Business Continuity Management 04.05.2020, 06:00 Uhr

IT-Betrieb in Zeiten von Corona

Die Corona-Krise bringt Unternehmen in die Bredouille. Der Shutdown stellt Informatikabteilungen auf die Probe. Computerworld hat bei IT-Entscheidern nachgefragt, wie sie die ereignisreichen letzten Wochen erlebten.
Ziel des Business Continuity Managements ist es, Vorkehrungen für den Fall von Störungen des Geschäftsbetriebs zu treffen und so ökonomische Schäden zu begrenzen
(Quelle: Shutterstock / Brian A Jackson)
Nachdem der Bundesrat Mitte März den schweizweiten Shutdown erklärt hatte, veränderte sich schlagartig die Art und Weise, wie – und vor allem wo – viele Schweizerinnen und Schweizer arbeiten. Wo es der Job zuliess, wechselte man praktisch vom einen auf den anderen Tag ins Home Office. 
Wer allerdings denkt, dass die Heimarbeit heutzutage längst Standard ist, hat weit gefehlt. Der aktuellen Swiss-IT-Umfrage zufolge verbrachte bis vor der Corona-Krise die Mehrheit der Befragten am meisten Zeit im Büro. Das Home Office lag weit dahinter. Mehr noch: Vergleicht man die Zahlen mit der Umfrage aus dem Jahr 2017, so zeigt sich, dass die Bürozeit tendenziell gar angestiegen war – dies entgegen der damaligen Prognose der befragten IT-Entscheiderinnen und -Entscheider.
Seit 2017 hat sich an der Arbeitsweise von Schweizer IT-Entscheidern wider Erwarten wenig verändert (n 2017 = 290, n 2020 = 291)
Quelle: Computerworld Swiss IT 2020
Damit während einer Krise nicht gleich sämtliche Geschäftsprozesse zusammenbrechen, bereiten sich Unternehmen im Rahmen des Business Continuity Managements (BCM) auf Cyberangriffe, Naturkata­strophen oder eben auch Pandemien vor. In solchen Zeiten sind die IT-Abteilungen besonders gefordert. Denn dann gilt es, die Verfügbarkeit der IT-Infrastruktur aufrechtzuerhalten, damit die wichtigsten Prozesse weiterlaufen können.

Last-Minute-Beschaffungen beim Kanton Glarus

Der Glarner Regierungsrat wollte eigentlich in diesem Jahr mit einem Projekt zur Erstellung eines BCM-Konzepts starten. Nun ist ihm die Corona-Pandemie zuvorgekommen. Die kantonale Verwaltung schloss als Reaktion die Schalter, viele Angestellte arbeiten seither von zu Hause aus. Gemäss Pierre Rohr, Leiter des Informatikdienstes, wurden auch in der IT die Teams aufgeteilt, um die Hygieneregeln einhalten zu können. Die Informatiker arbeiten nun alternierend in Einzelbüros oder im Home Office. Ebenso sei eine Werkstatt und ein grosser Schulungsraum zu Büros um­gerüstet worden. Anstelle von Präsenzsitzungen werden vorwiegend Telefon- und Videokonferenzen abgehalten. Grösstenteils, so der IT-Chef, sei die Infrastruktur des Kantons bereits für das mobile Arbeiten ausgelegt gewesen. Mitarbeitende könnten mit Geschäfts-Laptops via VPN-Verbindung auch von zu Hause aus wie im Büro arbeiten. «Dass wir im UCC-Bereich Skype for Business eingeführt haben, war in dieser Situation sicher auch von Vorteil», fügt er an. 
Laut Rohr war allerdings zunächst nur ein Viertel der Angestellten mit einem Geschäfts-Laptop ausgerüstet. Eine interdepartementale Arbeitsgruppe habe deshalb alle Schlüsselfunktionen der Verwaltung definiert, diese seien – falls noch nicht vorhanden – innerhalb weniger Tage mit Laptops ausgerüstet worden, um den Betrieb auch im Home Office sicherzustellen. Danach habe man gefährdete Personen mit Laptops ausgestattet. Und auch die kantonale Führungsorganisation sowie die Corona-Helpline hätten entsprechende Mittel erhalten. Rund 60 Prozent der An­gestellten konnten laut dem IT-Leiter letztlich auf mobile Arbeitsplätze zurückgreifen. Dafür musste Rohr mit seinem Team aber umgehend passende Geräte beschaffen. «Das war tatsächlich alles andere als einfach», erinnert sich der IT-Leiter. «Es ging, salopp formuliert, fast zu und her wie auf einem Basar. Kurzfristig waren einzelne Geräte verfügbar und da galt es jeweils, sehr schnell zu entscheiden.» 

Belastung für die IT-Infrastruktur 

Obwohl die IT des Kantons Glarus bereits auf das mobile Arbeiten ausgelegt war, forderte der starke Anstieg beim Home Office die Technik. «Die IT-Infrastruktur war nicht für den Betrieb mit derart vielen Home-Office-Nutzern dimensioniert», erläutert Rohr. Gemäss seinen Ausführungen wurde deshalb die bestehende VPN-Infrastruktur ausgebaut und die Bandbreite des Internetanschlusses verzehnfacht. Da hörte die Arbeit der Informatik nicht auf. Unter anderem habe sie aufgrund der Schalterschliessungen zusätzliche elektronische Formulare eingerichtet – laut dem IT-Leiter etwa für Gesuche um Finanzhilfe für Glarner Unternehmen.
Ihm zufolge blockierte die Krisenbewältigung die Informatikabteilung komplett. In den Wochen nach dem Shutdown habe sie sich ausschliesslich auf den Betrieb der IT-Infrastruktur konzentriert. Man habe zwar nötige Sicherheits-Updates durchgeführt, aber alle Projekte, wenn immer möglich, hinausgeschoben. «So langsam gehen wir in einen ‹normaleren› Betrieb über und können aufgeschobene Projekte nach und nach wieder angehen», fasst der CIO des Kantons Glarus zusammen. 

Die ALV verlängert IT-Betriebs- und Servicezeiten 

Mehr Arbeit leistet im Zuge der Corona-Pandemie auch die IT-Abteilung der schweizerischen Arbeitslosenversicherung, die beim Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) angesiedelt ist. Dort laufen Fachanwendungen nun 24/7, zudem ist der Service-Desk bis auf Weiteres auch am Samstag für die Anwender da. Aufgrund der Krise wird bei vielen regionalen Arbeitsvermittlungszentren und Arbeitslosenkassen nun auch abends und am Wochenende gearbeitet, wie CIO Christian Hürlimann erklärt. «Normalerweise be­arbeitet die Arbeitslosenversicherung nur ein paar Hundert Kurzarbeitsanträge pro Jahr. Nun sind es über 175 000 Gesuche innerhalb von wenigen Wochen. Und diese müssen dann auch noch monatlich abgerechnet werden.» 
Christian Hürlimann ist der IT-Leiter der schweizerischen Arbeitslosenversicherung
Quelle: Seco
Für seine Leute in der IT bedeutet das mehr Abend- und Wochenendarbeit. Denn auch Wartungsfenster seien – obwohl zahlenmässig stark reduziert – wenn immer möglich auf Samstagabend und generell auf spätere Zeiten als bisher üblich verlegt worden. «Unsere Kunden schätzen dies und wir stellen eine starke Zunahme der Nutzung der IT-Services auch abends und an den Wochenenden fest.» Und grundsätzlich verzichte die IT der Arbeitslosenversicherung momentan wenn immer möglich auf neue Releases, damit Endanwender sich auf ihre Arbeit konzentrieren können. Der IT-Leiter geht davon aus, dass seine Abteilung dieses Regime noch ein bis zwei Monate durchziehen kann. «Dann stehen aber wichtige, teilweise technisch bedingte Releases an, die wir dringend einführen müssen.» 
Derweil liegen bei der Arbeitslosenversicherung auch ausgewählte IT-Projekte auf Eis – laut Hürlimann insbesondere solche, die eine aufwendige Abstimmung mit der Fachseite und Anwendervertretern erfordern. «Diese Stakeholder haben seit März ihren Fokus vollständig auf die Krisenbewältigung zugunsten von Arbeitgebern und Arbeit­nehmern verlagert und stehen für solche Projekte praktisch nicht mehr zur Verfügung.» 

Die Reka improvisiert

Peter Schwarzenbach leitet die Informatik-Abteilung der Schweizer Reisekasse Reka
Quelle: Reka
In der IT der Schweizer Reisekasse Reka wird dagegen trotz Corona und stillstehenden Ferienanlagen weiter an den Projekten gearbeitet. «Hier hat sich nicht viel geändert», sagt Peter Schwarzenbach, der CIO des Ferienanbieters. 
Für die Mitarbeitenden sei es aber ein Aufstarten von 0 auf 100 gewesen, was das Arbeiten im Homeoffice und den Einsatz von Collaboration-Tools wie Microsoft Teams anbelangt. Gemäss dem IT-Leiter habe man die Software im letzten Jahr flächendeckend ausgerollt, dazu aber keine Schulungen angeboten. 
Ihm zufolge sei es auch nicht immer einfach gewesen, die Angestellten ins Homeoffice zu entsenden, da manche Einrichtungen standortbasiert sind. Punkto Ausrüstung habe man improvisieren müssen: «Da nicht für alle Laptops zur Verfügung standen, gaben wir manchen ganze Desktop-Equipments mit.» Unterdessen habe sich die Heimarbeit bei der Reka allerdings etabliert, erklärt Schwarzenbach.

Neon ringt mit starkem Kundenzuwachs 

An die Vorgaben des Bundes konnte sich die Zürcher Smartphone-Bank Neon verhältnismässig schnell anpassen. Denn gemäss dem CTO und Co-Gründer Simon Youssef ist für diese im Gegensatz zu Grossbanken die Selbstregulierung der Bankiervereinigung zum Thema BCM aus dem Jahr 2013 nicht verbindlich. «Sie ist für uns schlicht nicht anwendbar», erklärt er. Anders als die traditionellen Banken sei Neon auch nicht auf die Präsenz von Mitarbeitenden vor Ort angewiesen. «Als Cloud-natives Unternehmen mit drei Standorten (Anm. d. Red.: Zürich, München und Belgrad) sind wir komplett auf die Fernarbeit eingestellt.» 
Da Neon keine Stand-alone-Bank, sondern im Hintergrund von der Hypothekarbank Lenzburg abhängig ist, ringt das Start-up hier dennoch mit Einschränkungen. Immerhin sind die Herausforderungen mit positiven Entwicklungen verbunden: Youssef sieht seit dem Shutdown einen starken Kundenzuwachs. «Viele Leute merken wohl, dass sie Bankfilialen sowieso nicht brauchen und mit unserer App dasselbe machen können.» Bei der Bewältigung des Ansturms ist Neon auf die Hypi Lenzburg angewiesen, welche die Kundenanfragen abwickelt. «Wir mussten deshalb die Kommunikation und die Prozesse von unserer Seite her massiv verbessern», sagt der Neon-CTO. Zudem würden sich die Anfragen sammeln, da man diese aufgrund der strengen Vorgaben bei den Customer-Service-Mitarbeitenden nicht schnell genug abgearbeitet bekomme. 
Auch bei der Neobank führt die gegenwärtige Lage zu Verzögerungen bei Projekten. Aktuell befindet sich das Online-Onboarding von Neukunden etwa in der letzten Testphase. Mitte Mai will Neon damit durchstarten. «Eigentlich hätte das aber schon vier Wochen früher kommen sollen», sagt Youssef. Zudem habe man den Relaunch der haus­eigenen App, an dem das Start-up schon seit einer Weile arbeitet, um rund einen Monat nach hinten verschieben müssen. «Am Ende sind wir ein kleines Team und wenn wir uns mit zusätzlichen Themen wie Corona befassen, bleibt anderes liegen.» Der Co-Gründer zeigt sich allerdings optimistisch, dass sich der Zeitplan bis Juni wieder aufholen lässt. 

Home Office als Gefahr für die Firmenkultur

Abgesehen von der operativen Perspektive sieht Youssef das grösste Corona-bezogene Risiko beim möglichen Ausfall von Schlüsselpersonen mit Fachwissen, das nur in wenigen Köpfen vorhanden ist. «Es gab Themen, die nur von zwei Leuten bearbeitet wurden. Wenn da jemand wegen Covid-19 ausfällt, dann kommt man schnell ins Schwitzen», sagt der Technikchef. Deshalb vergrösserte man etwa Fach- und Thementeams oder dokumentierte noch mehr als zuvor. 
“Fernarbeit ist eine Zeit lang möglich, ganz ohne Präsenz wird es aber irgendwann schwierig„
Simon Youssef, Neon
Wie der CTO erzählt, bereiten ihm nicht zuletzt die Auswirkungen der Fernarbeit auf die Firmenkultur schlaflose Nächte. Denn auch im Normalzustand arbeitet Neon mit einem Remote- und einem Onsiteteam. Um die beiden Gruppen näher zusammenzuführen, verbringen sie gemäss Youssef einmal pro Quartal eine ganze Woche miteinander. «So wollen wir eine gemeinsame Kultur und ein starkes Wir-Gefühl fördern.» Das letzte Meeting habe im März statt­gefunden, das vom Juni sei bereits abgesagt. Der Co-Gründer zeigt sich deshalb besorgt, dass der Team­zusammenhalt darunter leiden könnte. «Fernarbeit ist eine Zeit lang möglich, ganz ohne Präsenz wird es aber irgendwann schwierig», lautet sein Fazit. 
Und auch der lockere Schwatz beim Kaffeetrinken fehle ihm. Stattdessen beschränke sich die Kommunikation auf sachbezogene Calls. «Meine Empfehlung ist deshalb, regelmässig bei sämt­lichen Teammitgliedern nachzufragen, wie es ihnen geht und woran sie gerade arbeiten. Selbst wenn dies das Team inhaltlich nicht immer voranbringt, geben wir damit ein starkes Signal, dass wir uns um unsere Leute kümmern», rät Youssef. 

Lichtblicke in der Krisenzeit

Hürlimann und Rohr können den letzten Wochen rückblickend auch Positives abgewinnen. Gemäss dem CIO der Arbeitslosenversicherung erhalten die laufenden Digitalisierungsvorhaben einen zusätzlichen Schub durch die aktuelle Situation. Ausserdem habe man durch die Krise neue Erkenntnisse gewinnen können. Einerseits hat laut ihm das Thema BCM aufseiten von IT-Leistungserbringern für die klassischen Fachanwendungen in den meisten Fällen bereits «einen guten Stand». Andererseits habe man anwenderseitig festgestellt, dass noch nicht alle Organisationen infrastrukturmässig auf die Leistungserbringung im Home Office vorbereitet seien. Defizite gebe es etwa kapazitäts­mässig, bei der Ausrüstung mit mobilen Arbeitsgeräten oder remote nutzbaren Umgebungen wie virtuellen Desktops. 
“Wir erhielten in den letzten Wochen so viel Lob für unsere Unterstützung wie nie zuvor„
Pierre Rohr, Kanton Glarus
Auch in der Verwaltung des Kantons Glarus wurde Rohr zufolge «in sehr kurzer Zeit ein enormer Digitalisierungsschub» ausgelöst. Als Beispiel hierfür nennt er Auszüge aus dem Protokoll des Regierungsrates bei Regierungsrats­beschlüssen. Diese seien vom Ratsschreiber bisher aus­gedruckt, unterschrieben und per interner Post verschickt worden. Je nach Dienststelle habe man die Auszüge für die elektronische Ablage danach wieder eingescannt. Neu würden sie nun nicht mehr von Hand unterschrieben und direkt elektronisch verschickt. Weiter geht Rohr davon aus, dass schon länger propagierte Hilfsmittel wie Telefon- und Videokonferenzen künftig häufiger verwendet werden. Und nicht zu vergessen: Wertschätzung. «Endlich – so scheint es – wird unsere wertvolle Arbeit anerkannt. Wir erhielten in den letzten Wochen so viel Lob für unsere Unterstützung wie nie zuvor», freut sich der CIO des Kantons Glarus.
Computerworld Swiss-IT
Die CIO-Agenda 2020
Seit einer Dekade fühlen Computerworld und die Marktforscher von IDC Schweizer IT-Entscheidern im Rahmen der Swiss-IT-Studie den Puls. Was beschäftigt sie? Wie gehen sie mit den Entwicklungen der digitalen Transformation um? Welche Probleme gilt es zu lösen? 
Auch in diesem Jahr stellten sich wieder mehrere Hundert CIOs und IT-Verantwortliche sowie ihre Kolleginnen und Kollegen aus den Fachabteilungen unseren Fragen. Die aktuelle Swiss-IT-Ausgabe zeichnet nun ein detailliertes Bild der Schweizer IT. 
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