TOP-STORY 06.10.2005, 19:46 Uhr

Software von Lenins Erben

Das Erbe der Sowjetunion beeinflusst noch heute die IT-Industrie der GUS-Staaten: Positiv, weil der russische Tüftlergeist weiterlebt. Aber auch negativ, weil die verkrusteten Strukturen das Wachstum bremsen.
Lenins Erbe
Die höhere Ausbildung in der ehemaligen UdSSR wie auch dem heutigen Russland ist etwas, worauf die Russen immer selbst sehr stolz waren. Dass das Land führende Forscher etwa in der Physik hervorbrachte, zeigte sich unter anderem in den Nobel-Preisen, die 2001 an Jaures Alferov und 2003 and Alexei Abrikosov und Vitaly Ginzburg gingen. «Kombiniert man das technologische Know-how mit dem jüngsten Boom des Unternehmertums, ist die russische Softwareindustrie bestens gerüstet für enormes Wachstum», meint Dmitry Loschinin, CEO von Luxoft, eine der drei - gemäss Gartner - führenden russischen IT-Firmen. Pavel Adylin, CIO der russischen Swisscom-Partnerin Artezi, schlägt in dieselbe Kerbe: «Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat Russland ein ausgezeichnetes Schulsystem geerbt. Dieses sowie die höhere Ausbildung stellen Mathematik und technische Disziplinen in den Vordergrund. Daher hat das Land heute viele exzellent qualifizierte und dabei billige IT-Fachleute.»
Doch das Ausbildungssystem hat auch seine Schattenseiten. Andres Sviridenko, Chairman der russischen Spirit: «Kreative und offene Denkansätze wurden in der -Sowjetunion traditionell gefördert, das hat viele talentierte und einfallsreiche Softwareingenieure hervorgebracht. Allerdings sind die Hochschulabsolventen oft Theoretiker, keine Praktiker. Ausserdem findet man wenige hochspezialisierte Leute. Dazu müssen sie erst mehrere Jahre praktische Erfahrung sammeln.»

Know-how-Abgang ins Ausland
Eine hohe Hürde für die IT-Entwicklung ist die veraltete Technik sowie das Fehlen einer eigenen PC-Herstellung und eigener Software. Denn als der eiserne Vorhang fiel, wanderten viele gut ausgebildete Techniker ins Ausland: Der Brain-drain der IT führte diese Leute mehrheitlich ins kalifornische Silicon Valley.
Dort erwarben sich die russischen Einwanderer rasch den Ruf, Forschende im wahrsten Sinn des Wortes zu sein, Sie waren dafür ausgebildet zu hinterfragen, neue Lösungsansätze für alte Problemstellungen auszutüfteln. Sowjetische Programmierer galten als innovativ, weshalb sie oft zum Chief Technical Officer aufstiegen. Dort konnten sie ihr Potenzial entfalten, statt in Routinearbeit zu erstarren. Für die russische Wirtschaft jedoch war der Know-how-Verlust ein riesiger Schaden. Wenigstens aber versorgte die neue russische Community in den USA Firmen im Mutterland mit Kooperationsverträgen.
Gleichzeitig erwies sich das Image der technologischen Rückständigkeit als hinderlich für die Wiederbelebung der einheimischen IT-Branche. «Wir sollten täglich beweisen, dass wir verlässliche Geschäftspartner sind und kurzfristig qualitativ hochstehende Dienstleistungen erbringen können. Kunden, die gute Erfahrungen mit Russland, Weissrussland und anderen GUS-Staaten gemacht haben, sind die besten Zeugen unserer Modernität», sagt Sergei Levteev, CEO der weissrussischen IBA.
Tatsächlich lobt eine Studie von Fort-Ross und C-News Analystics die «hohe Qualität russischer Software», die in einigen Fällen sogar einem «Made in Germany» oder «Made in Japan» überlegen sei. Vor allem aber dürfte es kaum ein anderes Land geben, das so viel Wert auf Security lege wie Russland. Die Anwender könnten davon ausgehen, dass Software aus russischen Entwicklungsabteilungen keine Bugs enthalte, die Kriminellen Zugang zu Unternehmensnetzwerken oder vertraulichen Informationen verschaffe, befand die Studie.

Überbrachte Strukturen

Die heutige russische IT-Branche sei mehrheitlich von der spezifischen Infrastruktur der Post-Sowjet-Zeit geprägt, meint Mikhail Zavileysky, COO von Data-Art: «In Grossstädten wie St. Petersburg und Moskau sowie in der Ukraine dominieren kleine, offene Softwarefirmen. In Voronezh oder Weissrussland sind die Firmen grösser, dafür abgeschotteter. Dies deshalb, weil viele aus einstigen wissenschaftlichen Forschungszentren hervorgingen, die mit vertraulichen Informationen umgingen.»
Victor Weinstein, CEO von Aplana Software, ergänzt: «Das wissenschaftliche und programmiertechnische Erbe der Sowjet-union ist überdeutlich. Viele ehemalige Forscher haben heute Führungsrollen in Management und Entwicklung in wichtigen IT-Firmen inne. In der Betriebswirtschaft mögen sie Defizite haben. Aber sie haben Erfahrung mit geschäftskritischen, komplexen und verlässlichen IT-Systemen, zum Beispiel für die regionale Flugverkehrsüberwachung.»
Die Forschungsinstitute sind zwar Brutstätten der IT-Industrie, sie leiden jedoch oft an ineffizienten Sturkturen und Management. Die meisten wissenschaftlichen und technischen Institute agieren autokratisch und isoliert. Seit den 1920-er Jahren hatten dort klare Hierarchien existiert mit dem Ziel, das nationale Verteidigungssystem zu stärken und die Solls der Planwirtschaft zu erfüllen. Der Output der Forschungsinstitute orientierte sich nie an den wirtschaftlichen Bedürfnissen. Dennoch wurden dort komplexe Berechnungen, mathematische Algorithmen und Simulationen physikalischer und chemischer Prozesse als Kernkompetenzbereiche betrieben.
Jetzt allerdings ist eine tiefgreifende, vom Staat ausgehende Reform der Institutionen erforderlich. Viele Forscher haben eigene Privatfirmen lanciert, was den Technologie- und Know-how-transfer zwischen Wissenschaft und Industrie erleichtert.

Veraltetes Managerbild

Ein weiteres Erbe der heutigen russischen IT-Industrie ist der sowjetische Führungsstil. Das bedeutet, dass Besitzer und Manager des Unternehmens autoritär agieren und ihre Macht nicht teilen. Ihre Firma ist für sie wie ein Kind, das sie niemand anderem überlassen wollen. Die Folge davon: Sie behindern die Weiterentwicklung ihres Kindes. Viele Manager glauben zudem, dass der Arbeitslohn das einzige ist, das zählt - ein grosser Fehler. Russland sieht sich in nächster Zukunft auch nicht mit der Frage konfrontiert, seine Mitarbeiter mit dem Verkauf von Aktien motivieren zu können - wiederum nicht, weil die Manager nicht bereit sind, ihre Macht zu teilen.
Fort-Ross und C-News Analystics sagt dazu: «Die Achillesferse der russischen Unternehmen ist ihre Struktur, der die nötige Flexibilität für erfolgreiche Entwicklungen fehlt. Die überwiegende Mehrheit der russischen Softwareentwicklungsfirmen ist so organisiert, dass der Besitzer gleichzeitig der Chef ist. In einigen Fällen ist der Besitzer sogar der Chefbuchhalter. Zum Glück ändert sich das jetzt ganz allmählich.»

Dynamisches Wachstum

Trotz aller nachteiligen Erbschaften aus der Sowjetunion wächst der russische IT-Markt schneller als in vielen anderen Ländern. Die Zuwachsrate liegt heute bei rund 20 Prozent. 2010 soll die IT-Branche 40 Milliarden Dollar Wert sein, prognostiziert das Ministerium für IT und Kommunikation. Der Export von Software und Dienstleistungen wächst dabei überporportional: Seit dem Jahr 2000 steigt die Exportrate von Software um 40 bis 50 Prozent jährlich. Im laufenden Jahr soll die Ein-Milliarden-Dollar-Grenze übreschritten werden.
Die Wachstumsrate könnte indes noch deutlich höher liegen, wenn der Export vom Staat unterstützt würde. «Es ist hinlänglich bekannt, dass die russische IT-Branche auf eigene Faust begonnen hat zu arbeiten, ohne staatliche Hilfestellung», sagt Velentin Makarov, Präsident des russischen IT-Verbandes Russoft. «Zum Glück kam es im -November 2004 endlich zu einer gemein-samen Aktion, um private und öffentliche Partnerschaften zwischen Regierung und IT-Verbänden voranzutreiben. Diesen Herbst will die Duma entsprechende Anpassungen der Steuergesetzgebung diskutieren. Weitere Gesetze werden geändert werden mit der Zielsetzung, den Export von IT-Leistungen anzukurbeln. So gibt es etwa Konzepte, die IT-Forschungsparks und -Privatfirmen zu vernetzen. Das wäre ein weiteres wichtiges Signal des Staates an die Industrie.»
Galina Kutznetsova * /CB



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