CEO und CIO der Migros Bank 05.07.2022, 11:00 Uhr

«Eine Bank ist heute ein Tech-Unternehmen»

Ohne gute IT kann ein Bankinstitut kaum mehr erfolgreich sein. Das gilt auch für die Migros Bank, wie CEO Manuel Kunzelmann und CIO Stephan Wick im Interview erklären. Es gelte, den Betrieb sicherzustellen und Kundenschnittstellen zu verbessern.
Pflegen einen regen Austausch: Manuel Kunzelmann, CEO, und Stephan Wick, CIO der Migros Bank (v. l.)
(Quelle: Stefan Walter)
Die Migros Bank nutzt wie viele Banken das Core-Banking-System eines externen Partners. Um sich trotzdem von der Konkurrenz abheben zu können, gilt es, mit eigener Manpower die Kundenschnittstellen zu verbessern. Wie CEO Manuel Kunzelmann und CIO Stephan Wick erklären, entwickelt die Migros Bank deshalb als erste Finnova-Bank eine eigene E-Banking-Plattform. Weiter sprechen sie über den Fachkräfte­mangel und den Umgang mit Digitalisierungsverweigerern.
Computerworld: Wie oft sehen Sie sich?
Manuel Kunzelmann: Die IT hat einen sehr wichtigen Stellenwert und das spiegelt sich logischerweise auch ­darin, dass wir regelmässig darüber diskutieren. Mir ist es aber wichtig, dass wir das wöchentlich nicht nur bilateral tun, sondern in der gesamten Geschäftsleitung, da es sich um eine solch integrale Funktion handelt. Eine Bank ist einerseits Dienstleisterin und andererseits Informationsverarbeiterin, also müssen diese beiden Bereiche sehr gut funktionieren. Alles andere natürlich auch, aber das sind neben dem Risikomanagement ihre zentralen Kompetenzen. Dienstleisterin zu sein, heisst, Menschen tolle Dienstleistungen zu bieten, wofür die Informationsverarbeitung die Grundlage schafft.
Stephan Wick: Gerade weil die Funktion der IT für unsere Bank so wichtig ist, ist die Erwartungshaltung entsprechend hoch. Und IT ist auch immer eine knappe Ressource. Eine wichtige Aufgabe von mir in der Geschäftsleitung ist deshalb, zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen eine Priorisierung vorzunehmen. Das ist aber ganz normal – in meiner rund 30-jährigen IT-Laufbahn gab es immer mehr Anforderungen als Ressourcen.
Kunzelmann: Für die Geschäftsleitung ist es deshalb ex­trem wichtig, dass unsere IT wirklich aufs Geschäftsmodell fokussiert ist. In dessen Rahmen gilt es, sinnvoll mit den knappen Ressourcen zu wirtschaften. Ich finde, das gelingt uns gut, indem wir uns auf wirklich Wichtiges konzentrieren. Die IT ist dabei sehr häufig eine der ganz zentralen Funktionen. Immer, wenn es um hoch technologisierte Geschäftstätigkeiten geht, die in grosser Zahl anfallen, gibt es keine Alternative, ausser zu ganz hohen Kosten.
CW: Kann die IT liefern, was die Geschäftsleitung bestellt?
Wick: Klar, aber es geht nicht immer alles so schnell, wie man das gerne hätte, weil es immer eine Menge Abhängigkeiten gibt.
CW: Woran liegt das hauptsächlich – an der Technik oder an den Leuten?
Wick: Es ist natürlich eine Mischung. Die Ressourcen sind knapp und schwierig zu kriegen. Und dann haben wir ein Core-Banking-System, Finnova, das auf Stabilität ausgerichtet ist und bei Anpassungen etwas Vorlaufzeit bedarf. Wir hoffen, dass wir das ändern können. Ausserhalb des Core-Banking-Systems, vor allem an den User Interfaces für Kunden und Mitarbeitende, sind wir agiler und viel schneller dank Applikationen, die wir selbst entwickeln. Aber es bestehen immer wieder Abhängig­keiten zum Core-System. Auch führen die quartalsweisen Zyklen im Core-System dazu, dass wir mit neuen Ideen den nächsten Zyklus abwarten müssen. Deshalb braucht es teilweise etwas Geduld bei Umsetzungen mit Abhängigkeiten von anderen Systemen.

So ist die IT der Migros Bank aufgestellt

CW: Wie ist die IT der Migros Bank vom System und von der Manpower her aufgestellt?
Der Wirtschafts­informatiker Stephan Wick ist seit fast 18 Jahren CIO und Geschäfts­leitungsmitglied der Migros Bank
Quelle: Stefan Walter
Wick:
Wir verfolgen zwei Ziele mit der Informatik. Bei «Run the Bank», im Tagesgeschäft, arbeiten wir eng mit Partnern zusammen. Wir müssen schliesslich nicht alles selbst tun. Beispielsweise betreibt Inventx unser Kernsystem Finnova und Econis betreut unsere Netzwerke. Anderes betreiben wir selbst, etwa die elektronischen Arbeitsplätze, wo die Notebooks und anderen End­geräte laufen. Dann gibt es «Change the Bank», wo es vor allem darum geht, die Kundenschnittstellen laufend zu verbessern. In diesem Bereich sind wir in agilen Scrum-Teams auf­gestellt, die cross-funktional zusammengesetzt sind. Das Ziel ist, möglichst rasch und möglichst gezielt bessere Angebote für die Kundschaft zu entwickeln. Auch im Betriebsteil sind wir agil aufgestellt – dort setzen wir Kanban ein, damit die Priorisierung vereinfacht und transparent wird. Intern reden wir von 150 bis 200 IT-Fachkräften.
CW: Wie viele machen «Run» und wie viele «Change»?
Wick: Manche machen beides. Wenn wir den Franken­betrag anschauen, sind es etwa zwei Drittel «Run» und etwa ein Drittel «Change». Unser Ziel ist, dass der «Change»-Anteil weiter steigt, aber das müssen wir uns verdienen, indem wir sehr gut auf den «Run»-Teil auf­passen, technische Schulden vermeiden und konsequent modernisieren.
CW: Repräsentiert diese Verteilung die Manpower?
Wick: Ja, das sind die Kosten und Investitionen inklusive Outsourcing.
CEO Manuel Kunzelmann ist Betriebsökonom FH mit einem MBA der Universität Zürich und einem Nachdiplomstudium in Wirtschafts­informatik
Quelle: Stefan Walter
Kunzelmann:
Eine Bank ist heute ein Tech-Unternehmen. Die Zeiten von dedizierter Banken-IT sind vorbei. Selbst die Vertriebseinheiten denken heute immer mehr techorientiert: Sie werden von Expertensystemen unterstützt und können gar nicht mehr ohne IT oder Tech arbeiten. Sie sind sich dessen bewusst und äussern auch immer mehr Anforderungen. Bei der IT geht es insbesondere darum, in der Geschäftsleitung und im Geschäft nach Lösungen zu suchen, die möglichst hohe Skalen erreichen. Wenn die IT bei knappen Ressourcen nicht zur Verfügung steht, entwickelt man betriebliche Alternativen, um das Geschäftsziel trotzdem möglichst umfassend zu erreichen. Tech ist die präferierte Ressource, doch da es sie nicht immer gibt, muss in Alternativen gedacht werden. Aber der erste Gedanke der gesamten Organisation geht Richtung Tech. Bei der Hochrechnung hat «Change» einen zunehmend höheren Anteil, weil eben ein grösserer Apparat mitdenkt. Wenn ich die ganze Entwicklung ansehe, ist das für mich die grösste Veränderung: Das Verständnis, dass Tech eine integrale betriebliche Rolle spielt, nimmt immer mehr zu.
CW: Woran lässt sich diese Veränderung festmachen?
Kunzelmann: Ich denke, das lässt sich am Thema Sprachfähigkeit ziemlich gut feststellen. Im Bereich Kundendaten, Aufträge, Reporting, Positionen und Buchungen spielt die IT schon seit langer Zeit eine wichtige Rolle. Heute gehen wir aber auch in die Peripherie: Wir reden über Kundenschnittstellen, Expertensysteme oder Distanzvertrieb und das ist Tech-aufgeladen ohne Ende. Zum Beispiel im Asset Liability Management wurden einfache Berechnungen gemacht. Heute geht das nicht mehr: Heute werden sophistizierte Statistikprogramme genutzt, da ist Tech so zentral, dass der Mensch plausibilisiert. Das sind für mich die Musterbrüche, die in den letzten 20 Jahren stattgefunden haben.
Wick: IT ist im Unterschied zu anderen Branchen für ­Banken schon lange sehr wichtig. Es gab schon 1990 eine elektronische Buchhaltung und Buchhaltungsautomatisierungen. Ab 1990 ging es vor allem um Backoffice-Automatisierung. Dann kam das iPhone und löste einen riesigen Wandel in der Gesellschaft aus: Die IT kam viel näher zum Menschen. Das veränderte die Erwartungen an die Banken: Heute reden wir von der End-to-End-Digitalisierung aller Prozesse bis hin zum Kunden, bis zur App. Das wäre früher oder später so oder so gekommen, aber die Erfindung des iPhones hat dies extrem beschleunigt.
CW: Die Migros Bank dürfte, wie alle Banken, auch ­Kundinnen und Kunden haben, welche die Digitali­sierung verweigern. Wird es weiterhin Bankfilialen mit direktem Kundenkontakt geben?
Kunzelmann: Ja, das hat mit zwei Umständen zu tun: Unsere profitabelste Klientel ist älter als in vielen anderen Industrien. Beispielsweise die Telkos oder die Reisebranche haben eine viel bessere Verteilung der ertragsbringenden Kundschaft. Im Private Banking dagegen sind die jüngsten Kundinnen und Kunden 65 Jahre alt. Der Generationensprung, den man sich im Private Banking immer gewünscht hat, hat nie stattgefunden. Das ist bei einer Retailbank wie unserer zwar weniger akzentuiert, doch bei der Profitabilität in der Einzelkundenbetrachtung ist es fast gleich: Dort sind die jüngsten Kundinnen und Kunden zwar nicht über 65, aber immerhin Mitte vierzig. Entsprechend haben viele davon unterschiedliche Anforderungen an die Kanäle. Ein weiterer wichtiger Grund ist, dass die Selbstbedienung mit empfundenen hohen Suchkosten verbunden ist und das ist für viele mühsam. Banking ist nicht wie das Buchen einer Reise oder der Kauf von Consumer Electronic, sondern es handelt sich um ein Dienstleistungsgeschäft zwischen Menschen, das Wissen voraussetzt respektive immer an ein bestimmtes Wissen anknüpft. Die Menschen müssen sich spüren und reagieren können, und zwar immer in der Interaktion rund um das Wissen, das schon besteht oder eben nicht. Die Selbstbedienung stösst hier an ihre Grenzen, weshalb wir das Filialgeschäft aufrechterhalten wollen. Deshalb wollen wir die Ressourcen zunehmend in Richtung umfassender Finanzberatung verschieben. Manche Dienstleistungen funktionieren aber genauso gut per Distanzvertrieb. Wir glauben deshalb an einen Mittelweg von Finanzberatung in den Filialen, die menschliche Intelligenz erfordert, und Distanzvertrieb in Verbindung mit «rich media». Da gibt es sehr viele Möglichkeiten, die wir heute als Bank noch wenig einsetzen, wie Video, Co-Browsing, Online-Kollaboration, Simulationen und so weiter. Wir glauben, dass das der nächste grosse Schritt ist, weshalb wir hier bewusst investieren.

Videoberatung als Zusatzdienstleistung

CW: Verkauft die Migros Bank also demnächst Hypotheken über den Bildschirm?
Kunzelmann: Das gibt es schon. Der Kunde kann aber entscheiden, ob er lieber für ein persönliches Gespräch in die Filiale kommen möchte. Gerade der erste Hauskauf ist etwas sehr Emotionales. Wir sind trotzdem so eingerichtet, dass wir Hypothekargeschäfte in Selbstbedienung oder auch per Video abwickeln können.
CW: Hat die Pandemie das beschleunigt?
Kunzelmann: Kurz zuvor, im März 2020, hatten wir unseren Piloten bezüglich Videoberatung gestartet. Wir versuchten dann, die Einführung zu beschleunigen.
CW: Gelang das?
Kunzelmann: Die flächendeckende Ausrollung erfolgte dann im August.
CW: Geht Videoberatung von jedem Arbeitsplatz aus?
Wick: Nicht von jedem, aber wir haben in jeder Filiale Räume, die für die Videoberatung eingerichtet sind. Deren Anzahl richtet sich jeweils nach der Grösse der Niederlassung.
CW: Welche Arten von Beratung bietet die Migros Bank per Video an?
Kunzelmann: Heute sind es vor allem Produktberatungen. Aber wenn wir über die Zukunft sinnieren, glauben wir vielmehr, dass die Finanzberatung der Normalfall sein wird und die steckt überall drin. Ich denke, die ganze Bankenindustrie wird in diese Richtung gehen, aber die Migros Bank ganz dezidiert, zumal es eine Knappheit an Spezialisten für Finanzfragen gibt. Wenn es zum Beispiel um eine wichtige Steuerfrage geht, werden wir die Spezialisten nie in den Filialen haben, sondern wir werden sie konzentrieren und über den Bildschirm ins Kundengespräch zuschalten. Über dieses Betriebsmodell können die Kompetenzen viel besser entwickelt werden. Wenn die Spezialisten untereinander laufend im Austausch stehen und ständig Fälle haben, werden sie logischerweise besser. Mit deren technischer Unterstützung sowie den Expertensystemen schliesst sich der Kreis zur IT.
CW: Wenn Spezialisten zugeschaltet werden, müssen diese aus Fleisch und Blut sein?
Kunzelmann: Davon bin ich für komplexe Finanzfragen ganz fest überzeugt und das wird noch ganz lange so sein. Denn der menschliche Dialog und die situative Intelligenz des Menschen können nicht so schnell mit Technik ersetzt werden.
Manuel Kunzelmann und Stephan Wick (v. l.) sind überzeugt, dass die Migros Bank den IT-Fachkräften ein attraktives Arbeitsumfeld bietet
Quelle: Stefan Walter
Wick:
Expertensysteme und künstliche Intelligenz (KI) gelangen zwar immer mehr zum Einsatz, doch es gilt, die gesamte Kundensituation zu erfassen, also auch die nonverbale Kommunikation oder das Wissen über den Kunden. KI kann sicherlich gewisse spezifische Fragen relativ gut und schnell beantworten, aber die Situation des Kunden in ihrer Gesamtheit abzudecken, davon sind wir noch weit entfernt.
CW: Wie setzen Sie KI ein?
Wick: Wir sind daran, mit KI das Kundenerlebnis zu verbessern. Wenn der Kunde auf unserem Direktkanal Kontakt mit uns aufnimmt, ob per Telefon oder Chat, kann die KI die Fragen triagieren und eine Beurteilung vornehmen, ob es einen Menschen für die Beantwortung braucht. Beispielsweise kann eine Saldoabfrage, das Nachbestellen eines Kontoauszugs oder das Sperren einer Bankkarte sehr gut maschinell abgewickelt werden. Bei komplexeren Fragestellungen verweist die KI hingegen zu einem Menschen. Wir versuchen, möglichst viele einfache Aufgaben, die zum Teil ein sehr hohes Volumen aufweisen, zu automatisieren.
CW: Geht das auch auf Mundart?
Wick: Ja, das geht. Unser Provider bietet alle Schweizer Dialekte plus Französisch und Italienisch an.
Kunzelmann: Unsere Mitarbeitenden müssen heute enorm viele Kundenanfragen bearbeiten und dabei ein breites Aufgaben- und Wissensfeld abdecken. Die Stimmbiometrie kann dabei zur Unterstützung eingesetzt werden und unsere Leute im Tagesgeschäft entlasten.
Wick: Auch sind wir gerade daran, die Kontoeröffnung zu automatisieren, sodass die Kundinnen und Kunden das selbst machen können.
CW: Nimmt die Kundschaft das an?
Wick: Wir fragen sie natürlich, ob es für sie okay ist, wenn wir aus dem Gespräch einen Stimmabdruck erstellen und abspeichern, damit sie beim nächsten Mal nicht mehr die drei oder vier Sicherheitsfragen beantworten müssen. Dort haben wir eine Zustimmungsrate von über 80 Prozent. Wir erstellen pro Woche 800 bis 900 neue Profile. In den vergangenen rund zwei Jahren sind bereits über 50 000 solcher Profile zusammengekommen.
CW: Läuft die Software dazu auf Ihrer Infrastruktur oder bei Ihrem Provider?
Wick: Die läuft bei uns.
CW: Wie hoch ist das IT-Budget der Migros Bank?
Kunzelmann: Wir haben in den letzten zwei Jahren die Investitionen in die IT deutlich erhöht. Alles zusammengerechnet – Personal, Investitionen und laufende Kosten – kommen wir auf knapp unter 100 Millionen Franken. Das ist ein substanzieller Teil unserer Sach- und Personalkosten.
CW: Weshalb in den letzten zwei Jahren?
Wick [lacht]: Wir haben einen neuen CEO und eine neue Strategie, die Investitionen erfordert.
Kunzelmann: Vielleicht war die Basis vorher etwas zu tief … Unsere Strategie hat drei Prioritäten. Die eine ist die Modernisierung des Kerngeschäfts. Dort verfolgen wir zwei Stossrichtungen: die Finanzberatung in der Filiale, was durch die Beratungsunterstützung auch viel mit IT zu tun hat, sowie den Ausbau der Direktkanäle mit Selbstbedienung und Distanzvertrieb. Eine zweite Strategiepriorität ist eine bessere Orchestrierung des Synergiepotenzials mit der Migros-Gruppe und die dritte das Thema Innovation.
“Wir haben in den letzten zwei Jahren unsere Basis- und Core-Infrastruktur komplett erneuert„
Manuel Kunzelmann
CW: Haben Sie ein Beispiel für eine bessere Synergienutzung?
Kunzelmann: Die Cumulus-Kreditkarte ist bekannt. Aber man kann es generalisieren: Eine grosse Kostenlast für die Migros-Gruppe ist, dass jede Kauftransaktion über den Backbone geht, an dem eine kostenintensive Finanzinfrastruktur hängt. Das ist ein riesiger Kostenblock bei jeder Kauftransaktion. Dieser kann über hauseigene Finanzkreisläufe verringert werden, wie dies beispielsweise Amazon mit Amazon Pay oder Alibaba mit Alipay tun.

Cloud-Projekte

CW: Wie viel IT nimmt Ihnen die Migros-Genossenschaft ab?
Wick: Wir arbeiten auf viele Arten zusammen, aber letztlich sind die beiden IT-Welten getrennt. Wir haben schliesslich ganz andere regulatorische Anforderungen, so muss beispielsweise unser Rechenzentrum Finmazertifiziert sein. Früher lief unser Backup-Rechenzentrum noch innerhalb des Migros-Rechenzentrums. Das ist aber schon seit fünf, sechs Jahren nicht mehr so: Wir wechselten mit unserem zweiten Rechenzentrum zu einem kommerziellen Anbieter. Wir arbeiten aber beispielsweise in den Themen Cybersecurity oder Cloud mit dem MGB zusammen. Zudem tätigen wir gewisse Einkäufe über sie, um von Gruppenkonditionen profitieren zu können. Ebenfalls beziehen wir von ihr alle Dienstleistungen rund um HR-Systeme. Im Moment sind diese noch bei uns installiert, wandern aber jetzt komplett in die Cloud.
CW: In eine Schweizer Cloud?
Wick: Für das HR ist das nicht erforderlich.
CW: Und für Microsoft-Systeme?
Wick: Da starten wir jetzt mit der Nutzung und die Cloud ist in der Schweiz. Zudem haben wir dort keine Kundendaten. Wir beziehen aus der Microsoft Data Cloud aber ­gewisse Security-Dienstleistungen für die elektronischen Arbeitsplätze.
CW: Eine Schweizer Cloud ist also kein riesiges Thema für die Migros Bank?
Wick: Wir haben eine eigene Private Cloud, in der unsere eigenentwickelten Applikationen laufen. Auch beziehen wir gewisse Software as a Service, die es nur aus der Cloud gibt – dort sind wir daran gebunden, wie sie zur Verfügung gestellt wird. Kundendaten aber, das ist ganz klar, dürfen nicht ins Ausland, das ist eine eiserne Regel.
CW: Gibt es Überlegungen, die Private Cloud abzu­lösen?
Kunzelmann: Die haben wir gerade neu aufgebaut. Wir haben in den letzten zwei Jahren unsere Basis- und Core-Infrastruktur vollständig erneuert und dort ist unter anderem die Private Cloud hinzugekommen.
CW: Wie sieht die Infrastruktur ungefähr aus?
Wick: Finnova, unsere Kern-Bankensoftware, läuft auf einem IBM-AIX-System. Die restlichen Applikationen verteilen sich auf verschiedene Linux- und Windows-Cluster.
CW: Wenn ich ein Entwickler wäre, was würde mich bei der Migros Bank an neuen Themen erwarten?
Wick: Grundsätzlich entwickeln wir die allermeisten Applikationen mit Partnern, so auch unser neues E-Banking. Wir selbst beschäftigen vor allem Entwickler im Bereich IT-Automation, welche die ganze Automatisierung im Betrieb sicherstellen. Zudem haben wir Entwickler im Bereich Robotics respektive robotergesteuerter Prozessautomatisierung (RPA) und rund ums Datawarehouse, ­beispielsweise in den Bereichen Workflows, Bewilligungs- und Kreditprozesse.
CW: Es geht also nicht nur um Infrastruktur?
Wick: Nehmen wir als Beispiel den Bewilligungsprozess für einen Kredit. Das ist eine selbst entwickelte Applikation in Ergänzung zu Finnova, weil dieses nicht über die Funktionalität verfügt. Was die Entwickler erwarten können, sind moderne Umgebungen und Konzepte, agile Teams, in diesem Fall Scrum-Teams, sowie spannende Aufgaben.
CW: Sie positionieren sich zum Thema Fachkräfte … Gibt es dort ein Problem?
Kunzelmann: Wir haben in der Schweiz momentan Vollbeschäftigung und die IT ist ein sehr breites Feld geworden. Wir stellen Leute in Berufen ein, die nicht mehr so «hart verdrahtet» sind mit klassischem Banking oder klassischer IT. Natürlich braucht es das auch, aber das ganze Tech-Feld – von Usability Engineers über Product Owners bis hin zu Leuten mit T-Shape-Profilen, insbesondere jene mit Anschlusskompetenzen – ist bei den Banken zunehmend begehrt. Es gibt überall einen Wettbewerb um Fachkräfte, nicht nur in der IT, beispielsweise auch um solche im Bereich RegTech. Gerade bezüglich Compliance suchen wir sehr viel Personal und finden es schlichtweg nicht.
CW: Wie versuchen Sie, dieses Problem zu lösen?
Kunzelmann: Wir können viel mit unserer Kultur, diesem Migros-Spirit, kompensieren. Wir sind ein Schweizer Unternehmen mit typischen Schweizer Werten. Das finden viele Leute positiv. Andererseits können wir im Kontext der ganzen Migros-Gruppe sehr interessante Jobs anbieten, beispielsweise in Hinblick auf ihre Ökosystem-Logik, die einzigartig ist. Das kann wohl so nur die Migros Bank anbieten. Gleichzeitig sind die Löhne in der Bankenindustrie vergleichbar und schlussendlich geht es darum, Freude an der Arbeit zu haben. Das können wir bieten: Unser Geschäftsfeld ist offen, ebenso der Verwaltungsrat, der aus dieser Bank etwas Tolles machen will, und wir bieten viele Chancen. Für mich ist das der Unterschied: Wir sind keine ausschliesslich klassische Bank.
Wie Manuel Kunzelmann und Stephan Wick (v. l.) bekannt geben, findet ab Herbst der grosse ­Rollout des neuen
E-Bankings der Migros Bank statt
Quelle: Stefan Walter
Wick:
Das ist schon etwas, das von der Migros abstrahlt: Wir sehen uns als menschliche Bank. Ein IT-Security-Engineer kommt schnell auf zehn Jobofferten. Damit man solche Leute halten kann, ist der Umgang mit den Mit­arbeitenden schon sehr wichtig. Auch kann eine gute Mund-zu-Mund-Propaganda den Unterschied ausmachen.
CW: Bilden Sie auch aus?
Wick: Ja, in verschiedenen Bereichen. Gerade der Bereich Robotics interessiert Jugendliche sehr und ermöglicht ihnen einen spannenden Berufseinstieg.
CW: Investieren Sie auch in eine neue Arbeitsumgebung?
Kunzelmann: Schlussendlich geht es darum, ein attraktives Gesamtpaket aus Home Office, Teilzeit auch für Führungskräfte und Vereinbarkeit mit der Familie zu schnüren, damit die Leute Arbeit und Freizeit in einer guten Balance halten können. Da gehören auch Räumlichkeiten dazu, mit denen das Arbeiten in Gruppen verbessert wird – mit der kollaborativen, agilen Valuestream-Logik wird viel mehr in Teams gearbeitet, wozu es vermehrt grosse, flexible Flächen braucht. Wichtig ist ebenfalls, dass auch die Geschäftsleitung die Regelungen vorlebt.
Wick: 34 Prozent unserer IT-Fachleute arbeiten Teilzeit. Wir haben auch einen relativ hohen Frauenanteil von 28 Prozent. Die Hälfte von ihnen arbeitet Teilzeit, bei den Männern etwas weniger. Wer das Pensum ändern will, kann das in der Regel innert Monatsfrist tun, dort sind wir sehr flexibel.
CW: Gab es die Idee, zu 100 Prozent Office zurückzukehren?
Kunzelmann: Nein, Home Office gehört einfach zur heutigen Zeit. Das war für den Verwaltungsrat und die Geschäftsleitung sonnenklar. Es geht eher darum, den Funktionen, bei denen Teamarbeit zentral ist, schmackhaft zu machen, wieder ins Büro zu kommen, dies mit dem Argument, dass Teamwork der Schlüssel zum Erfolg ist.
CW: Gibt es bei der Migros Bank ein Performance-Messsystem?
Wick: In gewissen Bereichen wird die Produktivität gemessen, da reden wir aber von operativen Bereichen wie dem Kundencenter oder vom Zahlungsverkehr. Dort ist die Produktivität im Home Office eindeutig gestiegen. Klar, die Leute haben zum Teil auch länger gearbeitet, das haben wir gesehen. In den anderen Bereichen haben wir nicht systematisch gemessen. Die meisten davon schreiben ihre Arbeitszeiten nicht auf, sondern haben Vertrauensarbeitszeit.
Kunzelmann: Wir arbeiten mit einem OKR-System (Objectives and Key Results). Wir setzen Jahresziele und machen dann vierteljährliche OKRs. Die Kontrolle basiert auf der Zielerreichung und ist damit wirkungsbezogen. Das ist ein essenzieller Punkt, um nicht in die Spirale von «Command and Control» zu geraten, was logischerweise jedem Mitarbeitenden schnell ablöschen würde.

Neues E-Banking

CW: Lassen Sie uns träumen. Was würden Sie als Erstes ändern, wenn Sie ein zusätzliches IT-Budget von 100 Millionen Franken zur freien Verfügung hätten?
Kunzelmann: Mein Traum wäre es, eine «abundant IT» zu haben, die nicht mehr ein Engpassfaktor ist, aber dafür bräuchte es viel mehr als nur Geld. Wir haben es gehört: Unser Kernbankensystem unterliegt einem strengen Takt mit vierteljährlichen Releases. Da verlieren wir heute viel Zeit, insbesondere in den drei Domänen Kanäle, Produkte und Pricing. Diese Abhängigkeit abzubauen und mehr Geschwindigkeit zu erreichen, das wäre mein grösster Wunsch.
Wick: Bei mir geht es in eine ähnliche Richtung. Mein grösster Wunsch wäre sicherlich, dass die architektonische Erneuerung unseres Core-Bankings, die in den nächsten Jahren erfolgen wird, schon am nächsten Montag abgeschlossen wäre. Aber das könnte man wohl nicht mal mit sehr viel Geld in kurzer Zeit möglich machen. Ein anderes Thema, das uns als Bank wirklich weiterbringen würde und in das wir auch investieren, ist die Kundenschnittstelle im Distanzgeschäft. Es wäre toll, wenn wir durch Automatisierung die Wartezeiten bei der Kundenidentifikation am Telefon reduzieren könnten oder wenn wir eine Software hätten, die schon proaktiv weiss, welches Bedürfnis der Kunde morgen haben könnte, oder ihm nach drei erfolglosen Versuchen, ins E-Banking zu kommen, automatisch eine Lösung aufzeigen würde. In diese Richtung bewegen wir uns schon, aber es dürfte schneller gehen.
CW: Wie will sich die Migros Bank von anderen Banken abheben?
Wick: Beispielsweise sind wir die erste Finnova-Bank, die ihr eigenes E-Banking entwickelt. Wir wollten unseren Kunden mehr bieten, als was wir vom Software-Entwickler erhalten haben. Also machten wir uns selbst daran. Es wird das erste E-Banking-System sein, das für alle Geräte, egal ob Desktop oder Mobilgerät, immer die gleiche Source respektive dieselben Funktionen haben wird. Viele Apps sind auf irgendeine Art eingeschränkt, beispielsweise können keine Daueraufträge erfasst oder Auslandzahlungen gemacht werden. Bei uns wird das alles auf jedem ­Gerät im gleichen Look and Feel möglich sein. Das ist ein grosser Fortschritt.
CW: Gibt es dieses neue E-Banking schon?
Wick: Ja, für ungefähr 100 Kunden und unsere Mitarbeitenden. Mit dem nächsten Release sollten wir so weit sein, dass wir es für ein paar Tausend weitere Kunden aus­rollen können. Ab Herbst 2022 soll dann der grosse Rollout starten.
Zu den Personen und Firma
Manuel Kunzelmann ist seit Mai 2020 CEO der Migros Bank. Zuvor war er in verschiedenen Führungsfunktionen für die Basellandschaftliche Kantonalbank tätig, zuletzt als Mitglied der Geschäftsleitung und Verantwortlicher für den Geschäftsbereich Strategie und Marktleistungen. Früher arbeitete er in verschiedenen Leitungsfunktionen für die UBS.
Stephan Wick ist seit Ende 2004 CIO der Migros Bank und verantwortet neben der IT auch deren Logistik. Vorher war er fünf Jahre als Software-Entwickler und Projektleiter bei der Schweizer Börse ­tätig und baute ab 1999 das Business Competence Center Operations bei der Credit Suisse auf.
Die Migros Bank mit Sitz in Zürich ist eine hundertprozentige Tochter des Detailhandelskonzerns Migros. Gegründet wurde sie im Jahr 1958 von Gottlieb Duttweiler als alter­nativer Anbieter in der damals stark kartellisierten Bankbranche. Während sie in ihren Anfängen vor allem im Sparkonten- und Hypothe­kargeschäft tätig war, bietet sie seit den 1990er-Jahren auch Fonds und E-Banking-Dienstleistungen an. Seit 2009 nutzt die ­Migros Bank das Kern­bankensystem Finnova. Im Jahr 2021 belief sich ihre Bilanzsumme auf 54,6 Milliarden Franken und ihr ­Geschäftserfolg auf 234 Millionen Franken. www.migrosbank.ch



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