein Telearbeitsplatz eingerichtet, der eine Hotline für Videotex-Anwenderprobleme bot. Die berufliche Rehabilitation Behinderter konnte dank eines speziellen Ausbildungsprogramms im Informatikbereich erfolgreich angegangen werden.
Das einzige Non-Profit-Vorhaben im Rahmen der Modellgemeinden-Projekte wurde per Ende 1989 abgeschlossen. Die beiden im Projekt engagierten Personen beschäftigte anschliessend das Unternehmen Videotex Luzern weiter. Die Invalidenversicherung unterstützte fortan die Informatikweiterbildung finanziell.

Val-de-Travers: Patientendossiers

In Val-de-Travers konnten Ärzte Patientendossiers via Videotex abrufen
Quelle: PTT
Einen Prototyp eines elektronischen Patientendossiers wollte Val-de-Travers entwickeln. Das eine von zehn Projekten in der Neuenburger Gemeinde setzte wie so viele Modellgemeinde-Vorhaben auf Videotex. Dafür spannte die PTT mit dem Informatikdienst der Stadt Neuenburg und dem Verein Valcom zusammen. Sie installierten einen Zentralrechner, der via Videotex zugänglich war. So konnten Ärzte vorhandene Patientendossiers abrufen und Diagnosen für die weitere Behandlung vorbereiten. Auch liessen sich medizinische Daten zwischen den Ärzten und den Spitälern austauschen. Die Projektbeteiligten nannten die erzielte Zeitersparnis «beträchtlich».
Bis Ende 1993 wurden alle Spitäler und die Mehrheit der Privatärzte des Kantons Neuenburg an das System angeschlossen. Daneben wurden Videotex-Terminals im Universitätsspital des Kantons Waadt und dem Genfer Kantonsspital installiert. Durch die Möglichkeit der Bildübertragung zwischen Kreis- und Universitätsspitälern liess sich die Beurteilung von Gewebeanalysen und Radiologiebildern beschleunigen.



Das könnte Sie auch interessieren