Dätwyler-Cabling-CEO im Interview 16.11.2020, 06:52 Uhr

«Wir haben von China enorm profitiert»

Dätwyler Cabling Solutions konnte während der Pandemie von den Erfahrungen in China profitieren. Das Geschäft hat wenig gelitten und soll nun massiv ausgebaut werden, sagt CEO Johannes Müller.
Johannes Müller leitet seit über 16 Jahren die Geschäfte von Dätwyler Cabling Solutions
(Quelle: Samuel Trümpy)
Schon seit mehr als 100 Jahren produziert Dätwyler Kabel in Altdorf. Die mittlerweile ausgegliederte Dätwyler Cabling Solutions bleibt dem Kanton Uri treu – und auch der Kabelfertigung dort. Abseits davon will der CEO Johannes Müller aber vieles ändern. Dafür hat er in den vergangenen 16 Jahren einiges ausprobiert und verworfen, anderes geprüft und für Erfolg versprechend befunden. Wie er im Interview mit Computerworld sagt, wird die neue Dätwyler nicht mehr nur die Kabel für IT-Anlagen liefern, sondern gleich die komplette IT-Infrastruktur.
Computerworld: Sie positionieren Dätwyler Cabling Solutions gerade neu. Können Sie eine Vorschau geben?
Johannes Müller: Ich will kurz zurückblicken und erklären, wie die Ausgangslage war. Als ich vor 16 Jahren zu Dät­wyler stiess, hatte die damalige Division «Dätwyler Cables» gemeinsam mit einer Beratungsfirma gerade eine Neu­ausrichtung hinter sich. Das Portfolio war dabei massiv auf vier Produktfamilien reduziert worden: Datenkupferkabel, Glasfaserkabel, Sicherheitskabel und Liftflachkabel. Damit erwirtschafteten wir damals rund 98 Prozent des Umsatzes. Allerdings schrieben wir auch operative Verluste. Eine Ursache dabei war eine sehr bürokratische Organisation mit zu viel Overhead, ausgelegt für wesentlich höhere Umsätze, eine andere die kleine eigene, leider unrentable Glasfaserfabrik in der Westschweiz.
Unsere Hauptbeschäftigung in den ersten drei Jahren war denn auch ein Turnaround: Von den rund 500 Stellen am Standort Altdorf mussten wir rund 100 streichen und die Glasfaserfabrik verkaufen, um die Verluste zu minimieren. 2006 hatten wir dann bereits wieder die Gewinnzone erreicht, sodass wir uns endlich über eine neue Geschäftsstrategie Gedanken machen konnten.
Denn mit Kabeln allein wären wir – insbesondere am Standort Schweiz – langfristig nicht wettbewerbsfähig gewesen. Früher hatten wir mit der höchsten Kabelqualität geworben, was allerdings angesichts der zunehmenden Standardisierung auf die Dauer nicht funktioniert hätte. Wir entschieden uns schlussendlich gegen die Expansion in neue Branchen und für eine sukzessive Erweiterung des Port­folios mit «Nicht-Kabelprodukten», um Gesamtlösungen anbieten zu können. So konnten wir die Fabriken erhalten und zudem bestehende und neue Kunden verbessert bedienen. Wir schätzten das Risiko dieser Option als relativ gering ein, was sich leider zunächst als Trugschluss erweisen sollte.
Zur Person
Johannes Müller
ist seit mehr als 16 Jahren der CEO von Dätwyler Cabling Solutions. Frühere Stationen waren der CEO-Posten bei der Management-Beratung Brainforce sowie der Job als Divisionsleiter beim Kabelzubehörspezialisten Cellpack.
Müller lancierte seine Karriere 1985 als Software-Ingenieur bei Alcatel Schweiz. Dort arbeitete er sich innerhalb von elf Jahren zum Profitcenterleiter hoch. Der mittlerweile 62-Jährige studierte Elektrotechnik an der ETH Zürich.

Pionier mit Turnkey-Projekten

CW: Das tönt eigentlich nach einer soliden Strategie. Warum hat sie nicht auf Anhieb funktioniert?
Quelle: Samuel Trümpy
Müller
: Bereits 2009 gefiel uns der Gedanke, künftig nicht nur Produkte zu liefern, sondern auch umfassende Services dazu. Mit dieser Idee von Turnkey-Projekten waren wir in der Branche ein Pionier. Wir haben dann ein kleineres Unternehmen gekauft, das genau diesen Ansatz verfolgt hat und auch entsprechende Projekte in der Pipeline hatte. Ein erstes Projekt war die Erneuerung der IT-Infrastruktur aller Botschaften im Auftrag einer der grossen Golfstaaten, der global in rund 120 Ländern präsent ist. So sind wir um die Welt gereist für erste Site Assessments, haben gemeinsam mit dem Kunden die Standards definiert und anschliessend die neuen Systeme schlüsselfertig geliefert, installiert und dokumentiert. Das war ein sehr anspruchsvolles Projekt, das uns an die Grenzen gebracht hat, bei dem wir aber auch viel gelernt haben. Unter anderem war unsere Organisation noch nicht so richtig bereit dazu, zusätzlich zum Kabelverkauf auch noch weitere Produkte und Services zu bieten. Es fehlten uns anfänglich die Ressourcen für das Projektcontrolling, das Global Sourcing sowie das Projektmanagement. Daneben mussten wir die Assessments und die Installation schrittweise an lokale Partner vergeben – zumindest dort, wo wir keine Niederlassung hatten. Das Projekt wurde schlussendlich aus der Sicht des Kunden erfolgreich abgeschlossen – nur unsere Profitabilität galt es noch zu verbessern.
Trotz dieser Anfangsschwierigkeiten haben wir aber an der Strategie festgehalten, was sich letztendlich als richtig erwiesen hat. Denn die Kunden wollen heute beim Bau eines Rechenzentrums nicht mit Dutzenden Lieferanten zusammenarbeiten. Wenn ein Anbieter die Kabel, die Racks, die Kühlung, die Stromversorgung plus die passenden Services etc. aus einer Hand liefern kann, hat er eine viel bessere Verhandlungsposition als ein reiner Kabelhersteller.

CW: Hatten Sie bei den nächsten Projekten mehr Erfolg?
Müller: Ja, durchaus. Aufgrund der Learnings aus dem Botschaftenprojekt konnten wir die weiteren Projekte wesentlich erfolgreicher abschliessen. Während beim ersten Mal mehrheitlich «Elitetruppen» an den verschiedenen Standorten unterwegs waren, nahmen sich in der Folge auch andere Dätwyler-Mitarbeitende und unsere zertifizierten Partner den neuen Anforderungen an. So konnten wir später in sämtlichen Regionen eine gute Profitabilität erreichen.
CW: Dann stand dem Wachstum nichts mehr im Wege.
Müller: Theoretisch nicht. Allerdings hat es während der Strategieumsetzung immer wieder unerwünschte Unterbrüche gegeben. Während uns die Weltfinanzkrise 2007/2008 nicht so sehr geschadet hat, war die Währungskrise 2011 ein grosser Rückschlag. Denn schon damals erwirtschafteten wir 60 Prozent der Umsätze im Euroraum. Als der Franken fast die Parität erreichte, riss das ein gros­ses Loch in die Erfolgsrechnung. Wir mussten schnell handeln. Teile der Produktion (rund 100 Arbeitsplätze) wurden innerhalb eines Jahres ausgelagert, um weiterhin zu wettbewerbsfähigen Preisen liefern zu können. So verlagerten wir die eine Hälfte der Liftkabelproduktion nach Tschechien und die andere Hälfte nach China. 2015 fiel der Euro gegenüber dem Franken nochmals, worauf wir den Hauptteil unserer Logistik von Altdorf nach Frankfurt am Main auslagerten und dort unseren europäischen Logistik-Hub schufen.

Herausforderungen in China

CW: War Dätwyler Cabling Solutions schon vor der Finanzkrise in China präsent?
Müller: Ja, wir haben bereits 1998 zwei Werke in China eröffnet. In einer Fabrik wurden Liftkabel für einen in China tätigen Schweizer Kunden konfektioniert, in der anderen Datenkabel für den asiatischen Markt produziert. Der Konfektionierungsbetrieb hat floriert, die Fertigung hingegen hatte von Beginn an ein Problem mit der Profitabilität. So war die Situation noch, als ich 2004 bei Dätwyler eintrat.
Parallel zum Turnaround hier in der Schweiz mussten wir in China anfänglich mit einigen Compliance-Problemen kämpfen. In unserer Fertigung hatten sich in der Folge grössere personelle Herausforderungen ergeben, die wir aber mit zwei Interimsmanagern lösen konnten. Einer hatte sich der Kunden und Partner angenommen, während sich der andere auf die Optimierung der internen Belange fokussiert hatte. Letztendlich konnten wir die Firma retten und unsere Existenz in China nachhaltig sichern. Nachdem wir ein integres und rein lokales Management rekrutiert hatten, begann das Geschäft zu florieren.
2012 beschloss die chinesische Regierung allerdings, dass an unserem Standort in Pudong bei Shanghai ein Dienstleistungszentrum entstehen sollte. Unsere Fabrik musste weichen. Wir beschlossen, die Standorte Pudong (Produktion) und Suzhou (Konfektionierung) aufzulösen und auf halbem Weg zwischen beiden Orten ein neues Werk zu bauen, um möglichst alle Mitarbeitenden zu halten. Die neue Fabrik in Taicang wurde zum neuen Hauptsitz in China.
CW: Konnten Sie das Personal halten?
Müller: Nein, zuerst überhaupt nicht. Wir haben zwar eine hochmoderne Fabrik erfolgreich und zeitgerecht auf die grüne Wiese gestellt. Aber wir haben unterschätzt, wie wenig mobil die chinesischen Angestellten waren. Ein Ortswechsel von Shanghai respektive Suzhou nach Taicang erschien für viele Mitarbeitende als «Downgrade». Denn die Schulen seien weniger gut, die medizinische Versorgung und das Freizeitangebot ebenfalls schlechter. So blieb von den zuvor rund 400 Mitarbeitenden am Ende nur jeder Dritte bei uns. Wir mussten also am neuen Produktionsstandort quasi nochmals komplett neu anfangen. Zum Glück hatte das Ganze am Markt kaum negative Auswirkungen. Inzwischen ist unsere China-Tochter aber sehr erfolgreich unterwegs und wird im chinesischen Markt jedes Jahr unter den «Top Brands» der Branche gelistet und ausgezeichnet.
CW: Wie fügt sich China in Ihre Organisation ein?
Müller: Nach dem erfolgten Turnaround und der damit verbundenen Restrukturierung hatten wir Dätwyler Cabling erstmal eine klassische, funktionale Organisation verpasst. Sie war jedoch zur Umsetzung unserer Strategie nicht optimal. Wir waren zu träge und die Entscheidungswege waren viel zu lang. Unsere Strategie hingegen verlangt Agilität, lokale Präsenz, kundennahes und schnelles Handeln.
Schlussendlich haben wir uns deshalb für eine Regionalisierung von Dätwyler Cabling Solutions entschieden. Das Unternehmen wurde in vier Regionen aufgeteilt: Europa, China, Middle East und Asia Pacific. Jede Region erhielt einen Managing Director, der für das operative Geschäft in seiner jeweiligen Region voll verantwortlich ist und die gemeinschaftlich definierte Unternehmensstrategie adäquat umsetzen muss. Neu gab es nur noch ganz wenige globale Funktionen – wie Sourcing, Finanzen, HR oder mich als CEO. Mit anderen Worten: Wir eliminierten den klassischen Headquarter-Ansatz und verlangten von den Re­gionen mehr Unternehmertum und Eigenverantwortung.
Der Ansatz hat von Anfang an sehr gut funktioniert. Inzwischen hat sich ein gesunder Wettstreit entwickelt, welche Region jeweils erfolgreicher ist. Das hat viel Dynamik in unsere Organisation gebracht.
“Die Arbeiter in der Kabelproduktion hinterfragen heute die Herstellungsprozesse„
Johannes Müller
CW: Gratulation! Es scheint, Sie haben alles richtig gemacht. Allerdings haben Sie weiterhin hauptsächlich Verkabelungssysteme verkauft …
Müller: Genau. Von der Vision, mit unseren Lösungen IT-Infrastrukturen zu bauen und beispielsweise ein komplettes Rechenzentrum auszustatten und die entsprechenden Services dafür zu liefern, waren wir immer noch ein gutes Stück entfernt. Wir haben uns jedoch nicht entmutigen lassen und begonnen, gezielt Experten und Spezialisten aus anderen Industrien einzustellen – im Vertrieb, Produkt­management, aber auch in den Bereichen Engineering, R&D und Projektmanagement. Mit diesem Ansatz konnten wir uns wichtige, neue Kompetenzen aneignen und den «Proof of Concept» erbringen, dass das neue Geschäfts­modell auch wirklich funktioniert.
CW: Wie haben Sie die übrigen Mitarbeitenden befähigt, ebenfalls IT-Infrastrukturprojekte zu designen und zu verkaufen oder gar Turnkey-Projekte zu leiten?
Müller: Wir sprechen hier von einem anspruchsvollen, mehrjährigen Transformationsprozess, der sich über alle Funktionen und Regionen erstreckt. Natürlich sind nicht alle Mitarbeitenden in gleicher Weise betroffen. Ein Arbeiter an der Kabelmaschine wird weiterhin Kabel herstellen. Aber er wird, entsprechend der neuen Kultur, unternehmerischer zur Sache gehen, Prozesse hinterfragen sowie optimieren und so seinen Beitrag zum Gesamterfolg der Firma liefern. Ganz anders sieht es beispielsweise für die Vertriebsleute aus. Sie müssen viel Neues über IT-Infrastrukturen und deren kundenspezifischen Anwendungen wissen. Auch müssen Sie in der Lage sein, komplexe Projekte auf C-Level zu verhandeln. Das ist eine echte Herausforderung.

Abschied von den «Elitetruppen»

CW: Wie sind Sie und Ihre Kollegen diesen Transformationsprozess angegangen?
Müller: Nun, auf der einen Seite hatten wir die Vision, IT-Infrastrukturen für unsere Kunden zu bauen und weiterzuentwickeln, sodass sich die Kunden voll auf ihr Kern­geschäft fokussieren können. Auf der anderen Seite stand unsere Organisation, die sich erst teilweise auf die neuen Umstände einstellen konnte. Die Frage stellte sich also, wie der Gap zwischen dem Ist-Zustand und der Vision überbrückt werden soll.
Zusammen mit Professor Seán Meehan von der IMD Lausanne und sechs seiner MBA-Absolventen haben wir vor zwei Jahren eine Situationsanalyse vorgenommen. Im Projekt ging es darum, unsere Vision intern und extern zu hinterfragen, gegebenenfalls abzugleichen und sodann einen Weg aufzuzeigen, wie die Ziele mit der bestehenden Organisation zu erreichen sind.
CW: Zu welchem Ergebnis kamen die Experten?
Müller: Die Vision wurde sowohl intern als auch extern als vielversprechend empfunden. Allerdings stellen sich auf dem Weg drei Haupt-Herausforderungen: Die Brand Perception, sprich Dätwyler, muss es schaffen, vom Markt und auch von den eigenen Mitarbeitenden nicht mehr als reine Cabling-Firma wahrgenommen zu werden. Zweitens muss die Vision von allen Angestellten mitgetragen werden. Es genügt nicht, wenn eine «Elitetruppe» oder das Management allein die Vision verfolgt. Und schliesslich drittens müssen Experten angeworben und intern aufgebaut werden, um im neuen Geschäft erfolgreich zu sein.
Ausgehend von diesen Anforderungen haben wir zusammen mit den IMD-Spezialisten ein dreijähriges Transformationsprogramm mit sechs parallelen Workstreams entwickelt, das sich derzeit in der Umsetzung befindet.
Einer der Workstreams heisst «Marketing». Es geht darin nicht ausschliesslich um Brand Perception, sondern auch um unsere Präsenz in sozialen Medien oder Studien zu aktuellen Themen, in denen wir Kompetenz beweisen können. Zur Kommunikation mit unseren Kunden und Partnern weltweit haben wir zusammen mit einer Agentur ein «Messaging House» aufgebaut. Ziel ist: Alle sollen einheitliche und konsistente Botschaften empfangen.
Ein weiterer Workstream heisst «Interne Kommunikation»: Für die Mitarbeiteransprache benützen wir auch hier das vorgenannte Messaging House als Kommunikationsgrundlage. Die Kommunikation selbst erfolgt über unser weltweit verfügbares Intranet. Daneben veranstalten wir regelmässig Roundtables, Workshops und Townhall Meetings, um die verschiedenen Anspruchsgruppen noch gezielter zu erreichen.

CW: Ist die Mitarbeitendenausbildung übergeordnet oder ebenfalls ein Workstream?
Müller: Die systematische Ausbildung unserer Mitarbeitenden ist generell in der DNA von Dätwyler verankert. Dennoch haben wir dem Thema Ausbildung im Workstream «Capabilities» besondere Bedeutung beigemessen. Wir veranstalten intern Schulungen sowie Workshops und haben E-Learning eingeführt. Zusätzlich rekrutieren wir neue Mitarbeitende aus anderen Industrien. Sie bringen neue Sichtweisen mit, die nicht ausschliesslich auf IT-Netzwerke fokussieren, sondern beispielsweise auf Rechenzentren inklusive Kühlung oder die Stromversorgung. Diese Experten ziehen weitere Spezialisten an, die noch andere Perspektiven mitbringen und unsere Fähigkeiten über die eigenen Grenzen hinaus erweitern.
CW: Fachkräfte dürften generell schwierig zu bekommen sein. Was unternimmt Dätwyler?
Müller: Dätwyler bildet für den Produktionsstandort im Kanton Uri jährlich zwischen 50 und 60 Lernende aus. Nach Abschluss der Ausbildung versuchen wir stets, so viele Absolventen wie möglich zu übernehmen. Daneben arbeiten wir mit den Hochschulen in Lausanne und Zürich zusammen, um auch dort Absolventen für uns zu gewinnen. Neu ist ausserdem das «Employer Branding» ein wichtiger Faktor. Wir kommunizieren aktiv, dass wir attraktive Arbeitsplätze und Weiterbildungsmöglichkeiten zu bieten haben.
Ein grosser Vorteil ist, dass wir neben der Schweiz noch weitere Standorte haben. Das vereinfacht die Rekrutierung, insbesondere von erfahrenen Fachkräften. So konnten wir in Europa, China, dem Mittleren Osten und in Asia Pacific exzellente Leute anstellen, die für einen Job nicht un­bedingt den Wohnort gewechselt hätten. Hierdurch ergibt sich ein weiterer Vorteil für Dätwyler und unsere Kunden, denn wir gewährleisten damit die für die Umsetzung der Strategie notwendigen Kompetenzen direkt vor Ort.
CW: Bleiben wir noch kurz beim Personal: Der Dät­wyler-Konzern führt SuccessFactors und SAP S/4Hana ein. Gilt das auch für Dätwyler Cabling Solutions?
Müller: Ja, wir nutzen die IT-Applikationen des Konzerns ebenfalls. Auch SuccessFactors zählt dazu. Ich bin sehr zufrieden mit der Lösung. Sie bietet insbesondere für die Bedürfnisse einer dezentralen Organisation viele nützliche Funktionen, die uns die Arbeit sehr erleichtern. Daneben setzen wir die modernsten Tools für die Kommunikation und die Zusammenarbeit ein: SharePoint, Skype for Business, Microsoft Teams und teilweise Zoom.
Zur Firma
Dätwyler Cabling Solutions
Als ehemalige Division der börsenkotierten Dätwyler Holding ist seit Ende 2012 ein eigenständiges Unternehmen im Besitz der Pema Holding (Pema steht für Peter und Max Dät­wyler). Was 1915 mit der Herstellung von elektrischen Leitern aus Aluminium begann, ist heute eine moderne Produktion von Kupfer-, Glasfaser-, Sicherheits- und Lift­kabeln. Inzwischen hat Dätwyler sein Portfolio erweitert und bietet Komplettlösungen für IT-Infrastrukturen und Rechenzentren an. Am Hauptsitz in Altdorf (UR) sowie Niederlassungen in China, der EU, dem Mittleren Osten und Südostasien sind rund 1000 Angestellte beschäftigt.

Learnings aus dem Lockdown

CW: Hat die IT-Infrastruktur geholfen, als Sie von einem Tag auf den anderen wegen der Corona-Pandemie ins Home Office mussten?
Müller: Ja, die dezentrale IT und die digitalen Tools waren eine grosse Hilfe, um schnell auf diese Situation zu reagieren. Aus meiner Sicht bedeutender waren allerdings die Veränderungen für das früher so «gewöhnliche» Geschäft: Wie selbstverständlich wäre ich vergangene Woche nach China geflogen und hätte auf der Rücktour einen kurzen Stopp in den Emiraten gemacht. Diese Woche sollte ich an das IMD Lausanne fahren und für ein Meeting nach Tschechien fliegen. Dank der hervorragenden IT-Infrastruktur konnte ich an allen Meetings trotzdem teilnehmen – obwohl ich zu Beginn des Lockdowns noch einen Sportunfall hatte. Aber uns und mir ist in der Zeit klar bewusst geworden, wie sehr wir mittlerweile auf eine effiziente und leistungsfähige IT-Infrastruktur angewiesen sind.
CW: China hatte sozusagen einen «Vorsprung» beim Lockdown. Konnte die Schweizer Organisation von den Learnings profitieren?
«Die dezentrale IT und die digitalen Tools waren eine grosse Hilfe, um schnell auf diese Situation zu reagieren», meint Johannes Müller
Quelle: Samuel Trümpy
Müller
: Vor dem chinesischen Neujahrsfest war ich Mitte Januar noch für mehrere Kundenbesuche, ein Townhall Meeting und einen Workshop vor Ort in Shanghai und Taicang. Erst nach dem Heimflug habe ich von Corona erfahren. Ab dann ging alles sehr schnell.
Die Mitarbeitenden in China sind es gewohnt, Anweisungen der Regierung strikt und unverzüglich zu befolgen. Wenn es heisst, es muss im ÖV eine Maske getragen werden, tragen die Chinesen alle eine Maske. Und wenn es heisst, jedermann bleibt zu Hause, bleibt jedermann zu Hause. Punkt. Alles andere hätte dort gravierende Konsequenzen – möglicherweise auch im privaten Bereich.
Diese Disziplin hatte im Lockdown den Vorteil, dass alle unsere Mitarbeitenden den Anweisungen strikt gefolgt sind. Es ist zwar im Februar dann nicht viel gelaufen in der Fabrik, aber es war auch niemand unnötig gefährdet. Wir hatten keine einzige Corona-Ansteckung zu beklagen. So konnten wir schon Ende März fast wieder voll produzieren und auch neue Geschäfte abschliessen. Seit April arbeitet das Werk wieder im Normalbetrieb.
Von den Erfahrungen aus China konnten wir für unsere drei Standorte in Europa – Altdorf, Děčín (Tschechien) und in Frankfurt am Main – enorm profitieren. In allen Niederlassungen haben wir ebenfalls Pandemie-Teams gebildet, Abstandsregeln und Maskenpflicht eingeführt sowie, wo immer möglich, einen Teil der Kollegen von zu Hause aus arbeiten lassen. Leider hatten wir hier trotzdem ein paar wenige Ansteckungen zu beklagen. Das Pandemie-Team hat aber eine tolle Arbeit geleistet, sodass die Lage jederzeit unter Kontrolle blieb. Das Geschäft hat sich aber in der Krise relativ gut gehalten.
CW: Während des Lockdowns hat auch Dätwyler von der Cloud profitiert – teilweise gehostet in Schweizer Rechenzentren. Haben Sie die Anlagen allenfalls sogar selbst ausgestattet?
Müller: Wir nutzen grosse Rechenzentren und profitieren weltweit von Cloud-Services. Als potenzielle Kunden stehen die Betreiber sehr grosser Rechenzentren hingegen nicht unbedingt im Fokus. Natürlich liefern wir aber Komponenten wie beispielsweise die Verkabelungen.
Unsere Zielgruppe für Turnkey-Projekte sind eher kleinere Rechenzentren von kommerziellen oder regierungsnahen Organisationen, vorzugweise mit vielen, gerne auch internationalen Standorten. Hier können wir unseren Kunden gezielt individuelle Projektlösungen anbieten, von der Planung, Lieferung, Installation bis hin zum Unterhalt.

Rechenzentren fürs Edge Computing

CW: Ein anderer Wachstumsmarkt für Dätwyler ist Edge Computing. Welche Projekte haben Sie umgesetzt?
Müller: Die meisten Projekte laufen zurzeit international. Zum Beispiel können wir für ein grosses chinesisches Reisebüro eine neue IT-Infrastruktur inklusive der Rechenzentren implementieren. Das Unternehmen betreibt am Hauptsitz ein eigenes, grosses Rechenzentrum. Die Systeme dort haben wir erneuert. Momentan bereiten wir gerade den Roll­out für die Mini-Rechenzentren in den insgesamt mehr als 100 Reisebürofilialen auf dem chinesischen Festland und teilweise im Ausland vor.
Im Mittleren Osten haben wir beispielsweise die «digitale Kuh» installiert. Der staatliche Milchverarbeiter eines Sultanats betreibt eine riesige Nutztierfarm. Die Anlage ist hochgradig digitalisiert – von der Fütterung über das Monitoring der Ställe bis hin zur Qualitätskontrolle der Milchprodukte. Dort hat Dätwyler die Infrastruktur ebenfalls mit einem zentralen Rechenzentrum und mehreren, über das ganze Areal verteilten Mini-Rechenzentren aufgebaut.
Dätwyler-Cabling-CEO Johannes Müller will mit Edge Computing das Portfolio zusätzlich erweitern
Quelle: Samuel Trümpy


CW: Gibt es auch ein Projekt in der Schweiz?
Müller: Ja, natürlich. Wir arbeiten an verschiedenen Projekten dieser Art, sogar bei Dätwyler Cabling Solutions selbst. Hier haben wir gemeinsam mit einem Schweizer Telekommunikationsanbieter einen Pilotaufbau für «Industrie 4.0» lanciert. Dazu haben wir mehrere unserer Produktionsanlagen vernetzt und sammeln laufend Livedaten über die Fertigung. Hierzu sind an den Standorten in Altdorf und – in ähnlicher Weise in Taicang – Mikro- und Mini-Data-Center installiert, die Informationen lokal in Echtzeit verarbeiten und speichern. Die Daten lassen sich einerseits nutzen für Analysen, andererseits aber auch für die vorausschauende Wartung der Maschinen. Denn wenn eine Anlage den Toleranzbereich verlässt, soll sie natürlich nicht noch minutenlang weiterproduzieren. Diese Kabel würden sonst unseren Ausschuss in die Höhe treiben.
Die Produktionsmaschinen und die Mini-Data-Center sind über 5G-Mobilfunk vernetzt. Über das «Network Slicing» werden uns eine hohe Bandbreite und kurze Latenzzeiten garantiert – sowohl innerhalb der Fabriken als auch ausserhalb beim Anschluss an die Cloud. Aber selbst wenn die Verbindung in die Cloud aus irgendeinem Grund einmal nicht steht, können die Daten in den lokalen Mini-Rechenzentren weiterhin ausgewertet und die Betriebssicherheit gewährleistet werden.
CW: Die Turnaround- oder Transformationsprojekte wie dasjenige aktuell bei Dätwyler Cabling Solutions ziehen sich durch Ihren Lebenslauf, den eines ETH-Ingenieurs. Ist dies ein Steckenpferd von Ihnen?
Müller: Zunächst einmal denke ich, dass Turnaround-Projekte häufig nur einseitig angesehen werden. Es geht dabei nicht nur um das Aufbrechen der bestehenden Strukturen und das Neuordnen der Organisation, meistens verbunden mit Kosten- und Personalabbau. Für mich ist Turn­around zwingend auch verbunden mit der nachhaltigen Neuausrichtung, mit der die Zukunft des Unternehmens gesichert werden kann.
Anspruchsvoll wird es dann, wenn für die bestehenden oder auch für neue Geschäfte zukunftsträchtige Potenziale und – damit einhergehend – auch neue Strukturen gesucht und gefunden werden müssen. Dieser Teil des Turnarounds, und vor allem die vertrauensvolle Arbeit mit den Menschen, hat mir immer besonders Freude gemacht. Im Fall von Dätwyler Cabling Solutions habe ich die Potenziale früh gesehen und bin sie zusammen mit meinen Führungsteams mit voller Energie und Herzblut an­gegangen. Bis heute habe ich es nie bereut!



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