Gründer-Interview 09.03.2018, 08:19 Uhr

«Open Source ist top und dem Markt teils Jahre voraus»

Auf der Basis von Open Source entwickelt VNC konkurrenzfähige Lösungen für Office und SharePoint. Die Gründer Andrea Wörrlein und Bernd Rodler sprechen über die Hintergründe.
Andrea Wörrlein gründete 1998 VNC
(Quelle: Mark Schröder / NMGZ)
Nahezu jedes Anwenderunternehmen in der Schweiz setzt auf Open Source. Insbesondere im Infrastrukturbereich ist die Technologie zu finden. Die Entwicklungsfirma VNC, kurz für Virtual Network Consult, hat sich auf die Fahne geschrieben, Open Source im gesamten Enterprise zu etablieren. Dabei setzen die Zuger auf eine weltweit verteilte Entwickler-Community. Die Gründer Andrea Wörrlein und Bernd Rodler zeichnen die Entwicklung ihres Unternehmens nach und nennen Chancen sowie Hindernisse für zukünftiges Wachstum.
Computerworld: Was zeichnet VNC aus, woher kommt das Unternehmen?
Bernd Rodler: VNC wurde 1998 in Nürnberg gegründet. Vier Jahre später folgte die Niederlassung in der Schweiz. Damals hatte VNC noch nichts mit Open Source zu tun, denn es gab keine quelloffene Business-Software. Der Schwerpunkt lag zunächst auf proprietären Technologien von Microsoft etc. Vor ca. zehn Jahren hat sich VNC neu orientiert und setzt seitdem ausschliesslich auf Open Source.
CW: Sie können mir bestimmt die Gründe für die Neuorientierung nennen.
Rodler: Die Gründe sind einfach erklärt: Die quelloffene Enterprise-Software hatte damals eine unglaubliche Dynamik entwickelt. Wir sind mit einem Open-Source-ERP aus Kalifornien gestartet, das innerhalb weniger Jahre einen riesigen Funktionsumfang bekommen hat. Für OpenPro haben wir den Europavertrieb übernommen. Da ERP nur vertikale Märkte bedient und wenig skaliert, haben wir uns nach weiteren Open-Source-Produkten umgesehen.
Wir landeten schnell im Bereich der Groupware, sprich Zimbra. Die Software gehört damals zu Yahoo, für die wir wiederum den Zentraleuropavertrieb übernommen haben. Schnell stellten wir fest, dass sich sehr viel tut in der Business-Open-Source-Szene. Vor etwa acht Jahren haben wir beschlossen, nicht nur einzelne Produkte zu vermarkten und anzupassen, sondern einen ähnlichen Stack, wie Microsoft ihn mit Exchange, SharePoint, den Backend-Komponenten Windows Server und SQL Server etc. anbietet, mit Open Source zu bauen. Uns ging es um eine horizontale Lösung, die von allen Branchen benötigt sowie genutzt wird und höchste Skalierbarkeit bietet.
CW: Wer sind Ihre Kunden?
Rodler: Viele Kunden stammen aus sicherheitskritischen Branchen wie etwa Kirchenorganisationen. Deren Daten betreffen im wahrsten Sinne der Worte Leben und Tod. Den Organisationen stellen wir den kompletten Collaboration-Stack bereit, gehostet in Kirchenrechenzentren. Hier kommt ein weiteres Charakteristikum unserer Lösungen zum Tragen: Wir entwickeln SaaS-fähige Software, die der Kunde auf Wunsch selbst betreiben oder aus unserem Rechen­zentrum beziehen kann.
Bei einer Schweizer Grossbank haben wir seit fast sieben Jahren die Lösung «Secure Communication» installiert. Die Anwendung stellt einen hochsicheren Kommunika­tionskanal für wohlhabende Kunden bereit, der nahtlos in das Legacy-Backend der Bank integriert ist und auf der anderen Seite auf beliebigen Devices benutzt werden kann.
Ein drittes Projekt lief bei einem Schweizer Telekommunikationsanbieter, der sich durch die Wahlmöglichkeit zwischen Office 365 und unserer Lösung VNClagoon vom Wettbewerb differenzieren wollte. Netter Nebeneffekt: Während der Telko bei Microsoft fast keine Marge hat, kann er bei unserem Produkt gutes Geld verdienen.

Schweizer Entwicklung

CW: Diese Lösungen werden in der Schweiz entwickelt?
Rodler: Ja, das Design der Lösungen und das Projekt­management finden in der Schweiz statt. Anschliessend erfolgt die Qualitätsprüfung und -sicherung ebenfalls in der Schweiz. Das sind Grundvoraussetzungen, wenn wir Enterprise- und Government-Kunden mit hochwertiger oder sicherheitskritischer Software beliefern wollen.
Die Entwicklung der Lösungen selbst findet allerdings global statt. Das muss so sein – aus mehreren Gründen: Einmal würden wir die Menge an erforderlichen Programmierern niemals in der Schweiz selbst finden. Der Markt ist leer. Zweitens arbeiten wir mit hoch komplexen Technologien wie Angular, OpenLDAP oder PostgreSQL. Die Kompetenzen sind kaum in einem einzigen Land zu finden – gleichgültig ob in der Schweiz oder anderswo. Drittens erwarten die Kunden und Partner, dass sie speditiv beliefert werden. Wir müssen rund um die Uhr an sieben Tagen pro Woche entwickeln. In Zeiten von Scrum und agiler Entwicklung will der Kunde schnell Ergebnisse sehen und auch eingreifen können, wenn eine Funktion nicht wie gewünscht um­gesetzt wird. Das geht nur mit Teams, die verteilt sind in Brasilien, Indien, Pakistan, Vietnam und natürlich Europa.
Zwingend in der Schweiz geschehen muss wie erwähnt die Qualitätssicherung. Das lässt sich nicht outsourcen. Wir haben es in einzelnen Projekten versucht, waren aber mit dem Ergebnis nicht zufrieden.
Zur Person
Bernd Rodler
ist Verwaltungsratspräsident und Gründer von VNC. Diese Positionen bekleidet er seit 2003. In den Jahren 2006 bis 2009 war Rodler zwischenzeitlich Gründer und CEO vom ERP-Anbieter OpenVirtue. Davor baute er die damalige Muttergesellschaft von VNC auf.
CW: Woran hat es gemangelt?
Rodler: Die Kollegen beispielsweise in Indien haben nicht die gleichen Qualitätsansprüche wie ein Schweizer Kunde. Unternehmen hierzulande sind sehr detailorientiert und qualitätsbewusst wie nirgends auf der Welt. Daraus ergibt sich auch ein Vorteil für uns: Denn somit ist der Anspruch an unsere eigenen Software-­Lösungen enorm hoch.
CW: Wie organisieren Sie die global verteilten Entwicklerteams, deren Produkte den Schweizer Ansprüchen genügen?
Rodler: Unser Ziel ist seit der Gründung, in einer virtuellen Organisation zu arbeiten – daher auch der Firmenname Virtual Network Consult. Damit diese virtuelle Firma funktioniert, sind drei Dinge erforderlich: Erstens eine leistungsfähige Collaboration-Plattform innerhalb der Organisation, auf der jeder Entwickler, jeder Infrastruktur-Administrator und auch jeder Software-Tester ein bestimmtes Projekt jederzeit einsehen kann. Das leistet bei uns eine eigens entwickelte Projektmanagement-Lösung. Sie basiert natürlich auf Open-Source-Technologie. Mit dem Tool können Projekte sowohl mit Agile- und Scrum-Methoden als auch nach dem Wasserfall-Vorgehen verwaltet werden. Das Tool erlaubt uns auch, die Projekte extrem granular zu gliedern.
Die zweite Voraussetzung für die virtuelle Organisation ist ein Kommunikations-Tool. Es beinhaltet Chat, Gruppen-Chat – beides mit History und leistungsfähiger Suche – sowie Audio- und Videotelefonie. So können wir auch Freelancer in abgelegenen Regionen in die Projekte mit ein­beziehen, denn sie benötigen für die Kommunikation und Zusammenarbeit lediglich einen Webbrowser.
Der dritte Punkt ist das Arbeiten nach der DevOps-Methode. Auch in grossen Projekten mit 50 oder mehr Programmierern wird jedes (virtuelle) Meeting strukturiert protokolliert. Die Protokolle werden qualitätsgeprüft und flies­sen in die Projektorganisation ein: In DevOps-Zyklen wird Code so früh wie möglich auf Testservern bereitgestellt und von der Qualitätssicherung maschinell und manuell validiert. Dafür haben wir eine hoch automatisierte Entwicklungsumgebung programmiert.

Beispiele für die Vorgehensweise

CW: Können Sie ein Beispiel für das Vorgehen geben?
Rodler: Zuerst werden eine Spezifikation und Designs für die zu entwickelnde Lösung festgelegt. Der Programmierer soll früh sehen können, wie eine Software später aussehen soll, weshalb wir in einem frühen Stadium mit nahezu fertigen – und sogar animierten – Designs arbeiten. Nun beginnt der Entwickler mit seiner Arbeit, übergibt den Quellcode allenfalls an einen Kollegen in einer anderen Zeitzone. Bereits bei dieser Übergabe, wenn der Code in das Quellcode-Managementsystem Git eingecheckt wird, folgt die erste automatisierte Prüfung. Hier sind Tools wie Jenkins und Selenium am Werk. Sollte noch eine manuelle Prüfung erforderlich sein, generiert die Plattform automatisch ein Ticket, das die zuständigen Tester einbezieht.
Andrea Wörrlein: VNC ist im Kern ein Entwicklungshaus, das wöchentlich neue Releases veröffentlicht. Daneben betreiben wir Grundlagenforschung.
Zur Person
Andrea Wörrlein
ist Verwaltungsratsmitglied und Gründerin von VNC. Sie bekleidet diese Posten seit 2006. Parallel amtet sie seit 1998 als CEO der deutschen Tochtergesellschaft von VNC. Wörrlein hat ihr Magister-Studium an der Universität Erlangen-Nürnberg mit einem Master of Arts abgeschlossen.
CW: Welche Art von Grundlagenforschung betreiben Sie?
Rodler: In grossen Organisationen ist die User-Verwaltung eine He­rausforderung. Zukünftig wird das Thema durch das Management von Devices – Stichwort Internet 4.0 – noch komplexer. Anfangs haben wir geglaubt, wir können die Probleme mit LDAP lösen. Das war ein Fehlschluss. Neu integrieren wir LDAP mit Datenbanken wie MySQL, MariaDB oder PostgreSQL, um die grossen User- respektive Device-Zahlen verwalten zu können.
Seit gut einem Jahr beschäftigen wir uns ausserdem intensiv mit der Artificial Intelligence. Wir prüfen den Einsatz bei Chat, bei Groupware und im Projektmanagement. Daneben kann die künstliche Intelligenz dem Helpdesk nützen: Viele Support-Tickets betreffen bestimmte Fragestellungen, etwa Passworterneuerung oder User-Berech­tigungen. Anhand einer Knowledge Base lassen sich diese Support-Fälle ohne manuellen Eingriff abwickeln.
Wörrlein: Die Technologien mit künstlicher Intelligenz wollen wir auch für das Projekt-Controlling einsetzen. So können wir schon nach wenigen Wochen im Projekt vorher­sagen, ob das Budget und der Zeitplan realistisch sind oder ob sie adaptiert werden müssen.
CW: Sind überhaupt Terminprojekte mit der Open Source Community möglich?
Rodler: Da sprechen Sie eine echte Herausforderung an. Bei der Disziplin und Termintreue unterscheiden sich die verschiedenen Produkt-Communities stark voneinander. Zum Beispiel stehen im Bereich der Content-Management-Systeme hervorragende Open-Source-Produkte zur Ver­fügung. Allerdings ist es tatsächlich problematisch, die Entwickler zu einer effizienten und zielorientierten Arbeitsweise zu bewegen. Ein Grund ist sicher die sehr flache Hierarchie innerhalb der Community, ein anderer das Fehlen von Vordenkern. Dennoch sind die Produkte top, dem Markt teilweise Jahre voraus und die Releases immer einwandfrei. Wenn unsere Kunden mit bestimmten Anforderungen kommen, müssen wir dann eben die Funktionen selbst entwickeln.
Wörrlein: In diesem Produktbereich haben wir schon Millionen Franken investiert.
Rodler: Der Grund für diese hohen Investitionen ist einfach: Die Lösung ist die perfekte
Alternative zu Microsofts erfolgreichem und kommerziell lukrativem SharePoint. [lacht]
Wörrlein: Zwei sehr aktive Communites gibt es im Bereich des File Sync & Share. Hier können auch unsere Kunden zwischen zwei Produkten wählen: der populären ownCloud und ihrem Fork Nextcloud. Da hinter beiden Lösungen jeweils eine kommer­zielle Unternehmung steht, findet bei beiden Produkten eine zielorientierte Entwicklung statt. Hier müssen wir wenig zusätzliche Investitionen tätigen.

VNCs Zukunftspläne

CW: Welche Pläne hat VNC für die nähere Zukunft?
Rodler: Die IT entwickelt sich gerade rasant weiter. Wir werden mit dem Tempo mithalten und unseren Software-Stack weiter ausbauen. Ein Stichwort ist Artificial Intelligence, ein anderes Industrie 4.0. Dabei kommen unsere grössten Wettbewerber aus Redmond: einerseits Office 365 und andererseits Microsoft Azure.
CW: Wie gross ist VNC?
Rodler: Das Kernteam besteht aus ca. 100 Personen. Hinzu kommen rund 900 Entwickler auf der ganzen Welt, die innerhalb der letzten zehn Jahre immer mal wieder an einem unserer Projekte beteiligt waren.
Schon jetzt ist abzusehen, dass wir in diesem Jahr das Kernteam stark erweitern werden. Ich gehe von einer Verdoppelung der Mitarbeiterzahl bis Ende Jahr aus. Denn zum Beispiel in Westafrika und Südamerika stehen grosse Projekte an, bei denen unsere Lösungen von mehreren Staaten und öffentlichen Einrichtungen für die Kommunikation verwendet werden sollen.
Wörrlein: Ein Grund für die Erfolge ist der mittlerweile ausgereifte Software-Stack, der nun eine echte Alternative zu den Produkten der etablierten Anbieter ist. Unsere Plattform wird zwar permanent weiterentwickelt, besitzt aber schon jetzt eine gewisse Reife. Mit den Lösungen adressieren wir nun einerseits verstärkt Partner, andererseits aber auch komplett neue Märkte. Hier ergibt sich, dass wir neue Skills benötigen: für Partner-Trainings, für den Support und das Community Management.
Rodler: Auch in der Schweiz werden wir wachsen. Für das Management und die erwähnte Qua­litätssicherung gibt es keinen besseren Standort auf der Welt. Allerdings ist es eine echte He­rausforderung für uns, die rich­tigen Leute mit den passenden Skills zu bekommen. Ein Projektmanager aus dem Microsoft-Umfeld hilft uns leider nicht. Denn die Open-Source-Community funk­tioniert natürlich ganz anders als ein Weltkonzern.
Zur Firma
Virtual Network Consult
kurz VNC, wurde 1998 in Nürnberg in Deutschland gegründet. Vier Jahre später folgte die Niederlassung in der Schweiz. 2014 wurde die Schweizer Niederlassung zur Aktien- und zur Holding-Gesellschaft. Sie besitzt heute Tochterfirmen in Berlin und im indischen Ahmedabad.



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