«Die Schweiz besitzt einen Vertrauensbonus»

Nachholbedarf bei der Digitalisierung

CW: Die Pandemie hat auch aufgezeigt, welche Bedeutung die Informatik heute für die Wirtschaft hat. Sehen Sie Branchen, die noch Nachholbedarf haben?
Durville: In der Versicherungsbranche hat es noch viele Bereiche, die nicht stark automatisiert sind und innoviert werden können. Die Unternehmen lancieren allenthalben wieder ein neues Portal, bei dem an der Front scheinbar alles digital ist. Im Backend werden aber weiterhin Dokumente ausgedruckt oder versendet, Telefongespräche geführt und Unterschriften gesammelt. So weit waren die Banken vor 25 Jahren schon: Damals gab es die ersten Online-Portale. Sie haben bis heute nicht dazu geführt, dass die Bankfilialen massenweise geschlossen und die Berater alle auf die Strasse gestellt wurden.
Nicolas Durville von Zühlke sieht in der Vernetzung einen der Schlüssel für Innovation 
Quelle: Daniel Thüler
CW: Die Schweizer Industrie scheint auch noch Nachholbedarf zu haben …
Durville: Da würde ich zustimmen. Vielen Unternehmen ist in der DNA, dass sie seit Jahrzehnten Produkte entwickeln. Innovation bedeutet häufig, dass eine neue Variante des Produkts lanciert wird. Damit stiften die Hersteller aber oft wenig neuen Kundennutzen.
Einen Schlüssel für Innovation sehe ich in der Vernetzung der Produkte mit Blick auf neue Geschäftsmodelle. So kann sich der Anbieter aber auch neben der Produktion ein neues Geschäftsfeld erschliessen: Er kann das Produkt bereitstellen und nur noch die Nutzung verrechnen.
Ein Beispiel ist ein international tätiger Sicherheitsspezialist. Dort gab es vor einigen Jahren die Überlegung, wie sich statt einer gesicherten Tür allenfalls eine Zutrittskontrolle als Service verkaufen lässt. Potenzielle Kunden waren etwa Arztpraxen, die sich nicht mit einer Schliessanlage auseinandersetzen wollten, sondern allein das Interesse hatten, dass niemand unerlaubt die Praxisräume betritt. Für solche Anwendungsfälle entwickelten wir gemeinsam mit dem Unternehmen eine Zutrittskontrolle, die heute als Abonnement angeboten wird. Solche Services-Modelle sehe ich als nachhaltigen Trend bei der Digitalisierung der Industrie.
CW: Kommen Unternehmen zu Zühlke mit einem Fertigungsproblem – oder mit der Fragestellung, wie sie ihr Geschäft digitalisieren können?
Durville: Danke für die Frage! [lacht] Teils erwecken die vielen Ingenieurinnen und Ingenieure bei Zühlke den Eindruck, wir würden hauptsächlich Produkt-Engineering betreiben. Das ist tatsächlich eine unserer Spezialitäten, aber natürlich nicht die einzige Leistung. Viel mehr positionieren wir uns als Innovationspartner für die Kunden.
Bleiben wir noch beim Beispiel von vorhin: Der Kunde kam auf uns zu mit der Frage, wie sie sich von einer reinen Produkte-Company zu einem Services-Anbieter entwickeln können. Der Ausgangspunkt war damit nicht, nur eine neue Anwendung zu programmieren, sondern die typische Customer Journey zu analysieren und darauf aufbauend ein neues Geschäftsmodell zu entwickeln: Welche Anforderungen haben die Endkunden? Wie wurde das Problem bisher gelöst? Welches sind die Erlösquellen? Welche alternativen Lösungswege gibt es? Erst wenn auf diese Fragen gemeinsam mit unserem Kunden die Antworten gefunden sind, beginnen wir mit dem Entwickeln einer passenden (Cloud-)Lösung.



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