«Digitale Transformation ist der falsche Begriff»

Innovation bei Vorwerk

CW: Wie entwickelt Vorwerk Digital neue Funktionen für die Haushaltsgeräte?
Ganns: Vorwerk Digital ist mittlerweile nicht mehr nach Komponenten organisiert, sondern nach Produkt- und Querschnittsfunktionen. Früher hatten wir ein iOS-Team, heute sind die iOS-Entwickler Mitglieder von «vertikalen» Teams. Diese Teams haben eine Ende-zu-Ende-Verantwortung für eine bestimmte Funktion, etwa die digitale Einkaufsliste. Hier arbeitet ein iOS-Entwickler mit einem Android- und einem Web-Entwickler, zwei Embedded-Programmierern, zwei Cloud-Architekten und einem Tester zusammen. Sie sollen «self-contained» arbeiten, also ihre Neuentwicklung selbstständig und unabhängig in unsere Microservices-Landschaft bringen.
CW: Sind heute auch Schweizer Zulieferer an der Produktentwicklung beteiligt?
Ganns: Wir arbeiten in vielen Bereichen mit Partnern in der Schweiz zusammen. Zum Beispiel gab es Beratung in den Bereichen Design Thinking und Produkt-Prototyping. Weiter sind einige Teile unserer Datenhaltung in der Schweiz angesiedelt. Dafür haben wir beispielsweise das globale Datacenter-Setup von Vorwerk zusammen mit der Adfinis SyGroup aus Bern weiterentwickelt. Jenseits der Grenzen ist beispielsweise unser Operations-Team in Indien angesiedelt, da wir Support rund um die Uhr anbieten. Das Testing läuft auch teilweise in Indien und zusätzlich in Mexiko, damit wir eine Software am Abend einchecken, über Nacht testen und gleich am Morgen daran weiterarbeiten können.
Julius Ganns leitet seit 2017 den Bereich Digital bei Vorwerk
Quelle: Stefan Walter / NMGZ
CW: Wie ist die IT-Infrastruktur hinter dem digitalen Thermomix aufgestellt?
Ganns: Wir sind 2012 zunächst ohne die interne IT-Abteilung von Vorwerk gestartet, haben also bis 2016 alles separat aufgebaut – das hat Vorteile und Nachteile, aber es war damals der bessere Weg und ich bin dankbar, dass wir diese Möglichkeit bekommen haben. Mit dem Mandat für Vorwerk Digital haben wir begonnen, ein gemeinsames agiles Team für den technologischen Bereich aufzubauen. Die Infrastruktur besteht massgeblich aus Amazon Web Services. Die Cloud war von Beginn an die passende Lösung, wobei zeitweise viel Eigenentwicklung notwendig war.
Die meisten Standardkomponenten waren (noch) nicht geeignet für unsere spezifischen Anforderungen. Ein gutes Beispiel sind die digitalen Twins Hunderttausender Geräte in der Cloud. Eine solche Funktion gab es 2014 noch nicht als Standardlösung. Amazon IoT war noch nicht lanciert, Azure IoT ebenfalls nicht. Uns blieb also nichts anderes übrig, als die digitalen Twins selbst zu bauen, inklusive einer Managementkonsole und der Datenverwaltung. Mittlerweile haben die Anbieter nachgezogen, sodass wir schrittweise möglichst schnell unsere Eigen­entwicklungen ersetzen. Quasi: Murder your Darlings.
Hier zeigt sich ein grundsätzlicher Unterschied zu einer klassischen Enterprise-IT: Sie ist stark auf die Total Cost of Ownership ausgerichtet – eben eine Kostenstelle. Vorwerk Digital operiert hingegen in vielen Bereichen als Profit Center, das mehrere Stellschrauben hat – insbesondere Time-to-Market und Cost of Change. Wir müssen möglichst schnell neue Funktionen liefern und die alten ablösen. Hier liegt auch der Grund für die Anwendung von Cloud, Docker, und OpenShift, die uns Flexibilität geben, Technologien schnell upgraden und tauschen zu können.
CW: Sie beschäftigen auch Mitarbeiter aus der tradi­tionellen Vorwerk-Organisation. Wie haben Sie die Kollegen rekrutiert und wie haben Sie das neue, agile und digitale Mindset vermittelt?
Ganns: Wie in jedem Unternehmen gibt es Leute, die unbedingt dabei sein wollten. Die Philosophien und Arbeitsweisen zwischen unserem Team und anderen Abteilungen waren aber zu Anfang schon sehr verschieden. Vorwerk plant langjährig, wir planen höchstens drei Monate und entwickeln Strategien für 12 bis 18 Monate – mit kontinuierlicher Evolution. Ein «Investment Board» kommt einmal im Quartal zusammen, überarbeitet Prioritäten und Strategie und stattet die verschiedenen Projekt-Teams mit Ressourcen aus. Am Ende des Quartals müssen die Teams beweisen, dass sie gute Arbeit geleistet haben und neue Funktionen bieten können, die den Kunden nutzen.
Natürlich gibt es auch langfristige Projekte, die vielleicht nicht gleich nach drei Monaten ein fertiges Produkt zeigen können. Aber sie sollten in der Lage sein, ein «Minimum Viable Product» abzuliefern, das die zukünftigen Funktionalitäten immerhin andeutet. Den Wert dieses iterativen, inkrementellen Ansatzes erkennen dann je länger, je mehr Leute und das ist der entscheidende «Tipping Point», an den man kommen muss.



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