Social Credit System 22.06.2018, 17:00 Uhr

So forscht China seine Bürger aus

Ab 2020 werden alle Chinesen einem Kreditsystem unterzogen, das jeden ihrer Schritte überwacht und bewertet. Die Folgen sind drastisch. Und alle wichtigen chinesischen Internet-Konzerne mischen mit.
Menschen mit Social Scores
(Quelle: Zapp2Photo / Shutterstock.com)
Europa ist im DSGVO-Fieber: Newsletter-Versender schicken zu Tausenden Mails an ihre Leser und bitten um erneute Zustimmung zum Empfang. Ärzte fragen sich, wie sie vor dem Hintergrund des neuen EU-Regelwerks einen ordnungsgemässen Betrieb ihrer Praxis gewährleisten sollen. Handwerker erwägen den Kauf eines Zweit-Smartphones, damit ihre Kunden- und ihre privaten Kontakte nicht durcheinandergeraten. Und die Rechtsanwaltskammer Düsseldorf kapituliert in Gänze vor dem neuen Datenschutzrecht und nimmt die eigene Website vorsorglich vom Netz.

Ein Leben komplett ohne Datenschutz

In Rongcheng bekommt man von alldem nichts mit. Die kreisfreie Stadt am Gelben Meer ist unter Chinesen ein beliebtes Touristenziel. Eine nahe gelegene Schwanenkolonie und ein reiches Angebot an kulturellen Angeboten locken jedes Jahr 2,5 Millionen Touristen in die Stadt, die selbst rund eine Million Einwohner hat und damit für chinesische Verhältnisse eher mittelgross ist.
Während etwa in Berlin Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihrer Hoffnung Ausdruck verleiht, die deutschen Datenschutzbehörden würden bei der Bestrafung von DSGVO-Verstössen Augenmass bewahren, geschieht in Rongcheng, 7'800 Kilometer von Berlin entfernt, das genaue Gegenteil: Hier testet man, wie ein Leben ohne Datenschutz aussehen wird.

Einführung eines Sozialkreditsystems

Vor vier Jahren, am 14. Juni 2014, beschloss der Staatsrat der Volksrepublik China eine «Vorlage zur Einführung eines Sozialkreditsystems». Derzeit ist die Teilnahme daran freiwillig, ab 2020 soll sie für alle Chinesen verpflichtend werden. Und Rongcheng gehört zu den ersten Städten, in denen das System implementiert wurde – seit 2017 ist es hier in Betrieb.
Das Sozialkreditsystem, dem bislang ein eigener, griffiger Markenname fehlt und das deshalb häufig mit SCS abgekürzt wird, soll gesellschaftlich nützliches Verhalten belohnen, gesellschaftlich schädliches Verhalten dagegen sanktionieren. Der Regierung geht es dabei um vier Felder, in denen das Verhalten der Bürger erfasst, bewertet und verbessert werden soll:
  • «Aufrichtigkeit in Regierungsangelegenheiten», also zum Beispiel Unbe­stechlichkeit in Korruptionsdingen
  • «Kommerzielle Integrität», also Kreditwürdigkeit, Einkommensverhältnisse, Zahlungsdisziplin
  • «Soziale Integrität», also Teilnahme am sozialen Leben, Gemeinsinn
  • «Gerichtliche Glaubwürdigkeit»
Das derzeit favorisierte Modell sieht vor, dass jeder Bürger vom Staat 1000 Punkte Kredit bekommt. Für Wohlverhalten bekommt er Punkte hinzu, für negative Faktoren werden ihm Punkte abgezogen. Der Punktestand jedes einzelnen Bürgers führt dann, ähnlich wie bei einer Rating-Agentur, zu einer Einstufung. Wer 1300 Punkte oder mehr auf seinem Sozialkreditkonto hat, der bekommt ein AAA-Rating, bei 600 oder weniger Punkten droht die Einstufung in die schlechteste Kategorie D.

Über den Punktestand informiert eine App

Nicht nur die Einstufung der Bürger erinnert an gängige Rating-Verfahren, auch die Folgen sind auf den ersten Blick ähnlich. AAA-Bürger bekommen leichter einen Bankkredit oder eine Wohnung.
Das chinesische System geht viel weiter als etwa die deutsche Schufa. Denn die eigene soziale Kreditwürdigkeit soll kein Geheimnis mehr sein. Während Konsumenten in Deutschland nur mit Mühen konkret Auskunft über ihre Kreditwürdigkeit erhalten können, nutzen die Bürger von Rongcheng dafür einfach eine Gratis-App auf ihrem Smartphone.
Doch nicht nur sie haben jederzeit Einblick in ihren sozialen Kontostand. Auch Behörden sollen Zugriff auf die Sozialkreditdaten bekommen, Banken und Arbeitgeber, Vermieter, Einkaufsplattformen, Reiseveranstalter und Fluggesellschaften.

Der Social Score bestimmt über den Lebensstandard

Welche Dimensionen SCS erreicht, wird deutlich, wenn man die möglichen Folgen eines hohen und eines niedrigen Punktestands betrachtet: Wer ein gutes Rating vorweisen kann, der bekommt nicht nur leichter einen Bankkredit, er bekommt auch einfacher ein Flugticket für eine Auslandsreise und das passende Ausreise­visum dazu. Wie viel man für seine Krankenversicherung zahlen muss, ob man eine Zulassung für sein Auto bekommt und ob die eigenen Kinder studieren können: All dies hängt nach dem Willen der chinesischen Staatsführung künftig von Social-Rating ab.
Für Menschen mit einem niedrigen Kontostand können die Folgen gravierend werden: Sie haben es nicht nur schwerer, eine gute Wohnung, einen Kredit oder eine günstige Krankenversicherung zu bekommen. Sie können im Extremfall auch ihren Job verlieren – und grundsätzlich als gesellschaftlich unzuverlässig eingestuft werden.
Ein niedriges SCS-Rating kann sogar die Bewegungsfreiheit einschränken. Im Februar 2017 bestätigte der Oberste Volksgerichtshof in Peking eine Regelung, die in den letzten Jahren über sechs Millionen Chinesen aufgrund sozialen Fehlverhaltens den Zugang zu Flugzeugen verwehrte. 1,65 Millionen Chinesen sind sogar vom Bahnverkehr ausgeschlossen.

Totale Überwachung

Eine totale Bewertung des Bürgerverhaltens setzt auch eine totale Überwachung voraus. Und hier dürfte China international eine Führungsrolle einnehmen, die bisher bekannte Massstäbe sprengt. Rund 170 Millionen Videokameras setzen die Behörden landesweit ein, um vor allem die Städte lückenlos zu überwachen. Bis 2020, so der Plan, sollen weitere 400 Millionen Kameras hinzukommen. Dann wird auf etwa drei Chinesen ein Videospion kommen. Um die zahllosen Videosignale überhaupt sinnvoll auswerten zu können, arbeiten die Polizeibehörden intensiv an der Einführung einer Gesichtserkennungs-Software.
Wie erschreckend effektiv dieses System inzwischen funktioniert, konnte der BBC-Reporter John Sudworth Ende 2017 am eigenen Leib erfahren. Er streifte zu Fuss durch die City der Millionenmetropole Shanghai – und die Polizei brauchte gerade einmal sieben Minuten, um ihn zu finden und zu stellen. Dabei ging es nicht darum, einen potenziell missliebigen Journalisten festzusetzen. Ganz im Gegenteil: Die Stadtverwaltung von Shanghai hatte Sudworth eingeladen, um ihm die Leistungsfähigkeit ihrer Überwachungstechnik zu demonstrieren.
Im Gegensatz zu Geheimdiensten wie der ehemaligen Stasi geht die chinesische Staatsführung unter dem neuen starken Mann Xi Jinping mit den Möglichkeiten der Überwachung ganz offen um. Sie sieht die Chinesen nicht als Menschen mit einer fragilen Privatsphäre, die es zu schützen gilt, sondern als Staatsbürger, zu deren Pflicht es gehört, durch ein systemkonformes Leben der Gesellschaft nützlich zu sein. Dass dabei kritische Geister dauerhaft in Misskredit kommen, ist für Xi kein Fehler im System, sondern ganz natürlich. Der Staatspräsident hat offiziell die Losung ausgegeben «einmal unglaubwürdig, dauerhaft eingeschränkt».

Eine Alibaba-Tochter testet das Rating bereits

Für das Rating der Bürger spielt ihr Konsumverhalten eine wichtige Rolle. Und alle grossen chinesischen Online-Konzerne arbeiten fleissig mit an der Vision des gläsernen Bürgers. So liefert Alibaba nicht nur Daten zum Einkaufsverhalten seiner Kunden auf seinen Plattformen Tmall und Taobao, sondern hat über sein Kreditportal Sesame Credit bereits eine private Variante des Social-Credit-Systems gestartet. Sesame-Credit-Kunden, die sich freiwillig registrieren, bekommen Bonuspunkte für den Kauf von Bio-Produkten und gesunden Nahrungsmitteln. Wer hingegen Junk Food ordert und den ganzen Tag Videospiele zockt, wird mit Abschlägen bestraft. Für mustergültiges Verhalten winken Rabatte auf Flugreisen oder die Möglichkeit, ein Auto zu mieten, ohne eine Sicherheitsleistung zu hinterlegen.
Was in hierzulande wütenden Protest hervorrufen würde, scheint in China ganz gut anzukommen. So berichtet die Autorin Rachel Botsman in der britischen Ausgabe von «Wired» von jungen Leuten, die einen hohen Social Score als Statussymbol sehen. Sesame Credit teilt seine Rating-Daten nämlich mit Baihe, dem grössten Dating-Portal Chinas. Die Folge: Wer über systemkonformes Verhalten, eine saubere Kreditlinie und gesunde Ernährung viele Sozial-Punkte gesammelt hat, rankt plötzlich auch beim Dating weiter oben.

Grosser Datensatz

Derzeit kann Sesame Credit bereits aus einem Datenschatz schöpfen, der bei Facebook und Google Neid erzeugen dürfte. Denn im Alibaba-Reich wird dem Kunden für nahezu jede Situation des Konsumenten-Lebens eine Lösung angeboten, vom Online-Shopping über Messaging, Online-Gaming, Payment bis hin zu Krediten, Flug- und Kinotickets, Mietwagen und Taxidiensten. Nach eigenen Angaben hat Alibaba allein im Online-Handel 800 Millionen Kundenprofile analysiert. Wer all diese Daten auswerten und intelligent miteinander verknüpfen kann, der erhält ein so genaues Profil seiner Kundschaft, wie es sich deutsche Datenschützer kaum vorstellen können.
Doch Hu Tao, Geschäftsführerin von Sesame Credit, genügt das noch nicht: Unlängst gab sie bekannt, dass sie bei staatlichen Universitäten nach Listen mit Studenten nachgefragt habe, die beim Schummeln erwischt worden waren.

Kontrolle auf Schritt und Tritt

Doch das sind noch nicht alle Möglichkeiten. Wenn SCS ab 2020 landesweit ausgerollt wird, werden sämtliche elektronisch zugänglichen Dokumente der Bürger miteinander verknüpft, seien es Bankunterlagen, Gerichts- oder Krankenakten. Dazu sollen Erkenntnisse aus der Videoüberwachung kommen. Falsches Parken könnte ebenso aktenkundig werden wie Drängeln an der Supermarktkasse. Dafür sind allerdings noch einige technische Hürden zu meistern. Denn die korrekte Analyse des Bewegungsablaufs eines Menschen ist ungleich komplizierter als die Gesichtserkennung. Andererseits: Wenn die automatische Videoüberwachung meldet, dass sich ein Bürger mit schlechtem SCS-Rating an einem Ort aufhält, ist es schon heute möglich, dass ein menschlicher Kontrolleur sich das auf dem Bildschirm einmal genauer ansieht.
Genauso offensiv, wie sich die Regierung bei ihren Überwachungsplänen gibt, werden auch Massnahmen diskutiert, die den Social Score verbessern können. So bietet zum Beispiel Sesame Credit explizit Reisen zu bestimmten Destinationen an, die sich positiv auf das Punktekonto auswirken können. Garniert wird die Offerte mit dem Ratschlag, dort vorzugsweise mit Menschen hinzufahren, die ebenfalls ein gutes Scoring haben. Der allzu nahe Kontakt mit Menschen mit schlechter SCS-Einstufung kann hingegen dem eigenen Rating schaden.
Der Regierung unter Staatschef Xi Jinping spielt SCS in mehrfacher Hinsicht in die Karten: Wenn ein hohes SCS-Rating quasi zum «Volkssport» wird, treten vermutlich wirklich einige positive Effekte zutage – und wenn es nur der vermehrte Genuss von Bio-Obst, mehr Mitgliedschaften bei Fitnessstudios oder häufigere Besuche bei Verwandten sind.

Millionen Chinesen haben keine Kredithistorie

Zudem leidet China an einem Problem, das für ein schnell gewachsenes Entwicklungsland typisch ist: Hunderte Millionen von Chinesen sind nicht kreditwürdig im klassischen Sinn, weil sie keine Kredithistorie besitzen. Sie hatten noch nie ein Haus, ein Auto oder eine Kreditkarte. Sie haben noch keinen Kredit aufgenommen und auch sonst nichts getan, was zur Bewertung ihrer finanziellen Zuverlässigkeit taugen würde. Nach Einschätzungen chinesischer Finanzexperten entsteht allein dadurch der Volkswirtschaft ein jährlicher Schaden von 600 Milliarden Yuan – über 90 Milliarden Franken.

Ein Klick reicht aus, um Dissidenten zu terrorisieren

Auf der anderen Seite eignet sich SCS natürlich hervorragend, um systemabweichendes Verhalten zu ahnden. Das kann – wenn der Social Score des Einzelnen kein Geheimnis ist – bei Funktionsträgern in niederen und mittleren Hierarchiestufen als Korrektiv dienen. Wenn sich ein Funktionär sichtbar schlechte Angewohnheiten leistet, so die Theorie, müsste sich das auch in seinem Social Score zeigen – und seine Mitbürger würden es mitbekommen.
Aus Sicht des Westens weit besorgniserregender ist die Möglichkeit, mit dem SCS Dissidenten und Regimekritiker unter Druck zu setzen. Wer etwa den Social Score eines Andersdenkenden zerstören kann, muss sich keine Mühe mehr mit weiteren Sanktionsmöglichkeiten geben. Die Schikanen, die autoritäre Regimes gern auf Gegner anwenden, geschehen mit SCS vollautomatisch – vom Zugticket, das man nicht mehr kaufen kann, bis zum Internet-Anschluss, der immer langsamer wird. Denn High Speed bekommen selbstverständlich nur die High Scorer.

Ein manipulierter Punktestand

Und ein manipulierter Punktestand liesse sich vom Geheimdienst ebenso spurlos wieder nach oben korrigieren, sobald der Bürger auf Linie ist – oder eine Verpflichtung zum Schnüffeln unterschrieben hat.
Angesichts solcher Aussichten ist es nur ein schwacher Trost, dass ein solches digitales System auch digital ausgehebelt werden könnte. So haben anonyme Blogger bereits in Aussicht gestellt, dass es, sobald der Staat das Aufrufen bestimmter News-Seiten im Netz als Zeichen aufrechter kommunistischer Gesinnung belohnt, nur noch eine Frage der Zeit sein könne, bis es einer programmiert – das Script, das automatisch jene Seiten am Computer aufruft, von denen das Regime meint, dass ein guter Staatsbürger sie gelesen haben muss.



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