Kompass für die Digitalisierung

Beschreibung oder Verschreibung?

Mithilfe der folgenden Kriterien (vgl. Grafik 1) kann die Validität eines Reifegradmodells eingeschätzt werden, insbesondere beim Thema der Digitalisierung:
A: Auswahl berücksichtigter Organisationen
Ein Modell wird aufgrund einer beschränkten Anzahl an Erhebungen und Beobachtungen erarbeitet. Vollerhebungen sind dabei nicht praktikabel. Dementsprechend bleiben Lücken offen. Daraus ergeben sich Grenzen zur Bedeutung und Anwendbarkeit des Modells. Die Offensichtlichste: Die ermittelten Vorzeigepraktiken und gewählten Lösungen sind ein lokales und kein absolutes Optimum, das von den Herstellern des Modells erkoren wurde. Es ist durchaus möglich, dass Organisationen, die zuvorderst in der Entwicklung liegen, für die Befragung nicht berücksichtigt wurden. Zum Beispiel, weil man sie womöglich nicht angesprochen hat oder weil sie keine Rückmeldung gegeben haben.
  • Das Optimum wird aufgrund der verfügbaren Datenbasis ermittelt. Dessen Bedeutung und Normativität sollte entsprechend gewichtet werden.
Grafik 1: Die Gültigkeitskriterien für ein Reifegradmodell in der Übersicht
Quelle: Fernfachhochschule Schweiz

B: Anzahl berücksichtigter Organisationen
Man kann sich leicht vorstellen, dass die Digitalisierung unter den befragten Organisationen grosse Unterschiede aufweisen wird. Diese hängt von der zugehörenden Branche, der geografischen Ortung und der betrieblichen Dimension der Unternehmungen ab. Mit einem plakativen Beispiel: Eine Grossbank in den USA und ein Automechaniker in Griechenland werden die digitale Transformation in ganz anderen Ausprägungen benötigen und anwenden können. Gute Modelle achten deshalb auf eine angemessene Verteilung der Organisationen nach diesen (und weiteren) Kriterien für ihre Befragung. Je mehr Kategorien gebildet werden, desto kleiner ist die Verteilung der Unternehmungen auf die jeweiligen Kategorien und dementsprechend geringer ist die Aussagekraft der Erhebungen (siehe Punkt A) zugleich. Grossangelegte Befragungen
versuchen, beiden Aspekten gerecht zu werden, sind aber seltener und schwieriger durchzuführen.
  • Je differenzierter die Modelle, desto relevanter die Aussagen, die für einzelne Unternehmungen aus dem Modell gewonnen werden, vorausgesetzt, es wurde eine aus­reichende Anzahl von Organisationen für die relevanten Kategorien befragt.
C: Relevanz für den Wettbewerbsvorteil
Angenommen, Menge und Verteilung der befragten Organisationen sichern eine ausreichende Verlässlichkeit der Ergebnisse, dann bleibt dennoch die Möglichkeit einer gewissen Verzerrung bestehen. Wenn nämlich eine Lösung der Unternehmung einen Wettbewerbsvorteil beschert, wäre denkbar, dass die Geschäftsleitung kein besonderes Interesse hätte, sie ohne Weiteres preiszugeben. Falls sie dies trotzdem tun würde, dann eher in einer generischen Form, die weniger verrät, als man brauchen würde, um eine ähnliche Position anzustreben. Andersherum lassen sich unternehmensspezifische Ansätze, die tatsächlich einem Wettbewerbsvorteil zugrunde liegen, kaum isoliert extrapolieren und andernorts einpfropfen.
  • Die Erkenntnisse aus einer fachgerecht geführten Befragung können nützliche Anregungen für die Weiter­entwicklung einer Unternehmung liefern, auch über die Grenzen einer Branche hinaus, und die Wahl einer Stossrichtung bestärken. Dazu eignen sich Reifegradmodelle gut. Mehr darf man von ihnen aber nicht erwarten.
«Was» digitalisiert wird, soll in der Praxis wohl überlegt sein, sagt Andrea L. Sablone von der FFHS
Quelle: Shutterstock/everything possible

D: Branchenspezifität
Reifegradmodellen liegen die Wertvorstellungen und auch die berechtigten Interessen der Autoren zugrunde. Das soll beschreibend und nicht wertend verstanden werden. Diese Überzeugungen können vor der Datenerhebung bestehen oder aufgrund der erhobenen Daten angepasst oder erst im Prozess entstehen. Es wäre angebracht, sie offenzulegen. Allerdings ist man sich dessen nicht immer bewusst. Es liegt in der Verantwortung der Nutzer des Modells, die Empfehlungen kritisch zu betrachten und die Stimmigkeit der Aussagen mit den eigenen Überzeugungen der angestrebten Unternehmenskultur und nicht zuletzt dem Geschäftsmodell zu prüfen.
Mit Beispielen ausgedrückt: Wenn ein Reifegradmodell eine partizipative Führung, eine dezentrale Organisationsstruktur oder auch schon nur Digitalisierung allgemein als etwas übergeordnet Gutes postuliert, dürfte dies der Anwender nicht als rein faktenbasierte Haltungen betrachten, sondern als Ausdruck der Wertvorstellungen und der Interessen der Autoren. Man kann ihnen zustimmen oder sie bewusst und begründet ablehnen. Hauptsache, man übernimmt sie nicht akritisch.
  • Die Entscheidungstragenden tun gut daran, wenn sie sich kritisch mit den Empfehlungen der Reifegradmodelle auseinandersetzen und prüfen, ob diese ihren Überzeugungen, Wertvorstellungen und Interessen entsprechen. Zudem sollten sie analysieren, inwieweit sie sich für das Geschäftsmodell der Unternehmung eignen.



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