SAP-Nutzer 26.03.2008, 08:07 Uhr

Weg mit dem Ballast!

Eigenentwicklungen in SAP-Geschäftsapplikationen erschweren den Release-Wechsel. Zudem wissen viele Firmen nicht, was sich in ihren ERP-Systemen wirklich tut.
Frank Niemann schreibt für unsere Schwesterzeitung Computerwoche.
Viele Firmen, die SAP-Software verwenden, haben über die Jahre eine Vielzahl an eigenen Entwicklungen eingefügt. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Programme liegt einerseits brach im System, erschwert aber andererseits Release-Wechsel und Anpassungen. Zudem könnten die Software-Nutzer durchaus so manches noch genutzte, selbst geschriebene Modul durch mittlerweile verfügbare Standardfunktionen der ERP-Software ersetzen. Doch fehlt ihnen wegen der Fülle an Programm-Features und aufgrund unzureichender Informationen durch den Hersteller der Überblick über das installierte SAP-System.

Ungenutzte ERP-Routinen

Aufgedeckt wurde diese Problematik von der Beratungsfirma West Trax. Sie veröffentlichte eine Wirtschaftlichkeitsanalyse von SAP-Systemen, für welche rund 270 SAP-Installationen untersucht wurden. Die meisten davon - rund 80 Prozent - verwenden R/3 4.6C, 15 Prozent fahren mit R/3 4.7, der Rest nutzt die neueren Produkte ERP 5.0 und 6.0.
Für Eigenentwicklungen hat SAP innerhalb des Namensraums für Programme Platz reserviert. Vom Anwender selbst eingefügte Entwicklungen fangen immer mit den Buchstaben «y» und «z» an. Zudem können Kunden sich einen eigenen Namensraum speziell für ihre Erweiterungen schaffen. Meist beginnt die Bezeichnung dieser Routinen mit dem Firmennamen. West-Trax hat in ihrer Analyse ausgewertet, ob und wie oft die Nutzer Standard-Features und eigene Funktionen aufrufen. Zu Letzteren zählen vor allem Berichte, die Softwarespezialisten des Unternehmens in Eigenregie erzeugt haben. Dabei variiert die Anzahl der Programme, die vom Softwarenutzer selbst stammen, je nach Branche: Bei Anwendern aus der öffentlichen Verwaltung entfielen im vergangenen Jahr rund 16 Prozent aller Softwaremodule auf Eigenentwicklungen - ein Jahr zuvor waren es noch gegen 20 Prozent. Im Finanzwesen dagegen stammen 44 Prozent der Programme von eigenen Spezialisten, im Jahr 2006 waren es sogar mehr als die Hälfte.
Noch gravierender als bei den noch genutzten selbst gefertigten Erweiterungen ist jedoch die Zahl der gar nicht genutzten Eigenentwicklungen. Bei Firmen aus dem Gesundheitswesen beispielsweise stellte 2007 im Schnitt jede zweite selbst entwickelte Routine überflüssigen Ballast dar, wobei dieser Wert im Vorjahreszeitraum sogar bei fast 60 Prozent lag.
Anwendern fehlt der Überblick
In allen von West Trax analysierten SAP-Umgebungen wurden selbst gestrickte, aber nicht verwendete Bausteine entdeckt. In manchen Fällen fanden die West-Trax-Experten gar Hunderte selbstgebaute Module, die vielfach vor vielen Jahren eingeführt wurden und bis heute jeden Release-Wechsel überdauert haben.
In nicht wenigen Fällen belasten die Abläufe «Marke Eigenbau» die ERP-Umgebung: Viele der Module weisen lange Antwortzeiten auf, und im Hintergrund laufende Batch-Routinen beeinträchtigen die Dialoganwender. Standardtransaktionen von SAP kommen im Vergleich mit viel weniger Ressourcen aus.
Diana Bohr, Chief Technology Officer von West Trax, führt die Unkenntnis der Firmen darauf zurück, dass es diesen schwer falle, in den komplexen SAP-Systemen den Überblick zu behalten: «Oft wissen die Anwender nicht, welche Eigenentwicklungen die Systeme mitschleppen.» Vor allem Hintergrundprozesse (Batch Jobs) würden vielfach in Vergessenheit geraten, warnt Bohr. Diese Prozesse würden einmal eingerichtet und starteten dann automatisch in der Nacht. Das gehe so lange gut, bis ausländische Niederlassungen wegen der Zeitverschiebung auch nachts SAP-Transaktionen auslösten.

SAP-Nutzer: Weg mit dem Ballast!

Entrümpeln ist nötig

Ein neues SAP-Release bietet die willkommene Chance, die Altlasten abzubauen. Denn es beinhaltet in aller Regel eine ganze Reihe von zusätzlichen Features, welche Anwender zuvor in Eigenregie programmiert hatten, um Lücken zu schliessen. Wer also das Upgrade nutzt, um die selbst geschriebenen Programme durch die mit dem Releasewechsel von SAP als Standardfunktionen gelieferten Features zu ersetzen, kann den Release-Wechsel beschleunigen. Überdies werden Standard-Features bei jedem Software-Update automatisch aktualisiert. Eigenentwicklungen müssen hingegen von den Firmen aufwändig angepasst und getestet werden. Das freut zwar den SAP-Partner, treibt aber die Betriebs- und Projektkosten in die Höhe. Eine Tatsache die gemäss West Trax von vielen Anwenderunternehmen häufig unterschätzt wird und die erhebliche Einsparpotenziale birgt. Diese können, abhängig von der Branche, erheblich sein. In der chemischen Industrie könnten Firmen laut West Trax durchschnittlich mehr als 1,5 Millionen Franken jährlich einsparen, wenn sie nicht benötigte Eigenentwicklungen entfernen würden.

Schlecht informierte Anwender

Erstaunlicherweise wissen sehr viele SAP-Kunden deutlich zu wenig über das Funktionsangebot der Applikationen. Hier scheint zumindest bei der Informationspolitik sowohl des Herstellers als auch seiner Partner einiges im Argen zu liegen. Diana Bohr hat festgestellt, dass kaum jemand die neuen Features der aktuellen SAP-Software ERP 6.0 im Detail kennt. Überall sei meist nur von Netweaver die Rede und die SAP-Kunden wüssten ganz generell nicht, wo sie entsprechende Informationen herbekommen sollten. Bohr vergleicht die Situation mit einem Excel-Anwender, der die Spaltenaddition der Microsoft-Software nicht kennt und eine Spalte voller Zahlen deshalb mühsam von Hand mit dem Taschenrechner aufaddiert.
Allerdings darf man diese bedenkliche Situation natürlich nicht einzig und allein dem Hersteller in die Schuhe schieben. Vielmehr scheint es so, als wollten die Anwender ihre SAP-Systeme gar nicht stärker verändern, als un-bedingt nötig. So planen laut West Trax die meisten Firmen, die derzeit ihre R/3-Systeme gegen ERP 6.0 austauschen, einen rein technischen Umstieg. «An Prozessverbesserungen wagen sich die IT-Abteilungen oft nicht heran», konstatiert die West-Trax--Expertin.
Eine Zurückhaltung, die schon seit Jahren zu beobachten ist. Die Experten kennen einige ERP-Umgebungen mit Release-Stand R/3 4.6C oder 4.7, die in Sachen Funktionsumfang bei der Version 3.1i stehen geblieben sind. Bohr zufolge fehlt - wie so oft - der Dolmetscher zwischen IT-Spezialisten und den Fachbereichen. Letztere wüssten zwar häufig sehr genau, wie Prozesse aussehen sollten. Doch sie kennen die zur Verfügung stehenden Software-Funktionen nicht im Detail.
Allerdings erkennt Bohr auch Licht am Ende des Tunnels: «Vor einem Jahr fanden wir kein einziges SAP-System, bei dem der Anteil der Standardfunktionen mehr als 70 Prozent ausmachte. Das hat sich bei der Analyse 2007 geändert.» Der Wechsel beruhe einerseits auf Systemoptimierungen. Ferner sei es den Firmen aus Kostengründen ohnehin nicht mehr möglich, so viel selbst zu entwickeln wie früher: «Heute überlegen die IT-Experten viel genauer, ob sich eine von der Fachabteilung gewünschte Funktion nicht auch durch eine Standardtransaktion abdecken lässt, wenn auch vielleicht nicht zu 100 Prozent.»
Frank Niemann



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