Alan Hippe über IT-Innovation, die Pandemic Squad und die Life-Sciences-Zukunft

Durchbruch bei der personalisierten Medizin und das elektronische Patientendossier (EPD)

Quelle: Lucia Hunziker/Roche
CW: Die Covid-19-Forschung hat neue Wege aufgezeigt, etwa in der Diagnostik. Inwieweit kann Covid-19 die Digitalisierung im Healthcare-Markt beschleunigen?
Hippe: Wir haben alle gesehen, dass gerade Länder, die kein so gutes Testing Equipment hatten und keine so gute Diagnostika-Infrastruktur, sich schwergetan haben. Die Entwicklung wird natürlich bewirken, dass mehr getestet wird. Das bedeutet aber auch, es entstehen mehr diagnostische Daten, die man auswerten kann. Dieses Momentum gilt es zu nutzen, sodass wir auf Basis von Daten Patienten noch zielgerichteter und individueller behandeln können als heute. Wir werden mit Daten Leben retten.
CW: Welche Vorteile könnten sich durch Insights in Daten für die personalisierte Medizin ergeben?
Hippe: Patienten können nicht nur zielgerichtet, sondern auch besser behandelt werden. Im Endeffekt spart das Kosten im Gesundheitssystem, denn es wird an der Stelle Geld ausgegeben wird, wo es auch für Patienten einen Unterschied macht.
CW: Wie zeigen sich diese individuellen Unterschiede in der Behandlung?
Hippe: Es gibt z. B immer mehr hochspezialisierte Medikamente, die auf ganz spezielle Mutationen ausgerichtet sind. Aber um die einzusetzen, muss man die Mutationen auch kennen und muss wissen, dass der Patient diese hat. Um das festzustellen, muss man zunächst die entsprechenden Genabschnitte sequenzieren. Das wird nicht nur in der Onkologie so sein. Ich denke, das ist auch durchaus vorstellbar in Bereichen wie zentrales Nervensystem oder Kardiologie.
CW: Die personalisierte Medizin ist ja nun doch schon seit rund zwei Dekaden ein Thema und ein wichtiger Treiber der Life Sciences. Wo stehen wir heute?
Hippe: Ich glaube, dass wir da vor einem Durchbruch stehen. Aber es ist eben auch klar, dass noch mehr Daten gebraucht werden. Das heisst nicht, dass die Daten nicht vorhanden sind, aber die Daten können nur schwer zusammengeführt werden. Hier wollen wir mit dem Roche Science Network zunächst intern Abhilfe schaffen, wo wir wissenschaftliche und Gesundheitsdaten, die in der Roche schon existieren, zusammenführen. Ich denke, das ist auch eine Grundsatzfrage im Gesundheitswesen. Wie können Daten standardisiert in Data Lakes eingebracht werden, sodass man sie zum Wohle der Patienten optimal analysieren und auswerten kann.
CW: Ich höre bereits die Datenschützer Luft holen ...
Hippe: Wir sind heute sehr wohl in der Lage, Daten derart zu anonymisieren, dass die Identität der individuellen Person, die dahintersteht, nicht nachvollziehbar ist. Ich glaube, das ist ganz wichtig! Wenn wir beispielsweise heute Daten hätten über zehn Jahre von allen Patienten, die mit Avastin behandelt worden sind, und wie bestimmte Subgruppen mit bestimmten Mutationen darauf reagiert haben, wären wir in der Krebsforschung eventuell ein ganzes Stück weiter als heute.
“Wir sind heute sehr wohl in der Lage, Daten derart zu anonymisieren, dass die Identität der individuellen Person, die dahintersteht, nicht nachvollziehbar ist. Ich glaube, das ist ganz wichtig!„
Alan Hippe
CW: Wenn man die Entwicklung weiterdenkt, müsste doch eigentlich Roche ebenfalls Teilnehmer des elektronischen Patientendossiers werden, oder nicht?
Hippe: Naja, wir machen das ja zum Teil heute schon. Über unser US-Tochterunternehmen Flatiron beispielsweise, das Hospitäler in den USA mit Electronic Medical Records ausrüstet, also mit elektronischen Patientendossiers. Flatiron bereitet die unstrukturierten Daten auf, anonymisiert und analysiert sie, sodass die Daten auswertbar sind. Das ist derzeit Ausdruck dessen, was in den USA passiert und auch hoffentlich flächendeckend standardisiert in Europa.
CW: Aber diesbezüglich sind wir in der Schweiz ja noch immer in der Diskussion. Inwieweit sind Sie hier in der schweizweiten Diskussionen als Roche involviert?
Hippe: Wir sind in die landesweiten Diskussionen involviert und sind auch mit Pilotprojekten dabei. Auch beim Zusammenfassen von Daten zwischen Spitälern, weil natürlich diese Real-World-Daten in der Tat für Patienten grosse Unterschiede machen können. Aber die Datensammlung muss auch moralisch vertretbar sein.
CW: Nun ist aber momentan dem elektronischen Patientendossier eher die Luft aus den Segeln genommen worden. Vielmehr herrscht sogar Gegenwind. Wie bewerten Sie die Entwicklung?
Hippe: Ich denke, Covid-19 wird uns vieles lehren. Wir werden als Gesellschaft erkennen, welche Chancen im elektronischen Patientendossier für den Einzelnen liegen. Natürlich kann man immer Befürchtungen und Sorgen haben. Doch man muss auch die riesige Chance sehen. Um diese zu ergreifen, sind übergreifende Lösungen zwischen Technologie und kumulierten Daten notwendig.
“Covid-19 wird uns vieles lehren. Wir werden als Gesellschaft erkennen, welche Chancen im elektronischen Patientendossier für den Einzelnen liegen„
Alan Hippe, Roche
CW: Wenn sich Pharmafirmen zu Tech-Companies entwickeln, die datengetrieben Produkte und neuartige technische Lösungen entwickeln, inwieweit werden dann Google und Co., die ja ebenfalls an Lösungen im Healthcare-Bereich arbeiten, zu ihren Mitbewerbern?
Hippe: Das ist eine interessante Frage, mit der wir uns natürlich beschäftigt haben. Letztlich sind unsere Ansätze aber komplementär. Wir beziehen beispielsweise Daten von Google, die wir gut gebrauchen können. Umgekehrt stellen auch wir Daten zur Verfügung. Wir schätzen die technischen Fähigkeiten, die Google hat. Daher würde ich Technologiefirmen wie Google, AWS oder Microsoft eher als Enabler charakterisieren denn als Wettbewerber.
CW: Sie weisen den Wettbewerb mit Google und Co. aber nicht völlig von der Hand.
Hippe: Das nicht, aber es ist relativ schwer, das tiefe und umfangreiche biologische Know-how, das wir haben, neu zu generieren. Natürlich kann man versuchen, sehr viele Ärzte anzuheuern, um sich dieses Fachwissen zu erarbeiten. Allerdings haben wir einen massiven Vorsprung.
CW: Können Sie diesen Vorsprung beziffern?
Hippe: Wir investieren jedes Jahr über 12 Milliarden Schweizer Franken in Forschung und Entwicklung. Das zeigt auch, wie stark unser Streben nach Innovation ausgeprägt ist. Ich denke, das ist relativ schwer zu replizieren.
CW: Sie haben vorhin gesagt, Sie geben über 3 Milliarden Schweizer Franken für IT aus. Wie viel von diesem Budget fliesst in die IT-Forschung?
Hippe: Das ist ein erheblicher Teil und wichtig, da wir im Tech-Bereich die Freiheit haben zu experimentieren. Wir kaufen Technologien ein und testen diese in Pilotprojekten. Wenn wir dann der Meinung sind, dass uns eine getestete Technik hilft, dann führen wir sie in der Breite ein. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Wenn wir ein innovatives Produkt auf der Software-Seite entwickeln und testen, dann wissen wir noch nicht, wie gut sich das Produkt anschliessend am Markt etablieren wird. Hier arbeiten wir ähnlich iterativ wie Tech-Unternehmen, aber auch vergleichbar mit den Prozessen unserer pharmazeutischen Produktentwicklung. In der Diagnostik können wir zielgerichteter vorgehen. Wenn wir hier etwas entwickeln, geht es in aller Regel auch in den Markt. Aber in der Pharma ist das anders. Entweder haben wir ein Medikament, dann ist es toll, oder wir haben es eben nicht. Es gibt nichts dazwischen, das ist sozusagen binär.



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