02.06.2005, 10:00 Uhr

Start-ups als ICT-Turbos

Cracks, die von Nortel und JDS nach der Jahrtausendwende massenweise freigesetzt wurden, gründen ­serienweise Start-ups und bescheren dem ICT-Cluster Ontario einen neuen Hype. Kanada verfügt mit der Provinz Ontario, die im Westen an Manitoba, im Osten an Québec, im Norden an die Hudson Bay und im Süden an die USA anstösst, über einen mächtigen ICT-Cluster (Informations- und Kommunikationstechniken), der drauf und dran ist, das kalifornische Mekka der Computerindustrie an Attraktivität zu überflügeln.
Denkt man an Kanada, so drängen sich zunächst Bilder von Bären, endlosen Wäldern und schneebedeckten Bergen ins Bewusstsein. Die Vorstellung, dass in den Weiten nördlich der Vereinigten Staaten auch die Hightechkultur in voller Blüte stehen könnte, mag nur schwer an die Oberfläche dringen. Dennoch verfügt Kanada mit der Provinz Ontario, die im Westen an Manitoba, im Osten an Québec, im Norden an die Hudson Bay und im Süden an die USA anstösst, über einen mächtigen ICT-Cluster (Informations- und Kommunikationstechniken), der drauf und dran ist, das kalifornische Mekka der Computerindustrie an Attraktivität zu überflügeln. Dieser Cluster verteilt sich auf drei grosse Zentren: Toronto und Umgebung, Ottawa sowie die Waterloo-Region. In diesem ICT-Korridor sind mittlerweile bereits mehr als 5000 forschende und produzierende Hightechunternehmen angesiedelt. Das Gros davon, nämlich rund 3300 Firmen, die 150000 Leute beschäftigen, befinden sich im Grossraum Toronto. Allerdings leben in diesem Gebiet auch 5,3 Millionen Menschen - fast fünf Mal soviel wie in Ottawa und zehn Mal soviel wie in Waterloo. Mit über 1700 Hightechschmieden und über 70000 Angestellten, verfügt Ottawa, das «Silicon Valley North», quantitativ daher über die grösste Dichte an ICT-Firmen. Die meisten davon konzentrieren sich auf Telekommunikationsausrüstung, Netzwerktechnik, Software und Photonik. In Toronto sind überdurchschnittlich viele Internetcompanies beheimatet, sowie Betriebe, die sich digitalen Medien wie etwa E-Learning oder elektronischen Spielen widmen. Die Stärken der gut 400 Unternehmen mit rund 15 000 Hightecharbeitern der Waterloo-Region liegen teils im Bereich der Mikroelektronik, teils in der Softwareentwicklung und Telekommunikation

Von Nortel zum Blackberry-Hersteller

Ontario hat in der Vergangenheit immer schon auf ICT-Firmen verweisen können, die auch global ein gewichtiges Wörtchen mitreden konnten und dies noch heute tun. Beispiele dafür wären Nortel, Mitel Networks, Cognos, Corel oder Open Text. Als die Netzwerk-ausrüsterin Nortel vor vier Jahren daran ging, im grossen Stil Leute abzubauen, so war das für diesen Triangel ein grosser Schlag. Aber die Branche ergab sich nicht wie in anderen Ländern einer lethargischen Lähmung hin, sondern sie nahm - mit Unterstützung der offiziellen Stellen - das Heft selber in die Hand. So wurden allein in Ottawa seit Mitte 2001 an die 700 neue ICT-Firmen aus dem Boden gestampft und die Hightecharbeiterschaft liegt zahlenmässig bereits wieder fast auf dem Niveau von Januar 2001, als mit 79000 die bis dato höchste ICT-Beschäftigtenzahl in der Region von Kanadas Hauptstadt registriert wurde.
Auch Nortel existiert noch, wenn auch stark abgespeckt und mit Dauerproblemen behaftet. Dafür gibt es neue Aushängeschilder, wie die in Waterloo angesiedelte Blackberry-Erfinderin Research in Motion (RIM). Die Handheldspezialistin hat allein seit Ende November 2004 eine Million mehr Abonnenten für ihren E-Mail-Push-Dienst ge-winnen können und zählt nun insgesamt gut 3 Millionen Black-berry-Kunden - Zehntausende mittlerweile auch in der Schweiz. Diese Zahlen entsprechen ziemlich genau der im April von RIM gestellten Prognose von 560000 bis 590000 neuen Kunden im ersten Quartal des laufenden Jahres, das mit Mai endete. Allgemein gilt es allerdings anzumerken, dass das Unternehmen im letzten Quartal nach einem Patentstreit kurzfristig in die roten Zahlen gerutscht ist.

Das Beispiel Ottawa

Jeffrey Dale, der Chef von Ottawas Centre for Research and Innovation (Ocri), einer staatlichen Abteilung für Wirtschaftsentwicklung, ist sich sicher, dass die Zahl der ICT-Jobs im Silicon Valley North von Ottawa bis 2008 um weitere 25 Prozent zulegen werde. «Ich habe die Leute satt, die mir dauernd ins Ohr flüstern, die Technik sei tot. Faktum ist, dass die Tech-Firmen wachsen!», so Dale.

Start-ups als ICT-Turbos

Besucht man um Ottawa angesiedelte Start-ups wie Nimcat, Pointshot oder Nakina, so kann man sicher sein, dass die Firmengründer respektive der Kern der Belegschaft ehemalige Nortel-Mitarbeiter sind. Sie strotzen vor Unternehmergeist und haben sich von der Krise nicht klein kriegen lassen. Und sie haben gute Nischen entdeckt. So hat sich die vor zweieinhalb Jahren gegründete Pointshot von Beginn an auf die Entwicklung von drahtlosen Lösungen für mobile Einrichtungen konzentriert. Unter Verwendung von Mobilfunk- und Satellitentechniken gilt Pointshot heute bereits als Marktführer in der Ausrüstung von Bahnen mit Internetzugängen. Auch in Europa kann das Unternehmen bereits mehrere Bahn-gesellschaften zum Kundenkreis zählen.
Ebenfalls die Fühler nach Europa ausgestreckt hat - wenngleich erst seit Mai - die Netzwerkerin Na-kina. Die Firma, die gegenwärtig 80 zumeist Ex-Nortel- und Ex-Alcatel-Mitarbeiter beschäftigt, agiert als eine Art Vermittlerin zwischen den unterschiedlichen Netzwerkherstellern und bietet Softwarelösungen zur Vereinfachung der Netzwerkkomplexität und Netzwerksicherheit an.
Die Peer-to-Peer-Technik zunutze macht sich das Start-up Nimcat Networks, um vor allem KMUs die IP-Telefonie schmackhaft zu machen. Nimcat entwickelte ein Plug-in für lokale Netzwerke (LAN), das kleineren und mittleren Betrieben funktionsbereite IP-Telefonie zu einem Bruchteil der klassischen Telefonanlagen ermöglicht. Eigentlich sind es PBX-Systeme (Private Branch Exchange) ohne PBX und ohne zentralen Server. Siemens Deutschland hat diesem Unternehmen einige Millionen kanadische Dollar an Venture-Kapital zur Verfügung gestellt, um die «Peer Telephony Exchange»-Voip-Lösung (PTX) zur Marktreife zu bringen. Was auch beweist, dass es für europäische Firmen durchaus lohnend sein kann, in diesen Techno-Cluster zu investieren.
Diese wie Pilze aus dem Boden schiessenden Start-ups leben in produktiver Ko-Existenz mit alten Platzhirschen à la Mitel, QNX oder Cognos. Letztere zählt mit 23000 Kunden in 135 Ländern zu den grössten Bu-siness-Intelligence-Anbietern (BI). Cognos-CEO Rob Ashe bezeichnet BI für Unternehmen als das neben Security derzeit wichtigste IT-Thema. Dementsprechend umkämpft ist dieses Marktsegment. Ashe glaubt, dass es in den nächsten zwei Jahren hier zu spektakulären Firmenübernahmen kommen könnte.

Start-ups als ICT-Turbos

Standortvorteile.
Dass im Ontario-ICT-Cluster derzeit ein regelrechtes ICT-Recovery stattfindet, liegt nicht zuletzt in den Rahmenbedingungen begründet. So versucht der Staat, durch grosszügige Steuergeschenke die Betriebsansiedlungen zu pushen. Ausserdem sorgen 20 Universitäten und 24 Colleges, aus denen jährlich 29000 fertige Ingenieure, Mathematiker und Naturwissenschaftler auf den Arbeitsmarkt drängen, dafür, dass ausreichend hochqualifiziertes Personal bereitsteht. Ausserdem verfügt Ottawa mit dem Institute for Microstructural Sciences (IMS) über ein Forschungszentrum, aus dem nach Meinung von Direktor Sylvain Charbonneau in den nächsten Jahren etliche Nobelpreisträger hervorgehen könnten.

Start-ups als ICT-Turbos

Facts und Figures

Der ICT-Cluster Ontario

Ottawa:
1,2 Millionen Einwohner; 1700 ICT-Firmen, 75000 Hightech-Arbeitskräfte; jährlicher ICT-Umsatz: rund 10,4 Milliarden Dollar.
GTA (Greater Toronto Area):
5,3 Millionen -Einwohner; über 3300 ICT-Firmen; 150000 Hightech-Beschäftigte; jährlicher ICT-Umsatz:
25 Milliarden Dollar.
Waterloo-Region:
0,5 Millionen Einwohner;
400 ICT-Firmen; 15000 Hightech-Arbeitskräfte; jährlicher ICT-Umsatz: 4,6 Milliarden Dollar.
Karlheinz Pichler



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