Standardisierung 09.11.2007, 10:14 Uhr

Das EDI-Dilemma

Die Automatisierung des elektronischen Geschäftsverkehrs leidet nach wie vor an zu vielen Voraussetzungen. Petra Schubert, Professorin für betriebliche Anwendungs-systeme, erklärt die Hintergründe und zeigt Auswege auf.
Petra Schubert ist der Ansicht, dass Machtinteressen die Einführung des EDI auf Knopfdruck bremsen.
Für die einfache EDI-Abwicklung (Electronic Data lnterchange) von B2B-Prozessen ist die Integration der diversen Beteiligten nach wie vor problematisch. Der elektronische Datenaustausch aus ERP-Systemen (Enterprise Resource Planning) krankt an der Proprietät der im Einsatz -stehenden Software und an den damit verbundenen Schnittstellenproblemen. Beides wirkt sowohl auf die Dokumentenintegrität wie auf die Inhalte und Formen der Datenaustauschformate zurück. Einzellösungen als Ausweg aus dem Dilemma, wie sie ERP-Spezialistin Abacus mit ihrem AbaNet anbieten, schaffen zwar für den begrenzten Kreis der involvierten Kunden Abhilfe. Doch sie lösen die grundsätzlichen Probleme nicht. Wie die Situation derzeit aussieht, was bereits getan wird und künftig zu unternehmen ist, um EDI zu standardisieren, erörtert Computerworld im Gespräch mit Petra Schubert, die eben erst von der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) an die Universität Koblenz wechselte und bis April 2007 an der FHNW das Institut für Wirtschaftsinformatik aufgebaut und geleitet hat.
Computerworld: Frau Schubert, warum ist der elektronische Datenaustausch (EDI) innerhalb der Geschäftsprozesse heute so wichtig?
Petra Schubert: Der Datenaustausch zwischen den Unternehmen kann heute bilateral zwischen den Parteien und multilateral über Netzwerke erfolgen. Diese beiden Möglichkeiten des Datenaustauschs und die damit verbundenen Optionen sind exakt die Fragen, mit denen sich auch kleine Unternehmen auseinandersetzen müssen. Geschäftsprozesse müssen heute schnell, zuverlässig und vor allem kostensparend ablaufen. Die ganze Wirtschaft steht hier unter Druck. Der elektronische Datenaustausch ist eine ganz offensichtliche Lösung, um Kosten zu reduzieren und Prozesse zu automatisieren.

Wo liegen die Probleme?

Würde ein EDI-Standard bestehen, bei dem sich alle Parteien auf Formate und Übertragungsregeln geeinigt haben, gäbe es keine Schwierigkeiten. Aber die Realität sieht anders aus. So haben wir am Competence Center E-Business der FHNW in den letzten Jahren an einem der vielen Geschäftsdokumente, der elektronischen Rechnung, eine Standardisierung versucht. Unter der neutralen Moderation der Hochschule haben sich drei grosse Dienstleister für den elektronischen Rechnungsaustausch auf einen gemeinsamen Standard (SwissDIGIN) geeinigt. Diesen Standard gibt es zwar heute und man könnte ihn flächendeckend einsetzen. Das heisst aber nicht, dass dies wirklich der Fall ist.

Warum nicht?

Das grundlegende Problem ist, dass sich in diesen Szenarien immer viele verschiedene Parteien mit unterschiedlichen Interessen gegenüberstehen. Eine Partei, die mit der Übertragung von Dokumenten Geld verdient, hat keine Motivation, dass ihre Services einfach austauschbar werden. Dienstleister wollen ihre Kunden an sich binden (Lock-in). Das schaffen sie besonders gut, indem sie ihre eigenen Formate verwenden. Dann ist ein Anbieterwechsel schwierig.
Böse formuliert: Die EDI-Standardisierung wird durch Machtspiele und unterschiedliche Interessenlagen behindert.

Aber im klassischen EDI besteht doch schon lange mit EDIFACT solch ein Standard?

Definieren wir kurz: EDI bezeichnet den elektronischen Austausch standardisierter Geschäftsdokumente zwischen Informationssystemen zweier oder mehrerer Parteien. Damit die beteiligten Computersysteme die ausgetauschten Nachrichten automatisch verarbeiten können, muss der Inhalt eines solchen Dokuments bis ins Detail zwischen den Parteien vereinbart werden. Dabei ist für die korrekte Interpretation nicht nur ein korrekter Aufbau (die Syntax) vonnöten. Man muss sich auch über die Bedeutung der Inhalte (die Semantik) im Klaren sein.
In der Praxis ist ein solcher Vereinbarungsprozess ziemlich schwierig. Denn die vorhandenen Warenwirtschafts- oder ERP-Systeme speichern die Daten intern alle unterschiedlich ab und müssen sie beim Verschicken und Empfangen erst mit Hilfe eines Konverters in ihr internes Format umsetzen. Die Vereinbarung des Übertragungsformats - das eigentliche EDI-Format - zwischen zwei Geschäftspartnern ist dabei noch relativ einfach. Schwierig wird es, wenn sich viele Parteien über Inhalte und Bedeutung einigen müssen. Dann ist es zweckmässig, auf global vereinbarte Standards zurückzugreifen.
Dafür existiert seit über 20 Jahren der Standard UN/EDIFACT (United Nations Electronic Data Interchange For Adminis-tration, Commerce and Transport). Er hat sich aber auch nach so vielen Jahren noch nicht global durchgesetzt. Denn EDIFACT-Nachrichten sind oft sehr komplex und mit Funktionalitäten überladen. Das hat in der Praxis zur Bildung sogenannter «brachenspezifischer Subsets» geführt.

Was steckt hinter dem sogenannten neuen EDI?

Fluglinien, Banken und die Automobilindus-trie waren die ersten Anwender von EDI nach dem UN/EDIFACT-Standard. Den Datenaustausch wickelten sie über Dritte, sogenannte Value Added Networks (VAN) ab, die auch als EDI-Clearing-Center bezeichnet werden. Dort liefen Services wie das Übermitteln von Dokumenten an den richtigen Empfänger, Speicherung, Validierung und Archivierung. So blieben EDI-Applikationen wegen der nötigen Infrastruktur und der damit verbundenen Kosten lange Zeit vor allem Grossunternehmen vorbehalten.
Das Internet und die rasante Verbreitung seiner offenen Standards haben EDI wiederbelebt. Was zuvor proprietär und teuer war, gibt es heute sehr günstig und als offene Lösung. Auch für nur wenige Transaktionen lohnt es sich heute, EDI zu betreiben. Ins--be-sondere der Internet-Standard XML (Extensible Markup Language) kam der EDI--Anwendung entgegen. Bei XML handelt es sich um einen Standard, der die Syntax -eines Dokuments definiert, aber keine -Aussagen über die Inhalte oder deren Verwendung trifft. Entsprechend hat sich eine Vielzahl von Formaten für XML-basierte EDI-Lösungen entwickelt, die den Anspruch eines Standards erheben.

Also hat sich das neue EDI durchgesetzt?

Nein. Zwar sind die treibenden Kräfte neben den Standardisierungsgremien und nationalen und internationalen Verbänden auch Industriekonsortien oder einzelne Unternehmen wie beispielsweise OBI, RosettaNet und ebXML. Was zeigt, dass XML geholfen hat, einige der zentralen Hindernisse des klassischen EDI zu überwinden. So werden jetzt häufig die teuren Intermediäre - also die VAN-Betreiber - eingespart, indem bilaterale Vereinbarungen getroffen werden.
Doch gleichzeitig ist es dadurch zu einer Vielzahl von Formaten für XML-basiertes EDI gekommen, was sich wiederum hemmend auf die Verbreitung auswirkt.

Welche Vorteile bietet denn das Internet für den EDI-Einsatz?

Das Internet ist nur das Übertragungsmedium. EDI heisst Einigung auf Formate. Worüber die Übertragung letztlich erfolgt, ist zweitrangig.
Entscheidend sind die Übertragungskosten, die beim Datenaustausch entstehen. Und hier ist das Internet, ganz einfach weil es ohnehin schon da ist, immer häufiger eine günstige Alternative zu den vorhandenen proprietären Infrastrukturen.

Kommt denn ERP-Software noch ohne EDI aus?

Diese Frage trifft ins Schwarze. EDI kann an drei Stellen «klemmen»: Bei der Vereinbarung der Austauschformate. Bei der Konvertierung in das richtige Format durch das Informationssystem. Und bei der Übertragung über eine Leitung. Diese Situation ist aber längst allen Beteiligten klar. Mich wundert daher sehr, warum gerade hierfür noch immer nicht Standard-ERP-Software mit Standard-EDI-Modulen ausgerüstet wird.
Zwar verfügen die meisten Software-Suiten über entsprechen-de Schnitt-stellen. Doch die müssen oft aufwändig an die eigenen EDI-Bedürfnisse angepasst werden. Kurz: Auch nach 20 Jahren UN/EDIFACT existiert noch kein standardisiertes EDI-Modul.

Was sind die Gründe dafür?

Zum einen liegt das gewiss daran, dass es eben nicht trivial ist, den Austausch elektronischer Geschäftsdokumente zu verein-baren. Aber es ist darüber hinaus nach wie vor mehr ein Management- als ein technisches Problem. Denn sobald man sich geeinigt hat, in welchem Format man die Dokumente austauscht, ist die Technik kein Problem mehr. Das deutet darauf hin, dass die Ansprüche an die Übertragung so vielfältig sind, dass man sie nicht in ein Standardmodul packen kann. Es braucht deshalb nach wie vor ein Einführungsprojekt mit dem entsprechenden (teuren) Projektmanagement.
Einen interessanten Ausweg zeigt SAP im Moment in Deutschland. Im Zuge des zunehmenden Trends zum SaaS (Software as a Service) ist SAP eine enge Partnerschaft mit der Firma Crossgate eingegangen. Crossgate - quasi das deutsche Pendant zum Schweizer Conextrade - liefert nun einen Service, der ihren Kunden «EDI auf Knopfdruck» ermöglichen soll. Hierbei handelt es sich genau um ein solches Standard-EDI-Modul. Noch wird aber auch hier das Geschäftsdokument nicht bilateral sondern über den Intermediär, eben Crossgate, an den Empfänger weitergeleitet.

Wie viele solche E-Business-Netze, spricht Intermediäre, existieren in der Schweiz?

Ich kenne nur vier: AbaNet, Paynet, Yellowbill und Conextrade. Daneben gibt es noch viele branchenspezifische Netzwerke wie MediData im Gesundheitswesen. Das sind aber in der Regel nur Branchenlösungen und damit lediglich Insidern bekannt.

Wie schätzen Sie die Schweizer Situation ein?

Fallstudien zeigen eine Fülle unterschiedlicher technischer Ansätze für Business-Collaboration. Es drängt sich die Frage auf, warum heute, zwei Jahrzehnte nach Aufkommen von ERP-Standardsoftware, der Grad der Standardisierung im elektronischen Austausch von Geschäftsdokumenten noch nicht weiter vorangeschritten ist. Man könnte erwarten, dass heute bereits jede Business Software mit einer entsprechenden Schnittstelle für den Versand strukturierter Geschäftsdokumente basierend auf internationalen Inhalts- und Übertragungsstandards ausgestattet wäre.
Die Lösungen in der Schweiz zeigen, dass dem nicht so ist. Die Unternehmen fühlen sich anscheinend - auf Rat ihrer IT-Partner - noch immer gezwungen, das Rad neu zu erfinden und eigene, proprietäre Schnittstellen zu entwickeln. Damit ergibt sich eine Heterogenität an Integrationslösungen, die bei zunehmender elektronischer Vernetzung nur schwer zu bewältigen sein wird.

Wie sieht die EDI-Zukunft aus?

2020 wird es uns unsinnig vorkommen, ein Geschäftsdokument auszudrucken und zu verschicken. Dann passieren Dokumentenaustausch und Archivierung elektronisch und unsichtbar im Hintergrund. ERP-Systeme werden über standardisierte Schnittstellen verfügen und es wird weltweite Teilnehmerverzeichnisse für die Identifikation der Marktteilnehmer geben. Dies wird vergleichbar sein mit dem Telefonsystem und dem Postversand. Es wird weltweit gültige Nummern (Adressen) geben, mit denen die Teilnehmer im Netzwerk gefunden werden können - egal bei welchem Dienstleister sie angeschlossen sind. Der elektronische Geschäftsverkehr und damit die in dem von Ralf Wölfle und mir verfassten Buch* untersuchte Business Collaboration wird so einfach werden wie das Versenden eines Briefs mit der Post.
* «Business Collaboration: Standortübergreifende Prozesse mit Business Software», Hanser Verlag, Müchen, 2007.
Volker Richert



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