25.03.2015, 09:45 Uhr

Die Neuerfindung des Autos

Was hat die Consumer-Electronics-Show CES mit der Automobilindustrie zu tun? Sehr viel. Touchscreens im Cockpit, Steuerung per Smartphone und autonomes Fahren zählen zu den Stars der Veranstaltung. Das Auto wird gerade neu erfunden – mit IT.
Jens Engehausen ist Associated Partner bei MHP am Standort Zürich-Regensdorf. Dr. Oliver Kelkar ist Associated Partner und Leiter P&I bei MHP.
Die Automobilindustrie befindet sich in einem Transformationsprozess gewaltigen Ausmasses. Die Vernetzung der Fahrzeuge, die sogenannten «Connected Cars», spielen dabei eine zentrale Rolle. Das ist aber noch lange nicht alles. Der Klimawandel stellt den heute üblichen Individualverkehr infrage und bringt alternative Fahrkonzepte hervor. Dazu zählen neben Elektromobilität auch Car-Sharing-Modelle und die intelligente Kombination unterschiedlichster Verkehrsmittel – die multimodale Mobilität. Aber auch in die Interaktion mit den Fahrern ist Bewegung gekommen. Anstelle traditioneller Vertriebs­kanäle tritt eine individuelle Ansprache. Die Kunden erwarten immer selbstverständlicher Autos, die möglichst individuell – aber dennoch in kurzer Zeit – nach ihren Wünschen gefertigt werden. Um das leisten zu können, müssen Hersteller und Zulieferer ihre Produktion massiv flexibilisieren. Industrie-4.0-Konzepte, die Rohstoffe und Teile, Maschinen und Anlagen, letztlich auch die Fahrzeuge selbst miteinander vernetzen, sind die Voraussetzung. Die IT wird damit auch in der Automobilindustrie zu einem wesentlichen Standbein. Folglich spielen auch IT-Grössen neu im Wettbewerb mit. Apple und Google arbeiten intensiv an Elektroautos und setzen die etablierten Unternehmen – Hersteller, Zulieferer und Händler – enorm unter Druck. Im Zuge des beschriebenen Wandels werden zahlreiche Projekte in unterschiedlichen Fel­dern zu stemmen sein. Dennoch lassen sich drei Handlungsfelder identifizieren, die be­sonders wichtig sind und gewissermassen die Klammer für alle übrigen Themen bilden.

IT-Kompetenz in der Entwicklung

IT ist für die Unternehmen nicht mehr länger nur Mittel zum Zweck. Hardware und Software im Auto ist der Zweck selbst. Mit der Produkt-IT hat die Automobilindustrie bislang aber kaum Erfahrungen. Die IT-Abteilungen verantworten vor allem die Unternehmens-IT entlang der Wertschöpfungskette – vom PLM-System bis zum Dealer-Management-System. In den Entwicklungsabteilungen beschäftigen sich derzeit nur einige wenige Ingenieure damit, Car-IT-Komponenten zu realisieren, vor allem im Bereich Infotainment. Das ist allerdings in Ausmass, Komplexität und Anspruch nicht damit vergleichbar, was mit den vernetzten Fahrzeugen auf die Hersteller zukommt. Relativ gut werden Hersteller und Zulieferer noch mit all jenen Technologien und Anwendungen umgehen können, die unmittelbar mit der Sensorik oder der Elektronik der Fahrzeuge verbunden sind. Dazu würde zum Beispiel eine App für das Smartphone zählen, über die sich der Ladezustand der Batterie eines Elektrofahrzeugs anzeigen lässt. Deutlich herausfordernder ist es, Apps und dazugehörige Nutzungs- und Geschäftsmodelle umzusetzen, für die das Fahrzeug lediglich ein weiteres mobiles Endgerät darstellt. Hier geht es also etwa um Anwendungen, mit denen sich über das Cockpit ein Musik-Streaming-Dienst abonnieren lässt oder soziale Netzwerke aufgerufen werden können. Den IT-Abteilungen der Autoindustrie fehlt bislang das Know-how, solche Dienste auf dem Niveau zu entwickeln, das Autofahrer auf ihren Smartphones und Tablet-PCs gewohnt sind. Eine weitere Schwierigkeit: Automobilhersteller denken in Produktentstehungszyklen von vier bis fünf Jahren. Für Apps auf mobilen Endgeräten sind jedoch zum Teil wöchentlich Updates üblich. Die Arbeits- und vor allem Freigabeprozesse müssten also extrem modifiziert werden. Die entscheidende Frage bei all dem ist: Wollen die Hersteller ihre IT-Abteilungen überhaupt in die Lage versetzen, ein Ökosystem von mobilen Anwendungen zu schaffen, das den hohen Erwartungen der Kunden entspricht und mit dem sie den grossen IT-Unternehmen ernsthaft etwas entgegenzusetzen haben? Oder entschlies­sen sie sich, strategische Partnerschaften mit Google, Apple und Co. einzugehen? In diesem Fall müssten die IT- und Entwicklungs-Abteilungen lediglich die passenden Schnittstellen schaffen und dafür sorgen, dass alle sicherheitsrelevanten Bereiche des «Connected Car» geschützt sind. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Integration von Prozessen

Integration von Prozessen

Der Wandel in der Automobilindustrie macht es notwendig, dass die fachbereichs- und unternehmensübergreifende Integration zunimmt und der «Connected Car» selbst direkt eingebunden wird. Beispielsweise können dann permanent über Sensoren am Fahrzeug gesammelte Daten vielseitig ausgewertet werden. Vertrieb und Marketing können diese nutzen, um die Kunden gezielt anzusprechen. Oder es lässt sich auf Basis der Daten der Zustand eines Fahrzeugs sehr genau bestimmen und automatisiert der nächste Wartungstermin vereinbaren. Die aggregierten Daten sind auch für die Entwicklung interessant, um beispielsweise zu erkennen, wo noch Optimierungspotenzial besteht. Komplex ist auch die Berechnung der CO2-Bilanz (Product Carbon Footprint) eines Autos, weil hier Daten zum gesamten Lebenszyklus und von verschiedenen Parteien zusammengetragen werden müssen. Das reicht vom Abbau der Rohstoffe bis zum Recycling. Es lies­sen sich noch zahlreiche Szenarien ergänzen – zumal dann, wenn man an die vernetzte Produktion denkt. Eine zentrale Aufgabe der IT-Abteilungen wird es damit immer mehr sein, sämtliche logischen Verbindungen zu identifizieren und exakt zu beschreiben. Im nächsten Schritt müssen sie dann in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Fachbereichen und Partnern die Prozesse neu gestalten, um zuletzt die techno­logischen Voraussetzungen für ungehinderte Informationsflüsse zu schaffen. Hier wird die Kunst darin bestehen, die sehr unterschied­lichen IT-Systeme intelligent und mit einem vertretbaren Aufwand zu verzahnen. Wenn dabei eine unüberschaubare Anzahl von einzelnen Schnittstellen vermieden werden soll, sind auf modernen Webtechnologien basierende Services und Cloud-Dienste die erste Wahl. Dabei stellen sich dann allerdings einige Sicherheitsfragen, die verlässlich beantwortet werden müssen.

Mehr Kundenorientierung

Soll diese umfassende horizontale und vertikale Integration gelingen, muss den IT-Abteilungen in den Unternehmen und darüber hinaus vertraut werden. Häufig ist das aber nicht der Fall. Aus Sicht der Fachbereiche trägt die IT kaum zur Wertschöpfung des Unternehmens bei und verursacht lediglich Kosten. Diese Einschätzung ist zwar deutlich übertrieben, aber auch nach unserer Erfahrung verstehen sich heute nur die wenigsten IT-Abteilungen als kundenorientierte Dienstleister. Das muss sich dringend ändern. Konkret bedeutet das beispielsweise, dass die IT endlich als engagierter Berater von sich aus den Einsatz innovativer und mehrwertstiftender Technologien anregt und konsequent neue Möglichkeiten aufzeigt. Wichtig ist auch, bei den Fachbereichen das Verständnis für Tech­nologiethemen zu steigern: etwa mit einem Kosten-Nutzen-orientierten Business-IT-Alignment, einer gemeinsamen Themenlandkarte oder einem visuellen Management. Schliesslich geht es auch darum, die eigene Abteilung nach klaren Kennzahlen zu steuern und Verschwendung systematisch zu identifizieren sowie zu beseitigen. Und noch eines kann wesentlich zur Aufwertung der IT-Abteilungen beitragen. Während sie bislang fast ausschliesslich die Infrastruktur für die eigentlich wertschöpfenden Prozesse bereitgestellt haben, werden sie beim «Connected Car» ganz erheblich zur Wertschöpfung beitragen. Möglicherweise wird die tech­nologische Ausstattung eines Autos sogar zum zentralen Verkaufsargument.

Fazit: Agilität ist ein muss

Mit dem Wandel einer ganzen Industrie steht also auch ein enormer Wandel für die IT-Abteilungen in den Unternehmen an. Wohin der Weg genau führt, lässt sich dabei heute noch nicht exakt sagen. Fest steht aber, dass die Dynamik zunimmt und Flexibilität zur Kerntugend der Unternehmen wird. Für die IT-Abteilungen bedeutet das: Sie müssen sich in die Lage versetzen, den Wert neuer Themen und Technologien für das Unternehmen rasch sowie präzise zu
bestimmen und dann gegebenenfalls zügig und konsequent einzuführen. Eine agile Organi­sation der IT-Abteilung ist dafür ein Muss.



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