Red-Hat-CEO 27.01.2017, 14:27 Uhr

«Starre Struktur behindert Innovation»

Die Linux-Firma Red Hat ist aus der Open-Source-Community entstanden. CEO Jim Whitehurst findet, dass sein Unternehmen für Schweizer Konzerne ein Vorbild sein könnte.
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Für das digitale Geschäft der Zukunft sind Innovationen nötig. Red Hat setzt auf die Zusammenarbeit mit der globalen Open-Source-Community und lockere, dezentrale Strukturen. CEO Jim Whitehurst und Country Manager Leonard Bodmer finden, das funktioniere so gut, dass ihr Unternehmen ein Vorbild für viele Schweizer Firmen sein könnte.
Computerworld: Sie beschreiben in einem neuen Buch Red Hat als ein Vorbild für eine offene Organisation. Warum sollen sich Manager Ihr Unternehmen als Beispiel nehmen?
Jim Whitehurst: Ich bin kein Management-Guru oder so etwas. Die Gründe für das Buch liegen in meiner persönlichen Historie. Meine Karriere begann ich bei Boston Consulting. Anschliessend wechselte ich zu Delta Airlines. Als Chief Operation Officer dort war ich an der Abwehr des Übernahmeversuchs von US Airways beteiligt. Während dieser Phase lernte ich viel über Führung und Organisation in traditionell gewachsenen Unternehmen. Seit 2008 amte ich nun als CEO von Red Hat.
Der Unterschied hätte nicht grösser sein können: Ich wechselte aus einer der am starrsten strukturierten Organisationen – der Fluggesellschaft – hin zu einer total chaotischen Firma. Zuerst hatte ich den Verdacht, dass ich zum Aufräumen zu Red Hat geholt wurde. Dem war aber nicht so. Denn ich lernte schnell, dass die Arbeitsweise von Red Hat sehr viel Innovation hervorbringt. Viele Manager klagen heute über den Mangel an Innovation in ihren Unternehmen. Durch den Wechsel von einem Extrem ins andere habe ich gelernt, dass insbesondere starre Strukturen innerhalb von Organisationen die Innovationsfähigkeit massiv behindern. Ideen müssen in die Strukturen passen, sonst kommen sie gar nicht an die Oberfläche. In dem Buch beschreibe ich, wie Red Hat nahezu ganz ohne Strukturen die Innovation managed.
Haben Sie Strukturen von Delta mit hin zu Red Hat genommen und implementiert?
Mein erster Eindruck war, dass die Kollegen sehr engagiert waren und sich Open Source voll und ganz verschrieben hatten. Weil Open Source aber so vielfältig ist, fehlte den Meisten eine klare Zielvorgabe.  Gemeinsam mit dem Management-Team begann ich, eine Vision für die Angestellten zu entwickeln. Ihre tägliche Arbeit sollte sich widerspiegeln in den Zielen des Unternehmens. In einem für alle Mitarbeiter offenen Prozess schrieben wir auf einem einzigen Blatt Papier nieder, welche Themen in den nächsten Jahren bearbeitet werden sollten. Bei dieser Strategie-Agenda haben wir damals (2008) einen sehr guten Job gemacht, denn sie hatte fast vier Jahre Bestand. Trotz des grossen technologischen Fortschritts mit Containern, OpenStack und Virtualisierung mussten wir erst 2012 neue strategische Ziele definieren. Mittlerweile sind wir bei der dritten Überarbeitung angekommen.

Innovation von unten

Welche Themen haben Sie auf die Strategie-Agenda in diesem Jahr aufgenommen?
Eine Ergänzung in diesem Jahr war der veränderte Umgang mit Applikationen. Heute werden Applikationen in Container gepackt oder als Microservice geliefert. Wir benötigen Plattformen für die Bereitstellung von Applikationen auf die eine und die andere Art.  Ein weiteres Thema ist der Bedarf nach einer flexiblen und hybriden Enterprise-IT. Firmen wollen die Wahl haben, auf welchen Plattformen sie ihre Systeme betreiben. Typischerweise werden Legacy-Applikationen inhouse behalten und bestenfalls virtualisiert. Andere Systeme werden in einer Private Cloud gehostet, die oftmals aber nicht viel mehr ist als virtualisierte Server. Dann nutzen Unternehmen je länger, je mehr auch Lösungen aus der Public Cloud. In allen drei Szenarien wollen die Kunden heute Flexibilität. Red Hat muss sicherstellen, dass die Anwenderunternehmen ihre Systeme in jeder der drei Umgebungen betreiben können und der Wechsel ohne grossen Aufwand möglich ist.
Bekommen Sie die Leute, die in dieser Organisation arbeiten möchten?
Ja, wir bekommen die Leute. Wir machen ihnen das Arbeiten für Red Hat allerdings recht einfach. Wir sind auch beim Arbeitsort und der Zeiteinteilung eine offene Organisation. Apple holt alle Mitarbeiter nach Kalifornien, Google auf seine Campusse. Die Ingenieure von Red Hat sind auf dem ganzen Globus verteilt. Nicht einmal das Management sitzt am gleichen Ort: Der Marketingchef lebt in Atlanta, der Produktchef und der Verkaufsleiter wohnen in Boston, der Personalchef und ich sitzen in Raleigh. Wie die Open-Source-Gemeinschaft ist Red Hat sehr diversifiziert. Der grösste Firmenkomplex ist im tschechischen Brno, wo rund 1000 Menschen arbeiten. Die Konzernzentrale in Raleigh zählt nur halb so viele Angestellte. Insgesamt hat Red Hat mittlerweile 10'000 Mitarbeiter.
Gibt es Entwickler auch in der Schweiz?
Selbstverständlich. Wir haben ein Büro in Neuchâtel, in dem Middelware-Entwicklung gemacht wird. Den Standort haben wir mit der Übernahme von JBoss im Jahr 2006 hinzugewonnen.
Léonard Bodmer: Zusätzlich arbeiten in Zürich zwei Kernel-Entwickler für Red Hat. Beide lebten bereits hier und sind nun bei uns angestellt.

Entwickeln mit Google

Wie und was trägt Red Hat zur Open-Source-Gemeinschaft bei?
Unser Grundsatz lautet: Wir starten niemals selbst ein Open-Source-Projekt. Denn das würde der Grundidee von Open Source widersprechen. Open-Source-Projekte und Innovation werden von den Usern selbst getrieben, nicht von Unternehmen wie Red Hat.
Die Rolle von Red Hat ist in erster Linie das Beobachten von neuen Entwicklungen. Wird ein Feature von den Entwicklern adaptiert, leisten wir Unterstützung, indem wir auf die Enterprise-Tauglichkeit hinarbeiten. Wenn ein Kunde Interesse an einem Feature äussert, arbeiten wir mit ihm zusammen an der Adaptation. Aber typischerweise sind wir höchstens für 20 Prozent der Upstream-Beiträge zu den Projekten verantwortlich. Upstream meint in diesem Fall, dass Red Hat der Erstautor eines neuen Features ist.  Nehmen wir unsere Container-Plattform, die unter anderem auf Docker und Kubernetes basiert. Docker ist ein sehr vitales Open-Source-Projekt, Kubernetes wurde ursprünglich von Google lanciert und wird von uns heute stark unterstützt. Die meisten Erweiterungen und Verbesserungen stammen aber weiterhin von Google selbst, da sie aus der eigenen Praxis am besten wissen, wie eine Container-Infrastruktur orchestriert wird. Red Hat liefert Kunden für beide Projekte den Enterprise-Support. 
Wie handhabt Red Hat beispielsweise Bugfixes? Bei Open-Source-Projekten im Enterprise könnten Sicherheitsrisiken entstehen.
Wenn sich bei der Prüfung herausstellt, dass tatsächlich ein Sicherheitsrisiko besteht, wird sofort ein Patch bereitgestellt. Eine Herausforderung dabei sind Upstream-Projekte, bei denen wir quasi nie die volle Kontrolle haben. Wir versuchen dann, einen der Urheber zu erreichen und den Patch ins Projekt einfliessen zu lassen. Normalerweise klappt das hervorragend. Wenn einmal nicht, kommunizieren wir aktiv mit der Community bevor wir einen Patch lancieren. Denn für den Kunden ist nichts ärgerlicher als ein Update für ein Update.
Wie viel Code stammt in Ihren Produkten von Entwicklern, die nicht bei Red Hat angestellt sind?
Das hängt sehr vom Produkt ab. Beim Linux-Kernel zum Beispiel stammen weniger als 10 Prozent von Red Hat, bei OpenStack zwischen 10 und 12 Prozent und bei Kubernetes sind es unter 20 Prozent. Generell streben wir einen tiefen zweistelligen Prozentsatz an, damit wir ein gewisses Mitspracherecht haben und auch Features lancieren können, die die Kunden wünschen. Bei einem geringeren Engagement wird das schwierig.  Teilweise werden aber auch die Kunden selbst aktiv: Sie fragen ein Feature nach. Wenn wir ihnen nicht umgehend helfen können, entwickeln sie den Programmcode selbst und lancieren ihn in der Community. Anschliessend können sie den Enterprise-Support für das Feature bei uns zubuchen. Das mag etwas schräg tönen, die Rechnung geht aber auf. Anstatt sich selbst um das Patching und die Wartung zu kümmern – und dabei auch auf Programmierer zu zählen, die allenfalls kurz vor der Pension stehen – kaufen die Anwender besser den erweiterten Support von uns. Wir können aufgrund der grossen Anzahl an Kunden die Preise tief halten. Wenn die Unternehmen selbst die Wartung leisten müssen, ist das viel teurer.

Cern und SBB entwickelt mit

Können Sie ein Beispiel für ein Feature nennen, das von einem Ihrer Kunden stammt?
Für das zugekaufte ManageIQ und das darauf basierende CloudForms-Produkt entwickelt die Bank Santander zum Beispiel einige Erweiterungen. Die Programmierer haben die Features direkt in das Open-Source-Projekt eingespielt, sind für den Support aber zu Red Hat gekommen.
Bodmer: In der Schweiz sind Organisationen wie das Cern, Swisscom oder Switch ebenfalls an der Entwicklung neuer Features beteiligt. Ihre Argumentation lautet: Die Programmierer sollen sich um Erweiterungen und Verbesserungen kümmern – und nicht um Hotfixes oder Patches. Die Schweizerischen Bundesbahnen SBB sind ein grosser Unterstützer von Open-Source-Projekten. Für ihre OpenShift-Umgebung mit über 60 Applikationen waren sie auf der Suche nach einer Software für das Container-Management. Zur Wahl standen Apache Mesos und Kubernetes. Das Rennen machte Kubernetes, für das SBB-Entwickler auch Erweiterungen programmierten. Mittlerweile ist die SBB ein Kunde von Red Hat und OpenShift mit Kubernetes ist die Management-Lösung ihrer und unserer Wahl. 
Damit wären wir beim Schweizer Geschäft von Red Hat angekommen. Wie nehmen Sie den Markt wahr?
Bodmer: Die Schweiz und Red Hat passen gut zusammen. Die Schweiz ist das innovativste Land der Welt, Red Hat wurde jüngst als das innovativste Unternehmen ausgezeichnet.
Whitehurst: Das ist eine schöne Parallele! [lacht] Ich sehe die Schweiz als ein Land, das sehr fortgeschritten ist beim Einsatz neuer Technologie. Jedoch ist die Schweiz eher gleichgültig gegenüber der Adaptation von Open Source. Trotzdem ist die Schweiz ein attraktiver Markt für uns, denn die Entwickler sind dankbar, wenn sie insbesondere in sicherheitskritischen Projekten mit dem Quellcode arbeiten können.
Ein Grund für die Technologie-Affinität hierzulande ist der starke Bankensektor. Die Institute nutzen Informatik weniger für die Automation als vielmehr für den Wettbewerbsvorteil. Hier gibt es eine weitere Parallele zwischen der Schweiz und Red Hat. Unsere Wurzeln liegen in der Finanzindustrie, denn unsere ersten grossen Kunden waren die Investment-Banken in New York. Eines der Institute stellte fest, dass Trades schneller unter Linux auf x86-Maschinen ausgeführt werden konnten als unter Solaris auf Sparc-Rechnern. Diese Bank erzielte allein durch die andere Technologie – in diesem Fall glücklicherweise Red Hat – einen Wettbewerbsvorteil. Sie machte den Konkurrenten die Kunden abspenstig, nur, weil sie schneller arbeiten konnte. Da sahen die anderen Banken natürlich nicht lange zu und wechselten ebenfalls.



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