08.09.2006, 09:16 Uhr

«Die digitale Welt ist die reale Welt»

Ike Nassi war Techniker bei Apple, Cisco, DEC und SAP, er hat mehrere Firmen gegründet, Ada miterfunden und in Berkeley, Stanford und am MIT unterrichtet. Im Interview mit Computerworld orakelt er über die Zukunft der IT.
Laut IT-Guru Ike Nassi werden künftig reale und digitale Welt verschmelzen.
Gary Anthes ist Redaktor bei unserer US-Schwesterzeitung Computerworld; Übersetzung Catharina Bujnoch.

Computerworld:Welche grösseren Neuerungen stehen in der IT derzeit bevor?
Ike Nassi:Reale und IT-Welt verzahnen sich immer mehr, und das in zunehmend schnellerem Tempo. Ein Katalysator dafür ist RFID in sensorischen Netzwerken sowie die zunehmende Nutzung von Mikroprozessoren, die überall eingebaut werden. Wir setzen heute Dinge um, die noch vor drei oder fünf Jahren unvorstellbar waren. Zum Beispiel staffiert die kalifornische Stadt Palo Alto ihre Feuerwehrautos mit Drahtloskommunikation aus, so dass die Löschfahrzeuge bis hin zu den Backend-Systemen auf SAP zurückverfolgt werden können. Eine Zielsetzung dabei war etwa, nachvollziehen zu können, warum ein Löschfahrzeug einen nichtoptimalen Anfahrtsweg nehmen würde.
Computerworld: Haben Sie ein weiteres Beispiel für diese Art allgegenwärtiger Drahtlosvernetzung?
Ike Nassi: In jedem Auto stecken längst unzählige Mikroprozessoren, doch das Networking wird dabei nur schleppend genutzt. Wir arbeiten an Backend-Webserivces für netzwerktaugliche Fahrzeuge. Wenn alles vernetzt ist, kann ich im Auto zum Beispiel ein Mail empfangen, das mir mitteilt, dass ein Ölwechsel fällig ist. Statt dessen teilt mir die Mail mit, dass ein Software-Update fällig sei. Wäre das Ganze vernetzt, könnte man mir sagen, dass ein Garagenbesuch ansteht, und gleich einen Link mitschicken, über den ich einen Termin abmachen kann. An dem Tag könnte dann das Update installiert werden. Es gibt zahlreiche solcher Backend-Services, die für das Auto beziehungsweise den Fahrer nützlich wären.
Computerworld: Wie könnten unternehmenstaugliche Appliaktionen in künftigen RFID- oder Drahtlosnetzen aussehen?
Ike Nassi: Wir beschäftigen uns mit RFID-basierten Fertigungsstrassen. Ein Grund dafür: Das Backend-System für das Lagerinventar stimmt oft nicht mit dem tatsächlich vorhandenen Inventar auf der Fertigung oder dem Teilelager überein. Wenn wir die Verwendung der einzelnen Teile aufzeichnen, gibt es schlussendlich weniger Unterbrechungen der Produktionsstrasse und akkuratere Verbrauchsprognosen. Und auch wenn ein Teil zurückgerufen werden muss, kann man genau nachvollziehen, in welchen Produkten es verwendet wurde.
Computerworld: Was raten Sie IT-Führungskräften angesichts dieser Verschmelzung von physischen und digitalen -Welten?
Ike Nassi: Erstens sollten sie bestehende Standards so rasch wie möglich einführen beziehungsweise sich anpassen, beispielsweise die Open Service Gateway Initiative (OSGI). Eine serviceorientierte Architektur könnte ein weiterer, grosser Vorteil sein, aus folgendem Grund: Wer bereits eine RFID-Applikation oder sensorenbasierte Netzwerkapplikation in Betrieb hat, hat ziemlich sicher auch schon eine grosse Datenmenge in seinen Backup-Systemen gespeichert. Diese Informationen erneut zu produzierten, treibt die Kosten in die Höhe und erhöht die Fehlerquote. Lassen Sie mich ein Beispiel geben: In einem konkreten Fall ging es darum, Eigenschaften zu verschiedenen Chemikalien, die in Fässern gelagert waren, aus verschiedenen Datenquellen zu kumulieren. Die Frage war, ob die Chemikalien risikolos nebeneinander gelagert werden dürfen. Würde man versuchen, so etwas ohne Integration von Daten und realer Welt zu lösen, wäre es viel teurer und dabei erst weniger akkurat.
Computerworld: Sensoren und RFID werden enorme Datenmengen produzieren. Wie sollen Unternehmen damit zurecht kommen?
Ike Nassi: In meiner Forschungsgruppe bei SAP arbeiten wir daran, solche Dinge ereignisspezifisch umzusetzen. Sobald Daten hereinkommen, will man über aussergewöhnliche Umstände informiert werden, nicht aber über die Routinegeschichten. Man will nur explizit darauf hingewiesen werden, was von Menschen gelöst werden muss - nicht die Automatismen, die Maschinen abarbeiten.
Computerworld: Wie geht das mit neuen Hardwarearchitekturen zusammen?
Ike Nassi: Die Hardwarewarelieferanten kommen nicht einfach bloss mit neuartigen Designs an und erwarten einfach, dass die Softwarehersteller sie schlucken. Die Situation ändert sich. Heute kommen sie zu uns, um uns miteinzubeziehen und unseren Rat einzuholen, bevor sie ihre Architekturen für 2010 festlegen. So fragen sie etwa, wie es um Parallelverarbeitung und Virtualisierung steht.
Computerworld: Wird SAP ihre Software anpassen, um die Parallelverarbeitung besser nutzen zu können, die mehrkernige Prozessorchips ermöglichen?
Ike Nassi: Wir tüfteln derzeit an den verschiedenen Granularitäten von Parallelverarbeitung: verteilt, grobkörnig, mittelfeinkörnig, Thread-basiert. Soweit ich weiss, arbeiten wir derzeit nicht auf feinkörnigem Level oder auf Parallelverarbeitung auf Befehlsebene. Allerdings würde es mich nicht wundern, wenn sich jemand bald auch daran machen würde.
Computerworld: Was braucht man bei den Programmiersprachen?
Ike Nassi: Unsere DNA bei SAP ist das fundierte Wissen um Geschäftsprozesse. Wenn Sie dann aber nachforschen, wo genau dieses Wissen in unserer Software eingebettet ist, kommen Sie zum Ergebnis: Es gibt hunderte Millionen Codezeilen, aber keine einzelne dedizierte Stelle, wo dieses Wissen verankert ist. Daher sehe ich eine künftige Welt vor mir, wo der Geschäftsprozess in einem durchdacht designten Stück Software vorliegt, wo das Modeling explizit ist und nicht nur von eingefleischten C++-Programmieren verstanden werden kann. Ich denke da an eine Art Scripting-Sprache, die allein dafür ausgelegt ist, um Geschäftsprozesse zu unterstützten.
Computerworld: Was wären die Vorteile einer solchen Sprache?
Ike Nassi: Man könnte die Geschäftsprozesse einfacher automatisieren und modifizieren. Auf diese Weise wird der Chief Information Officer in die Lage versetzt, den Compliance-Grad zu messen, und das wird immer wichtiger. Man will wissen, was die Software genau tut, man will möglichst viel Transparenz, um mit Compliance-Regeln konform zu gehen. Wir arbeiten an einer neuartigen Sprache - eine grafische Sprache, oder eine Scripting-Sprache, auf jedenfall etwas, das genau auf die Bedürfnisse von Business-Analysten zugeschnitten ist.
Meiner Meinung nach sind Modelle mit Prozessen, die in eine Netzwerkstruktur eingebettet sind, eine andere Form derselben Idee. Konkret denke ich dabei an etwas wie Ciscos Application-Oriented Networking, also ein intelligentes Message-Routing-System im Unternehmensnetzwerk. Damit soll es möglich sein, geschäftsrelevante Metadaten zu integrieren, mit denen der Messaging-Verkehr verwaltet und optimiert werden kann.
Gary Anthes



Das könnte Sie auch interessieren