Patrick Naef über CIOs 02.07.2021, 08:00 Uhr

«Digitale Transformation bricht Hierarchien auf»

Traditionell gewachsene und gepflegte Unternehmenshierarchien vertragen sich nicht mit dem Netzwerk-Ansatz der digitalen Transformation, sagt Ex-CIO Patrick Naef im Interview.
Patrick Naef ist heute unter anderem als Personalberater bei Boyden Switzerland tätig
(Quelle: Emirates)
Eine der Hauptursachen für das Scheitern von Projekten zur digitalen Transformation sind mitunter zu starre Unternehmenshierarchien. Die Projekte sind nur dann erfolgreich, wenn sie alle Ressourcen innerhalb eines Betriebes unbeschränkt nutzen können. Diese Meinung vertritt der Digitalisierungsberater Patrick Naef. Im Interview erklärt er, wie CIOs sich optimal im Unternehmen positionieren können, um mit den in der Informatik längst präsenten Methoden die Transformationsprojekte zum Erfolg zu führen.
Computerworld: Sie proklamieren, dass Hierarchien nicht mehr zeitgemäss sind. Allerdings sind vergangene Generationen gut damit gefahren.
Patrick Naef: Stimmt. Denn die meisten CIOs grösserer Unternehmen sind wahrscheinlich zwischen 40 und 60 Jahre alt. Schliesslich braucht es Zeit, um in hierarchischen Organisationen durch die Ränge aufzusteigen und eine C-Level-Führungskraft zu werden. Diese CIOs gingen hauptsächlich in den 1970er und 1980er Jahren zur Schule, als sie von Lehrern vornehmlich aus den 1940er Jahren mit Lehrmaterial aus den 1950er Jahren unterrichtet wurden. Unsere Schulzeit hat einen immensen Einfluss auf unsere Ansichten, Überzeugungen und Werte und prägt uns für den Rest unseres Lebens. Diese CIOs studierten noch im vergangenen Jahrtausend, als der Unterricht stark von den Methoden und Überzeugungen des Industriezeitalters beeinflusst wurde.
CW: Auch hier herrschten Hierarchien vor.
Naef: Natürlich. Während des Industriezeitalters war die vorherrschende Organisationsform die hierarchische Struktur, die von militärischen Organisationen übernommen wurde und deren Grundprinzip darin bestand, das «Denken» vom «Tun» zu trennen. Die einzelnen Aufgaben, die den Arbeitnehmern zugewiesen wurden, waren klar voneinander getrennt, so dass jeder Arbeitnehmer genau wusste, was er zu tun hatte und wie seine Leistung gemessen würde. Informationen wurden nur auf einer Need-to-know-Basis ausgetauscht, was bedeutet, dass die meisten Mitarbeitenden nur sehr wenige Informationen darüber hatten, was in anderen Teilen des Unternehmens vor sich ging.
Manager behielten Informationen für sich, denn Wissen entsprach Macht. Je höher Sie in der Firma aufgestiegen waren, desto mehr Informationen standen Ihnen zur Verfügung, aber sie mussten oder wollten sie geheim halten. Dies war auch eines der wichtigen Prinzipien des Taylorismus mit seinem Fokus auf Aufgabentrennung, extremer Spezialisierung und Messbarkeit. Im Wesentlichen wurden hierarchische Strukturen eingeführt, um die Menschen zu trennen. Da unsere Ausbildung hauptsächlich von den Paradigmen des Industriezeitalters und des Taylorismus dominiert wurde, der damals allgemein akzeptiert war, wurde der Grossteil der Generation der heutigen CIOs entsprechend konditioniert.
Zur Person
Patrick Naef
war von 2006 bis 2018 der Konzern-CIO der Fluggesellschaft Emirates in Dubai. 2011 wurde er von den Lesern des deutschen Magazins «CIO» zum «CIO der Dekade» gewählt. Zuvor amtete der Schweizer als CIO bei SIG sowie Swissair und hatte Führungspositionen bei der Zurich Versicherung, HP und Bank Julius Bär inne. Heute begleitet Naef Organisationen bei der digitalen Transformation, unterstützt Geschäftsleitungen bei IT-Themen und coacht IT-Führungskräfte und Start-ups. Er ist Managing Partner bei der Executive-Search-Firma Boyden in Zürich sowie Partner bei Acent in Deutschland und sitzt im Verwaltungsrat der Firmen Franke und Upgreat.

«Hauptgrund für das Scheitern der digitalen Transformation»

CW: Sollten die älteren CIOs bestenfalls einfach in Pension gehen? Dann wäre zumindest schon mal die IT die Hierarchien los. Der Rest des Unternehmens allerdings vermutlich nicht.
Naef: Das wäre auch zu viel verlangt und nicht zielführend. Allerdings sollten die CIOs vorbereitet sein für eine jüngere Generation, die im digitalen Zeitalter aufgewachsen ist und ausgebildet wurde.
Lassen Sie mich ein plakatives Beispiel nennen: Wenn ich meine Tochter bei den Hausaufgaben beobachte, wird mir klar, wie vollkommen anders sie an die Aufgaben heran geht als ich damals. Während meiner Schulzeit in den 1970er und 1980er Jahren habe ich meine Hausaufgaben vor anderen verborgen, weil ich besser sein wollte als meine Klassenkameraden. Das Umfeld war wettbewerbsorientiert; das vorherrschende Paradigma war: «Je mehr ich weiss und für mich behalte, desto besser bin ich im Vergleich zu meinen Klassenkameraden, so dass ich sie schlagen kann.» Eben: Wissen ist Macht.
CW: Wie macht Ihre Tochter die Hausaufgaben?
Naef: Sie arbeitet an einem Thema, erstellt einen ersten Entwurf (sozusagen einen «MVP») und veröffentlicht ihn dann über Instagram, ihre WhatsApp-Gruppe oder ein anderes Social-Media-Tool für ihre Klassenkameraden. Innerhalb weniger Stunden wird ein grosser Teil ihrer Klassenkameraden den MVP in mehreren Iterationen erweitert oder verbessert haben und diesen dann wiederum mit Hilfe von Social Media weitergeteilt haben, bis ein Reifegrad und eine Qualität erreicht ist, die keiner der Schüler einzeln in so kurzer Zeit je hätte erreichen können.
Die jüngere Generation macht ihre Hausaufgaben sozusagen durch Crowd Sourcing, etwas, das es zu meiner Schulzeit noch nicht gab. Diese Generation wächst in einer Welt auf, die durch Crowd Sourcing und Crowdfunding, Open Source, Sharing Economy und durch Wikipedia, usw. gekennzeichnet ist. Ihre Denkweise lautet: «Je mehr ich teile, desto mehr profitiert mein Netzwerk und damit wir alle, einschliesslich mir selbst.» Dies ist ein komplett andersartiges und sehr viel mächtigeres Paradigma als das «Wissen ist Macht»-Paradigma, mit dem ich und wahrscheinlich die meisten von ihnen aufgewachsen sind.
CW: Diese Ansätze dürften zu den meisten Unternehmensorganisationen allerdings nicht kompatibel sein.
Naef: Da stimme ich Ihnen zu. Denn der Gegenstand der digitalen Transformation ist, neue technologiegetriebene Geschäftsmodelle zu erforschen. Das läuft den gut etablierten hierarchischen Organisationssilos zuwider, die noch immer die meisten unserer heutigen Grossunternehmen dominieren.
Dies ist einer der Hauptgründe für das Scheitern von Initiativen zur digitalen Transformation: Manager an der Spitze des Unternehmens wollen ihre Silos, ihre Macht und ihren Einfluss bewahren, die sie über so viele Jahre mühsam aufgebaut und gefestigt haben. Allerdings durchbricht die Digitalisierung und Virtualisierung physischer Produkte innerhalb der aktuellen Geschäftsmodelle und -prozesse ebenfalls die organisatorischen Silos und stellt viele etablierte Arbeitsplätze, Funktionen, Organisationseinheiten und Rollen in Frage.

«Eine grosse Chance für CIOs»

CW: Was muss sich ändern?
Naef: Das digitale Zeitalter verlangt nach einer anderen Art der Organisation und Strukturierung von Unternehmen und nach neuen Regeln der Zusammenarbeit. Nicht in erster Linie hierarchische Strukturen, Berichtslinien, die Grösse des Budgets, die Anzahl der gemanagten Mitarbeitenden sind entscheidend. Vielmehr geht es um den Mehrwert, den man einbringt, und die Wirkung (Impact), die man damit erzielen kann, unabhängig davon, wessen Ressourcen im Unternehmen dazu beitragen. Relevant sind nicht individuelle Ziele, sondern der Beitrag zum Zweck (Purpose) und den Zielen des Unternehmens. Sie sind oft nicht nur finanzieller Natur, sondern zunehmend eine kombinierte «Triple Bottom Line» darstellen, die aus finanziellen, ökologischen und sozialen Beiträgen bestehen.
CW: Welchen konkreten Rat haben Sie für die Unternehmensentscheider?
Naef: Wenn Unternehmen im digitalen oder Netzwerk-Zeitalter erfolgreich sein wollen, müssen sie selbst zu Netzwerken werden und von rein hierarchischen Strukturen wegkommen. Wenn sie junge Talente anziehen und halten wollen, müssen sie ihnen einen Zweck (Purpose), ein Umfeld und eine Unternehmenskultur bieten, die ihren Werten entsprechen und mit denen sie sich identifizieren können. Dazu passt wahrscheinlich das Sharing-Paradigma von Netzwerken besser, als die hierarchischen Strukturen und Paradigmen des Taylorismus und des Industriezeitalters.
CW: Welche Rolle kann oder soll der CIO spielen?
Naef: Die Technologie-Kompetenz ist zunehmend in den Unternehmen verteilt und nicht mehr ausschliesslich in einer zentralisierten IT-Organisation konzentriert. CIOs können den Weg zu einem neuen Paradigma für ihre Unternehmen weisen, da eine solche Arbeitsweise in der IT mit agilen Methoden, Crowd Sourcing, DevOps, iterativer Produktentwicklung, Open Source usw. bereits gut etabliert ist. Dies ist eine grosse Chance für CIOs, ihre Unternehmen beim Übergang ins digitale Zeitalter zu unterstützen.
Zur Serie
Die künftige Rolle des CIO
Im Interview äussert Patrick Naef prägnant seine Meinung über aktuelle und künftige Herausforderungen der IT. Für Computerworld skizziert er die künftige Rolle des CIO. Die Beiträge zu Themen wie Digital Leadership, den Mehrwert von IT, Open Innovation und die Virtualisierung des Geschäfts sind in regelmässigen Abständen auf www.computerworld.ch zu lesen.
Bisherige Artikel:
Patrick Naef: «Digitale Transformation bricht Hierarchien auf» (dieser Beitrag)




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