EXKLUSIV 29.11.2005, 18:40 Uhr

Eine Software für die WIR-Währung

Für die Verrechnung von geldlosen Leistungen im WIR-System betreibt die WIR Bank in Basel ein Legacy-System auf Unix-Basis. Mit der Ausweitung der Geschäftstätigkeit mussten die vorhandenen Applikationen erweitert und auf eine neue Plattform migriert werden.
Lutz Jacobi, zuständig für die Analyse und die Programmierung bei der Basler WIR Bank: «Applikationen fertig von der Stange gab es für die WIR Bank nie.»
Dieses Geschäftsmodell kann vermutlich nur in der Schweiz erfolgreich funktionieren: Im WIR-System tauschen kleine und mittelständische Unternehmen untereinander Produkte und Dienstleistungen aus, ohne dafür Geld zu verwenden. Als Verrechungseinheit dient der WIR, der zwar dem Wert eines Schweizer Frankens entspricht, aber nicht konvertiert werden kann. Als zentrale Verrechnungsstelle fungiert die WIR Bank in Basel, die auch Darlehen in WIR vergibt, beispielsweise für Bauvorhaben, wobei dann die Handwerker teilweise in WIR bezahlt werden. Während die Tauschsysteme in anderen Ländern meist Privat-personen umfassen, ist das WIR-System auf die gewerbliche Wirtschaft ausgerichtet. Sein Zweck besteht in der Absatzförderung der beteiligten Unternehmen, die ohne Beanspruchung von Liquidität oder von Franken-Krediten Aufträge vergeben können. Mittlerweile sind gut 60000 Unternehmen diesem Verrechnungssystem angeschlossen.

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Vom WIR zum Franken

Im letzten Jahrzehnt wurde das traditionelle WIR-System modernisiert: WIR und Franken sind heute sehr eng verbunden. Die WIR Bank hat sich dementsprechend zu einer vollständigen Bank weiterentwickelt, die auch ganz «normale» Bankgeschäfte abwickelt. Die IT-Landschaft der WIR Bank ist natürlich von den Besonderheiten des Geschäftsmodells geprägt. Applikationen fertig von der Stange gab es für die WIR Bank nie. In den 80er Jahren hat das Institut daher eine komplette Bankensoftware ganz in eigener Regie erstellt, die von der Kontenführung über den Zahlungsverkehr bis zur Kreditvergabe zwar alle branchenüblichen Features umfasste, aber natürlich ganz auf den WIR abgestimmt sein musste. Die Softwareentwicklung für dieses typische Legacy-System wurde in Cobol durchgeführt, als technische Basis diente ein NCR-VRX-Hostsystem, die hierarchische Datenbank Total DB von Cincom und der Transak-tionsmonitor Tran Pro. Die Lösung deckte zwar alle Anforderungen ab, aber als Mitte der 90er Jahre der Hardware-Hersteller den technischen Support einstellte, musste die WIR Bank zum ersten Mal ihre IT-Systeme migrieren. Man entschied sich für ein NCR-Unix-System, weil dafür eine Reihe von Migrationstools angeboten wurden, die die Übernahme von Applikationen und Daten erleichterten. So wurde aus Total DB die Unix-Variante Supra PDM, und von Tran Pro wechselte man zu BEAs Transaktionsmonitor Top End - die Cobol-Software konnte weitgehend übernommen werden, hier zahlte es sich zum ersten Mal aus, dass sich die WIR Bank auf die Standards ausrichtete. Allerdings waren die Anwendungen auch unter Unix weiterhin klassisch zeichenorientiert. «Zu dieser Zeit konnten wir uns nicht um die Optimierung und Moderni-sierung der Anwendungen kümmern, weil wir die neuen Anforderungen, die sich aus der veränderten Geschäftspolitik ergaben, abdecken mussten», erläutert Lutz Jacobi, Projektleiter bei der WIR Bank.

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Von VRX zu Unix
Die Öffnung der Bank in Richtung Franken brachte ab Mitte der 90er Jahre auch für
die IT und dabei besonders für die Anwendungsentwicklung neue Herausforderungen. Es musste nicht nur ein zweiter, paralleler Währungskreis geschaffen werden, es kamen auch ganz neue Features dazu: So beispielsweise der gesamte Kassenbereich, mit Ein- und Auszahlungen und Kassenabschluss in den Filialen der WIR Bank. Den WIR gibt es ja nicht als Bargeld, folglich gab es bei der gesamten WIR Bank bis dahin auch keine Kassen und natürlich auch keinerlei Kassensoftware. In diesem Zusammenhang wurde auch der Einstieg in das Electronic Banking für die WIR Bank unerlässlich, und auch dafür mussten nun die IT-technischen Voraussetzungen geschaffen werden.
Bei der durch die Geschäftsentwicklung ausgelösten Modernisierung der Applika-tionen verfolgte die WIR Bank folgende Grundsätze: Die Softwareentwicklung sol-l--te grundsätzlich weiterhin in Cobol erfolgen, weil einerseits dafür Know-how im Hause vorhanden war und weil sich die Cobol-Systeme als robust, performant und anpassungsfähig erwiesen hatten. Als Front-end sollte für alle weiteren Lösungen jedoch statt des mittlerweile antiquierten Green-Screen eine zeitgemäße und flexibel einsetzbare Browser-Umgebung für die rund 170 Endbenutzer zum Einsatz kommen. Drittens sollte die Anwendung in der Lage sein, auch relationale Datenbanken per SQL zu verwenden. «Wir wollten zwar vorerst bei unserer hierarchischen Datenbank bleiben, uns aber rechtzeitig auf einen Wechsel vorbereiten», merkt Jacobi dazu an. «Früher oder später werden wir auch bei unserer Datenbasis eine Migration durchführen. Darauf sollen die Applikationen schon vorbereitet sein.»

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Die neuen Geschäftsprozesse für die Kassentransaktionen wurden mit der Entwicklungsumgebung Net Express von Micro Focus erstellt. Für das neue Browser-Front-end generierte Net Express den HTML-Code direkt aus den entsprechenden Cobol-Programmen - schlüsselfertig mit allen notwendigen Schnittstellen. «Für uns war wichtig, dass wir bei Cobol als Programmiersprache bleiben konnten», merkt Jacobi an. «Die Entwicklung mit einer anderen Sprache, beispielsweise mit Java, wäre zwar grundsätzlich möglich gewesen, hätte aber einen wesentlich höheren Aufwand bedeutet. Die Entwicklung mit Cobol war für uns daher auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten geboten.»

Von NCR Unix zu Sun Solaris

Mittlerweile war allerdings für die WIR Bank bereits die nächste Migration notwendig geworden: «Es zeichnete sich auch das Ende der NCR-Unix-Plattform ab», führt Jacobi aus. «Wir benötigten für unsere gestiegenen Anforderungen und aber auch für die stark wachsende Zahl von Transaktionen eine neue, leistungsfähigere und auch skalierbare Hardware. Dafür fanden wir auf der bisherigen Plattform nicht genügend Unterstützung, so dass wir uns entschlossen, mit unseren Anwendungen abermals auf eine neue Plattform zu wechseln.» Nach gründlicher Evaluierung entschied sich die WIR Bank für Sun Solaris, blieb also hinsichtlich der technischen Grundlagen weiter in der Unix-Welt. Da Micro Focus auch diese Plattform mit einer Entwicklungsumgebung und einem Laufzeitsystem unterstützt, waren keine größeren Anpassungen der Programme erforderlich. Mit Net Express konnte die Portierung der Applikationen problemlos durchgeführt werden. Die Migration wurde zunächst nur für die Entwicklungs- und Testsysteme vorgenommen, anschließend wurden auch die produktiven Systeme umgestellt. Seit Mitte 2005 arbeitet die IT der WIR Bank ganz auf Basis von Sun Solaris. Die Performance der neuen Um-gebung hat die Erwartungen bestätigt: «Die Batch-Läufe für die täglichen Tagesabschlüsse arbeiteten auf der NCR-Unix-Anlage meist von 18 Uhr 30 bis 23 Uhr», erläutert Jacobi. «Jetzt sind wir schon nach zwei Stunden fertig.» Dass auch diese neuerliche Migration ohne Entwicklungsaufwand innerhalb weniger Monate durchgeführt werden konnte, unterstreicht die große Flexibilität der programmiertechnischen Grundlage. Alle Geschäftsprozesse laufen heute weiterhin als Cobol-Programme unter Unix, wobei die Kernbestandteile noch immer auf die ursprünglichen VXR-Applikationen zurückgehen. Dazu kommen die neuen Kassenanwendungen, ebenfalls Cobol-Applikationen, aber mit modernem Browser-Frontend. Der Transaktionsmonitor Top End konnte auf Sun Solaris ebenso mit-genommen werden wie die proprietäre Datenbank Supra PDM, wodurch die Anpassungsarbeiten sehr gering gehalten werden konnten.

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Die Softwareentwicklung und -pflege erfolgt heute vollständig auf dem PC mit der Entwicklungsumgebung Net Express von Micro Focus. Browser-Anwendung und Batch-Programme werden auf dem PC getestet, kompiliert und auf das separate Sun-Testsystem übertragen. Hier finden abschließende Systemtests, die ins-besondere das Laufzeitverhalten ana-lysieren, statt. Lediglich für die klassischen Dialog-Pro-gramme werden die Source-Codes zum Com-pilieren noch auf das Testsystem ge--schickt. Das produktive Sun-System hingegen erhält überhaupt keine Sourcen mehr, hier laufen die Applikationen unter der Kontrolle von Micro Focus Application Server.
«Wir haben jetzt eine flexible und leistungsfähige Entwicklungsumgebung, die das Produktivsystem gut abbildet», führt Jacobi aus. «Wir sind damit auch mit unserem kleinen Entwicklerteam in der Lage, anspruchsvolle Lösungen in kurzer Zeit umzusetzen.» Die WIR Bank ist mit dieser Konfiguration auf künftige Weiterentwicklungen vorbereitet, so beispielsweise auf die Einführung einer relationalen Datenbank oder die Verwendung des Browser-Front-ends für weitere Anwendungsbereiche.
Rainer Doh



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