Computerworld vor 30 Jahren
29.12.2021, 06:08 Uhr

Blick zurück in die Zukunft von 1991

Der Computer hatte 1991 weit weniger Auswirkungen auf Beruf und Alltag, als die Forscher prognostiziert hatten. Computerworld Schweiz verglich die Vorhersagen von 1971 mit der Realität.
Stimmlokal: Die Teledemokratie war noch  in weiter Ferne
(Quelle: Computerworld Schweiz)
Unter dem Titel «Viele Prognosen haben sich als heisse Luft erwiesen» blickte Computerworld vor 30 Jahren zurück auf die Prognosen, die zu Beginn des Informationszeitalters für Angst und Schrecken gesorgt hatten. Als Anfang der Siebzigerjahre die ersten Mikrochips das Tageslicht erblickten, sagten viele Marktforscher, Wissenschaftler und Zukunftsautoren tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen voraus. Von Massenarbeits­losigkeit, Zukunftsschocks und postindustriellen Freizeitgesellschaften war die Rede.
Ein Siemens-Report schätzte, dass vier von zehn Bürojobs durch den Mikrochip zerstört und viele Sachbearbeiter zu Bürohilfskräften degradiert würden. Ein Ausschuss des amerikanischen Senats diskutierte Anfang der 1970er gar die sozialen Auswirkungen einer 22-Stunden-Woche und einer Pensionierung mit 38 Jahren. Zudem sollten die Angestellten 1991 in einem papierlosen Büro arbeiten und in einem elektronischen Haus leben, wo mit künstlicher Intelligenz ausgerüstete Robotermenschen die Alltagsarbeiten verrichten und wo die Fleisch-und-Blut-Menschen per Knopfdruck über politische Angelegenheiten abstimmen.
Ferner war vor 50 Jahren von Telearbeit, Teleshopping und der menschenleeren Fabrik die Rede. «Die Wahrheit ist, dass sich der Wandel weit weniger spektakulär vollzieht. Ausserdem hat sich die Gesellschaft eigentlich nicht sehr viel verändert», hielt Tom Forester von der Universität Brisbane Ende 1991 an der Tagung «Wo bleibt die Informationsgesellschaft?» des Gottlieb Duttweiler Instituts fest. Die Computer seien zwar in viele Bereiche eingedrungen und hätten sich als nützliche Werkzeuge erwiesen, doch für die grosse Mehrheit gehe das Leben im alten Trott weiter.

Mehr Arbeit trotz Computer

Computerworld konstatierte, dass sich keine der vor 20 Jahren gemachten Vorhersagen als haltbar erwiesen habe. Sie hätten einzig denen Geld eingebracht, die wie Naisbitt in Büchern, auf Konferenzen und in Seminaren den staunenden Lesern und Zuhörern digitalen Märchensand in die Augen streuten. Die Computerisierung hätte nicht zur Massenarbeitslosigkeit geführt, sondern in einigen Unternehmen seien durch Mikroelektronik sogar Arbeitsplätze entstanden. Auch müsse die grosse Mehrheit der Angestellten härter arbeiten als jemals zuvor. So sei in den USA von 1973 bis 1989 der Freizeitanteil um 37 Prozent gesunken. Im gleichen Zeitraum stieg die Dauer einer Arbeitswoche – inklusive Weg zum Arbeitsort – von 41 auf fast 47 Stunden. Dies alles trotz Computern und Textverarbeitungsprogrammen. Darüber hinaus müssten immer mehr Amerikaner einen Zweitjob ausüben, um über die Runden zu kommen.
Wie schon seit Jahren warteten die Menschen auch 1991  noch ver­gebens auf die menschenleere und vollautomatisierte Firma. In den USA sollten 1990 laut den Prognosen 250'000 Roboter eingesetzt werden; in Wirklichkeit betrage die Zahl 37 000. Dabei seien einige Roboter häufiger krankgeschrieben als ein verletzungsanfälliger Spitzensportler.
Die Reihe liesse sich beliebig fortführen, so Computerworld: Im Vergleich zu den kühnen Weissagungen setzten sich Electronic- und Voicemail sowie Videotex erst ganz langsam durch. Beispielsweise halte sich bisher die Abonnentenzahl und Nutzung des helvetischen Videotex, von der PTT als ernst zu nehmendes Kommunikationswerkzeug angepriesen, so sehr in Grenzen, dass man vier Jahre nach Einführung gerade einen Kostendeckungsgrad von 20 bis 30 Prozent erreiche. Um zu einer 100-prozentigen Kostendeckung zu kommen, brauche es rund 240'000 Videotexteilnehmer. Anfang der 1990er waren es knapp über 60 000.

Kein papierloses Büro, kein Heimbüro

Überdies arbeitete kaum jemand in den eigenen vier Wänden. Die Gründe: wenig Platz, Familienkonflikte, Einsamkeit und Lärm. Auch im Schulzimmer hielt sich die Computer-Revolution in Grenzen. So wurden bisher keine Lehrer ersetzt, weil die Lernprogramme nur von begrenztem erzieherischen Wert sind. Zwar wurde in den amerikanischen Schulen viel in Hard- und Software investiert, doch viele Erzieher seien der Meinung, man solle wieder mehr Geld für Schulbücher und bessere Lehrer ausgeben.
Pen-Computing, Bildtelefon und Multi­media: auch 1991 noch visionäre Technologie
Quelle: Computerworld Schweiz
Eine der grössten Fehlprophezeiungen sei nach dem Bericht der Computerworld aber das papierlose Büro. Trotz Personalcomputer und Textverarbeitungsprogrammen sei in den letzten Jahren immer mehr Papier produziert worden. Eine Studie von IBM schätzte, dass heute immer noch 95 Prozent der Geschäftsinformationen auf Papier gespeichert ist. Zu den schwersten Niederlagen der Propheten gehört weiter, dass die Produktivität im Büro durch die Informationstechnik kaum gestiegen ist, wie Studien zeigen.

«Wes Brot ich ess, des Lied ich sing»

Der amerikanische Wissenschaftler Steven Schnaars fand heraus, dass die Trefferquote der Vorhersagen allenfalls 15 Prozent betrug. Dabei lagen nicht nur die Expertengruppen und Wissenschaftler, sondern auch die Marktforscher regelmässig voll daneben. Ergänzend stellte Professor Richard Brody fest, dass Hochrechnungen – beispielsweise für Homebanking, Homeshopping und Informations-dienste – stets viel zu optimistisch ausfielen. Der Grund: Einerseits erhielten sie von den Herstellern bereits geschönte Zahlen, andererseits wollten sie den Auftraggebern gefallen. Das alte Sprichwort «Wes Brot ich ess, des Lied ich sing» gelte auch noch in der Informationsgesellschaft. Zudem zeigten sich die Marktforscher recht arbeitsscheu. Denn beim Thema Teleshopping hätte eine kurze Analyse der vielen Modestudien gezeigt, dass der Einkauf für die meisten Menschen ein soziales Ereignis ist und bleiben wird, weil es neben dem Einkaufserlebnis die Chance bietet, ausser Haus zu gehen und Freunde zu besuchen.
Der Hauptgrund für die falschen Voraussagen liege indessen darin, dass die Propheten aus naiver Technikgläubigkeit der Technik eine viel zu grosse Rolle zuschrieben. Dagegen würden menschliche Bedürfnisse und Fähigkeiten viel zu wenig in Betracht gezogen. Viele neue Techniken hätten sich nicht im erwarteten Mass durchgesetzt, weil sie grösstenteils in alten enthalten sind oder für die Masse kaum etwas Neues bringen. So nutzt weniger als 1 Prozent der amerikanischen Haushalte einen Informa­tionsdienst, 5 Prozent sollten es mehreren Studien zufolge sein. Die Konsumenten seien nicht bereit, für belanglose Informationen zu zahlen. Einzig die Sexdienste liessen die Kassen der Anbieter klingeln.
Unrealistische Prognosen wurden aber auch – beispielsweise auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz (KI) – absichtlich hinausposaunt, um dem Staat das Geld für mil­liardenschwere Forschungsprogramme aus der Tasche zu ziehen. Immerhin macht KI-Häuptling Marvin Minsky keinen Hehl daraus, so Computerworld.

Unvorhergesehene Tücken der Technik

Die Prognostiker hätten Entwicklungen vorausgesagt, die nicht eintrafen. Tatsächlich seien aber Wirkungen eingetreten, die niemand vorausgesagt habe. Dazu gehören etwa Probleme, die durch unzuverlässige Software, Computerkriminalität, Hacking und Viren sowie fehlenden Datenschutz entstehen. Falsch oder nicht richtig funktionierende Hard- sowie Software und deren Ausfall sei viel verbreiteter als bekannt, erklärte das Analystenhaus Forrester 1991. Beispielsweise mussten 22 Soldaten wegen Software-Fehlern in Blackhawk-Helikoptern ihr Leben lassen. Unumwunden gaben Programmierer 1991 zu, dass es unmöglich sei, eine komplexe Software ohne Fehler zu entwickeln. Ausserdem zeige die Erfahrung, dass sich bei jeder Korrektur wieder neue Fehler ins Programm einschleichen. 
Der britische Computerwissenschaftler John Collyer nahm in einem Forschungsbericht sogar an, dass falsch programmierte Rechner in den kommenden Jahren «in grossem Stil» Menschenleben fordern werden. In diesem Zusammenhang kritisierte der Philosoph Hans Lenk, dass die Kompetenzen immer mehr an integrierte Gesamt­systeme übergehen. Damit werde die Verantwortung entwertet, da diese jetzt im System stecke.



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