Gastbeitrag 22.05.2020, 08:30 Uhr

Covid-19 und die neue Normalität

Die Corona-Krise wird die Wirtschaft nachhaltig verändern. Der  phasenweise Lockdown hat Schwachstellen aufgedeckt, aber auch Lösungswege für bestehende Probleme und Herausforderungen aufgezeigt. Was davon wird in der Phase der Lockerung und danach bleiben?
Covid-19 war ein Schock, aber auch ein Booster für die Digitalisierung
(Quelle: Shutterstock/Peshkova)
Noch im vergangenen Jahr zogen die Grossverteiler eine bescheidene Bilanz, was den Online-Lebensmittelhandel angeht. Die Umsätze stagnierten. In der aktuellen Situation rund um Covid-19 ist nun alles anders: Die Nachfrage nach online bestellbaren Lebensmitteln und Gütern des täglichen Gebrauchs explodierte. Noch härter traf es den stationären Handel im Non-Food-Bereich: Hier blieb nur noch der Online-Kanal als Schnittstelle zum Kunden. Doch was ist nach dem Lockdown? Zurück auf Feld eins und alles wieder normal? Eher nicht, die Welt in dieser Branche wird eine andere sein.
Für eine abschliessende Bilanz der wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 ist es noch viel zu früh. Eine Hypothese lässt sich aber bereits heute aufstellen: In wenigen Jahren wird man auf den Frühling 2020 zurückschauen und diese Phase als disruptiven Wendepunkt erkennen – in unterschiedlichen Branchen und Bereichen.

Home Office und Remote Working bleiben

Videokonferenzen, virtuelle Meetings und andere Zusammenarbeits-Tools: All dies war bereits vor der Corona-Krise verfügbar und wurde auch vielerorts genutzt. Doch erst der äussere Druck durch den Lockdown hat das wirkliche Potenzial von Remote Working aufgezeigt. Innert weniger Tage haben Unternehmen wie Zühlke Tausende von Mitarbeitenden rund um den Globus auf Remote Working umgestellt. Die Erfahrungen daraus sind mehrheitlich positiv. Die allermeisten Meetings lassen sich in der virtuellen Umgebung effizient durchführen. Der Lockdown offenbart schonungslos die Überflüssigkeit mancher Geschäftsreise. Die Business-Reisetätigkeit wird wohl nie wieder das Level der Prä-Corona-Ära erreichen.
Doch auch die Grenzen der virtuellen Zusammenarbeit im Dienstleistungssektor wurden durch den Lockdown aufgedeckt. Brainstormings und andere kreative Meetings funktionieren in der physischen Welt und von Mensch zu Mensch besser. Innovation entsteht auch durch spontanen Austausch. Das ist bei durchgeplanten Kalendern mit virtuellen Meetings nur bedingt möglich. Auch bei den Tools besteht noch Ausbaupotenzial, auch wenn es schon sehr interessante digitale Workshop-Formate gibt. Hier zeigt sich ein Business-Case für die Software-Branche.

Transformation von Branchen

Am offensichtlichsten traf der Lockdown, wie bereits erwähnt, den Handel. Diese disruptive  Transformation innert weniger Wochen wird tiefe Spuren hinterlassen. Einfach so werden die Kunden nicht mehr in die physischen Geschäfte zurückkehren. Vielmehr ist es an den Unternehmen zu erkennen, wo im Einkaufserlebnis physische Touchpoints einen echten Kundennutzen bringen und differenzierend wirken, etwa weil die Haptik eine grosse Rolle spielt, Emotionen im Spiel sind wie auch eine gute Beratung den Unterschied ausmachen. Bei standardisierten Kaufabläufen hingegen wird der digitale Kanal zur Normalität. Dies wird auch eine entsprechende Transformation in der Branche zur Folge haben.
Doch auch andere Branchen sind durch die Situation rund um Covid-19 unter verstärkten Transformationsdruck geraten. Der Lockdown hat auch im Banking und bei den Versicherungen einige Digitalisierungslücken aufgedeckt. E-Banking und andere Online-Portale sind zwar längst Realität, die Prozesse dahinter sind jedoch allzu oft noch nicht vollständig digitalisiert. Dies zeigt sich exemplarisch beim Onboarding oder bei Vertragsabschlüssen: Die Medienbrüche, etwa durch postalisch zugestellte Verträge oder Unterlagen, verzögern den Ablauf unnötig. Diese gilt es anzupassen, was auch in regulierten Bereichen mittlerweile möglich ist.
Im Gesundheitsbereich wiederum zeigen sich in dieser Pandemie die Vorteile und das Potenzial neuer Technologien: Beispielsweise können datengestützte Apps die Ausbreitung einer Krankheit verlangsamen und Wearables mit Schnittstellen zum Smartphone können Gesundheitswerte messen und so unnötige Arztbesuche ersetzen. Das Gleiche gilt auch für die Telemedizin, die gerade in der Krise einen starken Aufschwung erlebt hat. Im Gesundheitswesen werden die Erfahrungen mit Covid-19 für eine raschere Umsetzung bereits heute technologisch machbarer Anwendungen sorgen.

Transformation als holistischer Prozess

In zahlreichen Branchen zeigt die Corona-Krise eine deutliche Schwachstelle bei vielen Unternehmen auf: Oft wurde in den letzten Jahren auf das Frontend fokussiert – Apps, Websites und andere digitale Touchpoints wurden neu lanciert oder überarbeitet. Weniger Augenmerk wurde dabei auf die Optimierung der Prozesse und Systeme im Hintergrund gelegt. Dies hat sich gezeigt, als die Betriebslast innerhalb kürzester Zeit massiv zugenommen hatte, wie auch Arbeitsabläufe durch die Krise verändert werden mussten – bedingt durch Remote-Working oder Veränderung der Logistik und Distribution.
Damit die Unternehmen aus den Fehlern in der Krise lernen und die Chancen für die weitere Transformation erfolgreich wahrnehmen, ist es wichtig, diese als holistische Prozesse anzupacken. Angefangen beim Kundenbedürfnis, über das gewünschte Kundenerlebnis, dem richtigen Geschäftsmodell, der passenden Kultur und der Personen, bis zu den Prozessen und Systemen. Gerade die Krise hat gezeigt, dass starke Kundenorientierung und insbesondere schnelle Anpassungsfähigkeit auch viele Gewinner hervorbringen.

Nicht alles anders – aber vieles neu

Was wird nun bleiben nach diesem Ausnahmezustand? Wird die Arbeitswelt nun komplett digitalisiert und die Bürogebäude sowie Lokale untergenutzt bleiben?
Davon ist kaum auszugehen, denn der Lockdown hat eben auch aufgezeigt, dass der Mensch als soziales Wesen den Austausch sucht und durch gute Zusammenarbeit und positive Interaktionen auch grossartige Produkte, Services und Erlebnisse geschaffen werden.
Vielmehr wird die Krise dazu führen, dass viel stärker hinterfragt wird, wo physische Touchpoints Sinn ergeben und den Unterschied ausmachen, und wo nicht. Dies gilt sowohl für den B2B-Kontext, etwa bei Geschäftsreisen, als auch im B2C-Zusammenhang, vordergründig im Retail oder auch bei Banken und Versicherungen.
Die erlebte Situation rund um die Covid-19-Pandemie hat wie alle Krisen also auch das Potenzial, Innovation durch äusseren Druck zu verstärken und zu beschleunigen. Heutzutage ist Technologie selten der limitierende Faktor – viel eher verhindern die Macht der Gewohnheit sowie kulturelle Themen den Fortschritt in Unternehmen und Organisationen. Manchmal führt ein äusserer Schock eine nachhaltige Verhaltensänderung und Transformation herbei. Corona ist ein solcher Schock.
Der Autor
Nicolas Durville
Zühlke
Nicolas Durville ist CEO von Zühlke Schweiz. www.zuehlke.com



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