30.09.2008, 15:57 Uhr

Ist die Schweiz ICT-feindlich?

Mangelware Informatiker: Vertreter aus dem Schweizer Bildungswesen und der Wirtschaft diskutierten am 11. Ittinger Mediengespräch der IBM über Lösungswege aus der Ausbildungskrise.
Helmut Fürer, Informatikchef des Bildungsdepartements Kanton St. Gallen (links), im Gespräch mit Markus Fischer von der Schweizer-ischen Akademie der Technischen Wissenschaften
Seit 2001 befinden sich die Zahlen der Studienanfänger in Informatik auf einem gefährlich niedrigen Niveau. An den Fachhochschulen schrumpften die Ausbildungszahlen um rund ein Drittel, an den universitären Hochschulen, inklusive ETH Zürich und Lausanne, um über 60 Prozent.
Bei den Lehrstellen ist die Lage noch desolater: Obwohl die Nachfrage nach guten Informatikern gross ist, bilden Grosskonzerne immer weniger aus - sie greifen lieber fertige Fachkräfte ab. Kleine Unternehmen stellt die Lehrlingsausbildung vor eine grosse Herausforderung - sie können oft nicht abschätzen, wo sie in vier Jahren stehen werden. Was also hat sich seit dem letzten Computerworld-Spezial «Job & Karriere» vom April diesen Jahres getan?

Bilanz der informatica08

Das Jahr der Informatik sollte dem dramatischen Rückgang bei den Informatikausbildungszahlen ein Ende setzen. Dafür hat sich die Initiative informatica08 zum Ziel gesetzt, einer breiten Öffentlichkeit die zentrale Bedeutung der Informatik bewusst zu machen und vor allem das Interesse der Jugendlichen für die Informatik als spannende Wissenschaft und attraktives Berufsfeld zu wecken.
Die Zwischenbilanz der Initiatoren und Sponsoren fällt zwar positiv aus: Dr. Placidus A. Jaeger, der ehemalige Geschäftsführer der Hasler Stiftung, einer der Hauptsponsoren der informatica 08, betont: «Die zentrale Bedeutung der Informatik gegenüber den Schulen ist um einiges sichtbarer geworden.» Allen ist aber auch klar, dass mit dem Ausklingen des Jahres der Informatik nicht einfach Schluss sein darf und die IT in der Schweiz auch weiterhin stark gefördert werden muss.

Auf dem richtigen Weg

Obwohl die erhoffte Trendwende noch in weiter Ferne liegt, konnten zum Lehrstart im August erstmals wieder zunehmende Zahlen präsentiert werden. «Erfreulicherweise können wir feststellen, dass ein sachter Aufwärtstrend stattfindet», liess Alfred Breu, Präsident der Zürcher Lehrmeistervereinigung (ZLI), verlauten. Der ZLI-Präsident belegte die Trendwende mit konkreten Zahlen: «In diesen Tagen haben 1700 Lehrlinge, 150 Informatikmittelschüler, 150 Privatschüler und rund 100 Erwachsene im Umsteigerlehrgang die Informatikgrundbildung begonnen. Damit wird erstmals die 2000er-Grenze überschritten.»
Auch die Informatik an der ETH Zürich soll wieder im Aufwind sein. Mit 27 Prozent mehr Neueintritten hat sie einen regelrechten Wachstumsschub erfahren. Die grosse Ernüchterung: Obwohl die Talfahrt beendet scheint, entsprechen die Ausbildungszahlen nur etwa einem Prozent der berufstätigen Informatiker. Die rund 6000 Fachleute, die jährlich pensioniert werden, können damit in keinster Weise kompensiert werden.

Folgen der Konsumgesellschaft

E-Mail, Social Networks, Handys, Google, PowerPoint-Präsentationen, Musik herunterladen und Überschriften formatieren in Word: Für die meisten Kinder und Jugendlichen ist die Arbeit am PC heute Alltag. Das grosse Problem unserer Konsumgesellschaft liegt aber darin, dass sich nur noch die wenigsten um die Grundlagen kümmern, auf denen IT aufbaut. Solange die neuen Medien funktionieren, ist es egal, wie sie es tun. Die Technik zu verstehen und zu hinterfragen, scheint nicht mehr interessant. Dr.
Jaeger warnt deshalb vor zu viel Optimismus: «Integration und Anwendung von ICT ist noch lange nicht Informatik.» Für viele Unternehmen ist deshalb klar, dass der Informatikernotstand gezielt bei der Nachwuchsförderung angepackt werden muss. Markus Fischer von der Arbeitsgruppe «Zukunft Bildung Schweiz» der Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften setzt vor allem auf eine frühzeitige Konditionierung: «Kinder sollen schon im Vorschulalter auf neue Medien und Schlüsseltechnologien, darunter natürlich auch die ICT, aufmerksam gemacht werden. Dabei soll ihr Interesse und ihre Neugier geweckt werden und sie motivieren, sich damit auseinanderzusetzen. Die Lehrer sollten dann diese Konditionierung aufgreifen, Interesse und Engagement fördern und nach Möglichkeit unterstützen.»

Schulen blocken ab

Doch die Schulen sind noch nicht so weit: Dr. Carl August Zehnder, emeritierter Professor für Informatik an der ETH Zürich, moniert, dass viele ältere Lehrkräfte die Forderung von Schulbehörden und Öffentlichkeit nach dem Einsatz von Informatik in der Schule als unnötige Belastung empfänden.
Dem stimmt auch Helmut Fürer, Informatikchef des Bildungsdepartements des Kantons St. Gallen, bei: «Es sind bei Weitem noch nicht alle Lehrpersonen fit für die IT. Vor allem viele Ältere sind mit der Informatik alles andere als vertraut.» Professor Zehnder stellt fest, dass sich ältere Lehrkräfte gegenüber der Informatik oft auch unsicher fühlen und die Konfrontation mit ihren Schülern fürchten, von denen recht viele mit produktspezifischem Informatikwissen auftrumpfen können. Für den Professor ist klar, dass man nur Schritt für Schritt vorankommt: «Wir sind gefordert, alle Möglichkeiten zu ergreifen, um die Situation zu verbessern. Wir können nicht warten, bis die Super-Lösung kommt, die gibt es nämlich nicht.»
Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist bereits getan: Das Ergänzungsfach Informatik an den Gymnasien ist seit diesem Sommer neu zugelassen. Und es gibt bereits ein paar Kantone, die das Fach anbieten. Dafür werden bis dato 23 Lehrer zusätzlich auf Informatik ausgebildet. Für die Startphase steuert die Hasler Stiftung die finanziellen Mittel bei.

Unternehmen tun zu wenig

Professor Zehnder ist auch der Meinung, dass die Wirtschaft deutlich zu wenig Kontakt zur Schulwelt pflegt. Die Wirtschaft fordere nonstop, trage aber weit unter ihren Möglichkeiten zum Gelingen bei. Mehr Querverbindungen und Kontaktmöglichkeiten wären von grossem Vorteil. Das allerdings scheint alles andere als einfach: «Die Schulen sind wie ein geschlossener Kreis, es ist sehr schwierig, auf das Bildungssystem Einfluss zu nehmen», meint Zehnder. Diese Erfahrung hat auch der Ex-Geschäftsführer der Hasler Stiftung, Dr. Jaeger, gemacht: «Das Letzte, was die Schulen wollen, ist, dass man ihnen sagt, was sie zu tun haben.»

Wirtschaft versus Bildungswesen

Während im Bildungswesen zwischen dem Stellen der Weichen und den ersten Resultaten durchaus mehrere Jahre vergehen können, denkt und handelt die Wirtschaft meist um ein Vielfaches schneller. «Die
Bereitschaft der Wirtschaft, bei der Ausarbeitung der Lehrpläne mitzuhelfen und Know-how einzubringen, wurde bereits bei der EDK angemeldet», so Prof. Dr. Rudolf Minsch, Chefökonom des Unternehmerverbandes economiesuisse. Die Anforderungen der Wirtschaft an das Bildungssystem liegen klar definiert vor: Auf der obligatorischen Schulstufe sieht die Wirtschaft das Schulkonkordat «HarmoS» als richtigen Schritt. Mit der «Interkantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule» soll die Transparenz und die Messbarkeit des Schulsystems aller 26 Kantone verbessert werden. Daraus sollen vor allem gleiche Möglichkeiten bei gleichen Leistungen resultieren und die Mobilität von Familien erleichtert werden.
Auf der Hochschulstufe sind vergleichende Leistungstests wie «HarmoS» schwierig. Aus diesem Grund wünscht sich Prof. Minsch neue Anreize im Hochschulsystem: «Aktuell haben Hochschulen vor allem den Anreiz, möglichst viele Studierende auszubilden, und berücksichtigen dabei die Anliegen des Arbeitsmarktes zu wenig.» Minsch fordert deshalb höhere Bundessubventionen für arbeitsmarktorientierte Hochschulen. Da aber auch viele Studierende die An-liegen des Arbeitsmarktes zu wenig be-
rücksichtigen, wünscht sich die Wirtschaft, so Minsch, «dass die Leute nach dem Bachelor ins Erwerbsleben geschickt werden und im Zuge des lebenslangen Lernens erst nach ein paar Jahren Arbeitserfahrung den Master anhängen - wenn überhaupt».
Zusätzlich sollen generell höhere Studiengebühren verlangt werden sowie höhere und leistungsorientierte Studiengebühren auf der Masterstufe. Dadurch erhofft sich die economiesuisse, dass die Bildung vermehrt als Investition und weniger als Konsum betrachtet wird.

Mehr Lehrstellen schaffen

Auch wenn die Schweiz momentan einen enormen Zufluss von Topleuten aus dem Ausland erfährt, ist dies auf die Dauer keine Lösung für den Informatikstandort Schweiz. «Nur noch Fachleute vom Ausland würde die Schweiz in eine grosse Abhängigkeit bringen. Zudem wäre das alles andere als förderlich für unsere Bildungsinstitute», weiss auch der Chefökonom Prof. Minsch.
Die Frage, ob die Schweiz in Zukunft nur noch Hochschulabgänger braucht, dementiert Markus Fischer klar: «Die Schweiz ist bekannt für ihr erfolgreiches duales Bildungssystem. Das ist gut so und soll auch weiterhin Bestand haben, denn unser Land braucht nebst Hochschulabsolventinnen und -absolventen auch in Zukunft engagierte Berufstätige in Fach- und Führungsfunktionen, welche die Berufsbildung durchlaufen haben und sich in ihren Berufen ständig weiterbilden.»
Weil Lehrlinge auch die künftigen Fachhochschulstudenten sind, müssen deshalb dringend wieder mehr Lehrstellen geschaffen werden. Trotzdem: Die Lücke, die der Informatikermangel in den vergangenen Jahren verursacht hat, wird die Schweiz wohl noch Jahre beschäftige
Manuela Amrein



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