Nutzen und Grenzen von Reifegradmodellen 15.11.2021, 06:21 Uhr

Kompass für die Digitalisierung

Reifegradmodelle sind weitverbreitete konzeptionelle Werkzeuge zur Orientierung im Umgang mit der digitalen Transformation. Der Einsatz will jedoch gekonnt sein. Wir zeigen Nutzen und Grenzen auf und erklären, wie es sie anzuwenden gilt.
Ein Reifegradmodell kann Firmen auf dem Weg zur digitalen Transformation als nützliche Orientierungshilfe dienen
(Quelle: Shutterstock/Sashkin)
Der richtige Umgang mit der Digitalisierung stellt sowohl in der Praxis als auch konzeptionell eine Herausforderung dar. Wo soll eine Unternehmung ansetzen, welche Ziele gilt es zu verfolgen, sind Fehlinvestitionen notwendiges Lehrgeld oder vermeidbare Schritte? Fragen wie diese beschäftigen Unternehmensleitende, Beratende und Forschende zugleich. Unter den verschiedenen Ansätzen, die zur Orientierung entwickelt wurden, findet man Reifegradmodelle.

Zwischen Biologie und Wirtschaft

Das Konzept der Reife hat einen festen Platz in der Betriebswirtschaftslehre errungen. Es steht in Zusammenhang mit dem breiteren Ansatz des Lebenszyklus. Wie Letzterer entstammt auch das Konzept der Reife der Biologie und beschreibt eine Phase unter verschiedenen, welche die Lebewesen während ihrer Existenz durchlaufen. Die Wirtschaftswissenschaften bedienen sich dessen als Analogie, um die zeitliche Abfolge der Entstehung, Entwicklung und des möglichen Verschwindens eines Produkts – aber auch einer gesamten Organisation – zu beschreiben. Da diese Analogie mit den unmittelbaren Erfahrungen eines jeden Menschen einhergeht, ist sie besonders einprägsam und eignet sich als Kommunikationsbasis.
Im Allgemeinen begünstigen Analogien das Verständnis eines sonst schwer zugänglichen Sachverhalts. Sie sind aber nicht uneingeschränkt anwendbar. Denn es bestehen nach wie vor fundamentale Unterschiede zwischen dem Objekt der Analogie und dem Sachverhalt, auf den diese angewendet wird. Gehen wir also auf die Grenzen der Reifegradmodelle ein, um deren ausgeglichene Anwendung zu fördern.

Vom Anfangszustand zur Entfaltung

Im Konzept der Reife wohnt die Vorstellung einer erforderlichen Entwicklung inne, ausgehend von einem unvollkommenen Anfangszustand über Zwischenstadien bis hin zur vollständigen Entfaltung der Potenziale. Der zur Reife führende Prozess ist in der DNA eines jeden Lebewesens kodiert. Die Ergebnisse mögen variieren, bleiben aber meistens innerhalb einer überschaubaren Spannbreite. Diese Regelmässigkeit hat zur Folge, dass ein externer Beobachter eine begründete Vorstellung des reifen Zustands einer bestimmten Spezies haben kann. Ob ein Lebewesen seine vollständige Reife überhaupt erreicht, hängt von zahlreichen Faktoren ab, wovon sich viele ausserhalb seiner Kontrolle befinden. Zum Beispiel, ob es genug Nahrung bekommt, ob es Widerständen begegnet, angegriffen oder beschützt wird.

Unberechenbare Geschäftswelt

Wie schon diese knappen Hinweise erahnen lassen, bestehen durchaus Parallelen zwischen dem Lebenszyklus biologischer Organismen und demjenigen sozialer Organisationen und deren Erzeugnisse. Ein wichtiger Unterschied betrifft die Reifephase: Wie diese aussehen wird oder soll, lässt sich nicht mit ähnlicher Gewissheit voraussagen wie bei biologischen Organismen. Der Hauptgrund liegt in der Fähigkeit der Menschen, neue Möglichkeiten zu erschlies­sen, die sich manchmal zur Überraschung der externen Beobachter bewähren. Diese Fähigkeit zur Innovation wurde insbesondere bei Joseph Schumpeter im letzten Jahrhundert thematisiert und zur Grundlage des wirtschaft­lichen Fortschritts erklärt. Etablierte Zustände in Märkten, Organisationen, Produkten und Prozessen werden durch neuere Lösungen ersetzt, insbesondere technologischer Art. Zugegeben erreichen manche den Markt nicht und nicht selten wird erst im Verlauf der Entwicklung das eigentlich zu erreichende Ziel erkannt. Dieser Prozess hört nicht auf, denn solange Handlungsfreiheit besteht, erfinden Menschen Neues und Unvorhergesehenes.

Beschreibung oder Verschreibung?

Mithilfe der folgenden Kriterien (vgl. Grafik 1) kann die Validität eines Reifegradmodells eingeschätzt werden, insbesondere beim Thema der Digitalisierung:
A: Auswahl berücksichtigter Organisationen
Ein Modell wird aufgrund einer beschränkten Anzahl an Erhebungen und Beobachtungen erarbeitet. Vollerhebungen sind dabei nicht praktikabel. Dementsprechend bleiben Lücken offen. Daraus ergeben sich Grenzen zur Bedeutung und Anwendbarkeit des Modells. Die Offensichtlichste: Die ermittelten Vorzeigepraktiken und gewählten Lösungen sind ein lokales und kein absolutes Optimum, das von den Herstellern des Modells erkoren wurde. Es ist durchaus möglich, dass Organisationen, die zuvorderst in der Entwicklung liegen, für die Befragung nicht berücksichtigt wurden. Zum Beispiel, weil man sie womöglich nicht angesprochen hat oder weil sie keine Rückmeldung gegeben haben.
  • Das Optimum wird aufgrund der verfügbaren Datenbasis ermittelt. Dessen Bedeutung und Normativität sollte entsprechend gewichtet werden.
Grafik 1: Die Gültigkeitskriterien für ein Reifegradmodell in der Übersicht
Quelle: Fernfachhochschule Schweiz

B: Anzahl berücksichtigter Organisationen
Man kann sich leicht vorstellen, dass die Digitalisierung unter den befragten Organisationen grosse Unterschiede aufweisen wird. Diese hängt von der zugehörenden Branche, der geografischen Ortung und der betrieblichen Dimension der Unternehmungen ab. Mit einem plakativen Beispiel: Eine Grossbank in den USA und ein Automechaniker in Griechenland werden die digitale Transformation in ganz anderen Ausprägungen benötigen und anwenden können. Gute Modelle achten deshalb auf eine angemessene Verteilung der Organisationen nach diesen (und weiteren) Kriterien für ihre Befragung. Je mehr Kategorien gebildet werden, desto kleiner ist die Verteilung der Unternehmungen auf die jeweiligen Kategorien und dementsprechend geringer ist die Aussagekraft der Erhebungen (siehe Punkt A) zugleich. Grossangelegte Befragungen
versuchen, beiden Aspekten gerecht zu werden, sind aber seltener und schwieriger durchzuführen.
  • Je differenzierter die Modelle, desto relevanter die Aussagen, die für einzelne Unternehmungen aus dem Modell gewonnen werden, vorausgesetzt, es wurde eine aus­reichende Anzahl von Organisationen für die relevanten Kategorien befragt.
C: Relevanz für den Wettbewerbsvorteil
Angenommen, Menge und Verteilung der befragten Organisationen sichern eine ausreichende Verlässlichkeit der Ergebnisse, dann bleibt dennoch die Möglichkeit einer gewissen Verzerrung bestehen. Wenn nämlich eine Lösung der Unternehmung einen Wettbewerbsvorteil beschert, wäre denkbar, dass die Geschäftsleitung kein besonderes Interesse hätte, sie ohne Weiteres preiszugeben. Falls sie dies trotzdem tun würde, dann eher in einer generischen Form, die weniger verrät, als man brauchen würde, um eine ähnliche Position anzustreben. Andersherum lassen sich unternehmensspezifische Ansätze, die tatsächlich einem Wettbewerbsvorteil zugrunde liegen, kaum isoliert extrapolieren und andernorts einpfropfen.
  • Die Erkenntnisse aus einer fachgerecht geführten Befragung können nützliche Anregungen für die Weiter­entwicklung einer Unternehmung liefern, auch über die Grenzen einer Branche hinaus, und die Wahl einer Stossrichtung bestärken. Dazu eignen sich Reifegradmodelle gut. Mehr darf man von ihnen aber nicht erwarten.
«Was» digitalisiert wird, soll in der Praxis wohl überlegt sein, sagt Andrea L. Sablone von der FFHS
Quelle: Shutterstock/everything possible

D: Branchenspezifität
Reifegradmodellen liegen die Wertvorstellungen und auch die berechtigten Interessen der Autoren zugrunde. Das soll beschreibend und nicht wertend verstanden werden. Diese Überzeugungen können vor der Datenerhebung bestehen oder aufgrund der erhobenen Daten angepasst oder erst im Prozess entstehen. Es wäre angebracht, sie offenzulegen. Allerdings ist man sich dessen nicht immer bewusst. Es liegt in der Verantwortung der Nutzer des Modells, die Empfehlungen kritisch zu betrachten und die Stimmigkeit der Aussagen mit den eigenen Überzeugungen der angestrebten Unternehmenskultur und nicht zuletzt dem Geschäftsmodell zu prüfen.
Mit Beispielen ausgedrückt: Wenn ein Reifegradmodell eine partizipative Führung, eine dezentrale Organisationsstruktur oder auch schon nur Digitalisierung allgemein als etwas übergeordnet Gutes postuliert, dürfte dies der Anwender nicht als rein faktenbasierte Haltungen betrachten, sondern als Ausdruck der Wertvorstellungen und der Interessen der Autoren. Man kann ihnen zustimmen oder sie bewusst und begründet ablehnen. Hauptsache, man übernimmt sie nicht akritisch.
  • Die Entscheidungstragenden tun gut daran, wenn sie sich kritisch mit den Empfehlungen der Reifegradmodelle auseinandersetzen und prüfen, ob diese ihren Überzeugungen, Wertvorstellungen und Interessen entsprechen. Zudem sollten sie analysieren, inwieweit sie sich für das Geschäftsmodell der Unternehmung eignen.

Der passende Einsatzbereich

In seinen Ausführungen zur Unternehmensstrategie hat Michael Porter schon vor Jahren Firmen darauf hingewiesen, sich an den Vorgehensweisen der Branchenbesten zu orientieren, ohne dabei das Bewusstsein zu verlieren, dass sie dadurch zu Nachahmern werden. Zwar darf man nicht ausschliessen, dass die Nachahmer im Laufe der Zeit die Originale überholen – allerdings erst, wenn sie über das hinausgehen, was ihre Vorbilder ihnen vorgemacht haben, und unter der Voraussetzung, dass die Vorreiter ihren Vorsprung nicht zu verteidigen und auszubauen vermögen.
Grafik 2: Wofür sich ein Reifegradmodell eignet
Quelle: Fernfachhochschule Schweiz
Dasselbe gilt für Reifegradmodelle (vgl. Grafik 2). Die Bereitschaft, von anderen zu lernen und sich dadurch zu verbessern, ist eine Kerneigenschaft entwicklungsfähiger Organisationen und deren erfolgreichen Leitenden. Es bleibt aber unwahrscheinlich, wenn nicht schlichtweg unmöglich, eine Spitzenposition aufgrund dessen zu erreichen.

Fazit

Die Aussage, dass eine Unternehmung «anders als alle anderen» ist, kann entweder Ausdruck eines bewusst gewählten «Sonderwegs» sein, der vom Markt seine letztendliche Bestätigung erhält, oder es kann ein Deckmantel für Bequemlichkeit und fehlende Wandelbereitschaft sein. Keine Geschäftsleitung soll jedem Trend zuvorkommen und noch weniger hinterherrennen. «Was» digitalisiert werden soll, ist wesentlich wichtiger, als überhaupt zu digitalisieren. Deswegen ist die innerliche Kohärenz eines Geschäftsmodells und ihre Bestätigung durch den Markt der ultimative Nachweis, dass man als Unternehmer richtigliegt.
Der Autor
Andrea L. Sablone
ist Professor für Strategie und Innovationsmanagement in KMU an der Fernfachhochschule Schweiz. Am Institut für Management & Innovation der FFHS leitet er zudem das Forschungsfeld «Innovation & Strategy». www.ffhs.ch



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