Automatisierung krempelt Unternehmen um

Im Gespräch mit Andreas F. Lüth, Partner bei der ISG

Quelle: ISG
Andreas F. Lüth, Partner bei der Information Services Group (ISG), erklärt im Gespräch mit com! professional, warum es für eine Hyperautomatisierung mehr als nur die richtigen Technologien braucht.
Computerworld: Herr Lüth, das Marktforschungsunternehmen Gartner bezeichnet Hyperautomation als einen der Top-10-­Technologietrends für 2020. Was ist denn überhaupt neu und anders an der Hyperautomatisierung?
Andreas F. Lüth: Hyperautomation hat letztlich das Ziel, alles zu automatisieren, was sich automatisieren lässt. Neben der klassischen Robotics Process Automation (RPA) spielen hierbei vor allem KI-basierte Automationstechnologien wie Natural Language Processing (NLP) und intelligente Texterkennung (OCR) eine Rolle, aber auch Machine Learning und Analytics. In den vergangenen Monaten haben zudem Themen wie Service-Orchestrierung, Process Mining und Task Mining an Bedeutung gewonnen.
Computerworld: Heisst das im Umkehrschluss: Die Unternehmen haben alle offensichtlichen Automatisierungsoptionen bereits ausgeschöpft und suchen nach weiteren Anwendungsmöglichkeiten?
Lüth: Genau so ist es. Process und Task Mining werden oftmals eingesetzt, um die nächsten Kandidaten für die Automatisierung zu finden. Denn vielen Unternehmen fehlt es an notwendigem Technologieverständnis, etwa in Sachen KI, um weiteres Automatisierungspotenzial zu identifizieren.
Computerworld: Was bringt die durchgängige Automatisierung konkret für Vorteile?
Lüth: Hyperautomation führt vor allem zu mehr Transparenz im gesamten Unternehmen. Es geht darum, Prozesse und deren Zusammenspiel immer besser zu verstehen und sichtbar zu machen. Über Dashboards können Verantwortliche auf einen Blick erkennen, wo Ressourcen fehlen, wo es zu Problemen kommen kann und wo es Optimierungspotenzial gibt - und dann steuernd eingreifen.
Computerworldl: Welche Branchen haben besonders grosses Interesse an einer Hyperautomatisierung?
Lüth: Da ist sicher die Fertigungsindustrie zu nennen. Produzierende Unternehmen denken traditionell in Prozessen, deshalb ist der Schritt zu einer durchgehenden Automatisierung naheliegend. 
Auch im Handel ist das Interesse gross, vor allem wenn es um das Thema Omnichannel geht. Oft klappt das Zusammenspiel zwischen Online-Shops und den Legacy-Systemen im Backend nicht. Die Unternehmen erhoffen sich, mit Process Mining hier die notwendige Transparenz zu schaffen und Brüche in den Prozessketten eliminieren zu können.
Computerworld: Wie sieht es im Mittelstand mit Hyperautomatisierung aus?
Lüth: Es gibt kaum noch Unternehmen, die nicht wenigstens Standardprozesse mit RPA automatisiert haben. Viele fragen sich jetzt, wie es aus der Business-Perspektive weitergehen soll, zumal die bisher erreichten Ergebnisse oft recht überschaubar sind.
Computerworld: Plattformanbieter wie Automation Anywhere oder UiPath versprechen, Hyperautomation aus einer Hand anbieten zu können. Was halten Sie von solchen Aussagen?
Lüth: Es ist sicher richtig, dass diese Hersteller relativ komplette Automatisierungslösungen im Portfolio haben. Kein Anbieter kann derzeit allerdings alle Technologien abdecken, die zu Hyperautomation gehören.
Computerworld: Wo fehlt es noch?
Lüth: Vor allem in KI- und Machine-Learning-Bereichen bestehen noch Lücken, also etwa bei NLP oder auch Cognitive Reasoning, das heisst einer KI-basierten Entscheidungsfindung beziehungsweise -vorbereitung. Auch bei der Human-Bot-Interaktion, im Process Mining oder bei Workflow-Tools können die Hersteller noch keine Lösungen anbieten, die den Begriff «Hyperautomation» rechtfertigen.
Computerworld: Welche Auswirkungen hatte die Corona-Krise auf Automatisierungsinitiativen?
Lüth: Das Thema Automation hat deutlich an Relevanz gewonnen. Viele unserer Kunden sind daran interessiert, es mit höherer Geschwindigkeit voranzutreiben. Umfragen und Statistiken zufolge ist die Nachfrage insgesamt um 40 bis 50 Prozent gestiegen.
Computerworld: Erhoffen sich die Unternehmen, durch Automatisierung Kosten reduzieren zu können, um besser durch die Krise zu kommen?
Lüth: Es geht weniger um Einsparpotenziale als um Business Continuity. Viele Unternehmen mussten erkennen, dass sie nicht umfassend genug digitalisiert hatten. Wenn in einem geschäftskritischen Prozess Medienbrüche auftreten oder manuelle Eingriffe nötig sind, kann in einer Lockdown-Situation, wie wir sie im Frühjahr hatten, die Abhängigkeit von menschlichen Eingriffen schnell problematisch werden - und zwar unabhängig davon, ob es um die eigene Wertschöpfung geht oder um Geschäftspartner entlang der Lieferkette. Natürlich spielt auch die wirtschaftliche Lage eine Rolle. Eine durchgängige Automatisierung erleichtert es, den Geschäftsbetrieb auch dann aufrechtzuerhalten, wenn Mitarbeiter in Kurzarbeit sind.
Computerworld: Welche Folgen wird Hyperautomatisierung denn insgesamt für den Arbeitsmarkt haben?
Lüth: Bislang ging es in Automatisierungsprojekten weniger da­rum, Mitarbeiter zu ersetzen, sondern vielmehr, diese von Routineaufgaben zu entlasten. Langfristig wird eine zunehmende Automatisierung bis hin zu Hyperautomation aber natürlich auch Auswirkungen auf den Bedarf an Mitarbeitern haben. Im Kundenservice sind beispielsweise viele Prozesse wie Adressänderungen, Abo-Abschlüsse und -Kündigungen, Übermittlung von Zählerständen oder Reklamationen sehr standardisiert. Sie lassen sich daher gut mit Voice- und Chatbots erledigen. Mit Hilfe von RPA, OCR und NLP können auch Kundenanfragen und -aufträge automatisiert erfasst und bearbeitet werden, die per Brief oder E-Mail eintreffen.
Computerworld: Wie sollten Firmen bei der Umsetzung vorgehen? Braucht es ein Center of Excellence (CoE) für Hyperautomatisierung?
Lüth: Ein CoE allein wird nicht reichen. Die Geschäftsprozesse sind ja in den Fachbereichen verortet. In den seltensten Fällen wird ein CoE hier direkt Einfluss nehmen können. Ohne Unterstützung aus der Geschäftsführung und ein begleitendes Change-Management, das die Geschäftsbereiche mitnimmt, kann man sich die ganzen schönen Werkzeuge daher sparen.


Das könnte Sie auch interessieren