ServiceNow-CEO 18.07.2022, 06:07 Uhr

«Unsere Plattform ist ein Schweizer Sackmesser»

CEO Bill McDermott erachtet die ServiceNow-Plattform als ein multifunktionales Schweizer Sackmesser. Im Interview erklärt er, wie sein Unternehmen damit den Kunden in der neuen Arbeitswelt helfen will.
Bill McDermott macht mit ServiceNow bis anhin keine Geschäfte in Russland
(Quelle:  ServiceNow)
Osteuropa ist bis anhin noch kein Markt gewesen für den Software-Anbieter ServiceNow. Der CEO Bill McDermott hat trotzdem starke Verbindungen in die Ukraine – im übertragenen und im wörtlichen Sinn. Er zählt die Klitschko-Brüder zu seinen Freunden, wie er im Interview sagt. Weiter führt er aus, dass die ­ServiceNow-Plattform den Unternehmen weltweit helfen kann, sich digital zu transformieren. Und McDermott mahnt, dass schnell gehandelt werden muss, um langfristig im Wettbewerb bestehen zu können.
Computerworld: Vielenorts wird behauptet, die IT habe in der Pandemie an Bedeutung gewonnen. Eine andere Meinung besagt, dass die grosse Bedeutung der IT erst jetzt richtig deutlich geworden sei. Was denken Sie?
Bill McDermott: Die IT war bereits vorher ein wichtiger Bestandteil des Geschäfts. Die Pandemie hat aber nochmals deutlich gemacht, dass nun kurzfristig gehandelt werden muss. Wer jetzt nicht investiert, könnte mittelfristig hinter dem Wettbewerb zurückbleiben und somit langfristig sogar die Geschäftsgrundlage komplett verlieren.
Der Beginn der Pandemie hat es gut aufgezeigt: Die Unternehmen mussten ihre Angestellten ins Heimbüro schicken, um weiterhin im Geschäft zu bleiben. Parallel mussten jedoch auch neue Mitarbeiter eingestellt und ­angelernt, die Belegschaft trainiert und bei Laune gehalten werden. Die IT war die zentrale Plattform für all diese Aufgaben. Für unsere Kunden hat sich die ServiceNow-Technologie in dieser Situation als sehr wertvoll erwiesen.
CW: ServiceNow zählt in der Schweiz diverse langjährige Kunden. Auch war Ihr Unternehmen schon früh mit einem eigenen Cloud-Angebot hierzulande präsent. Hilft Ihnen das heute bei Neukunden oder ist es nicht mehr wichtig, wo die Daten liegen?
McDermott: Die Kunden legen grossen Wert darauf, dass Cloud-Lösungen den europäischen sowie den schweizerischen Compliance- und Datenschutz-Vorschriften entsprechen. Dabei spielt es keine grosse Rolle, ob es sich um einen Kunden in der Schweiz, in Deutschland oder in Grossbritannien handelt. Wie Sie richtig sagen, betreiben wir eine eigene Cloud für die Schweizer Unternehmen. Unter dieser Voraussetzung kommen wir mit vielen Schweizer Kunden ins Gespräch.
CW: Welche Fragen stellen Ihnen Ihre Kunden – und welche die Neukunden?
McDermott: Sie wollen häufig eine höhere Geschwindigkeit in ihren Prozessen. Die heute vorherrschenden Silos in den verschiedenen Unternehmensbereichen verlangsamen das Geschäft und behindern Innovation. Wenn diese Silos auf einer Plattform zusammengeführt werden, können die Unternehmen die Geschwindigkeit abrufen, die der Markt heute von ihnen verlangt. Sie können sich schneller an die neuen Gegebenheiten anpassen, agil bereichsübergreifende Prozesse kreieren und sich so neue Geschäftsfelder erschliessen. Hier sehe ich unsere «Now»-Plattform als ein Schweizer Sackmesser an, das ja bekanntlich vielfältig eingesetzt werden kann.

Herausforderung «neue» Arbeitswelt

CW: Wie hat ServiceNow den Kunden bei der Umstellung auf die neue Arbeitswelt geholfen?
Bill McDermott amtet seit November 2019 als CEO von ServiceNow
Quelle: ServiceNow
McDermott:
Die Unternehmen sehen sich einerseits jetzt mit einer neuen Arbeitsrealität konfrontiert. Gleichzeitig ist der «War for Talents» so richtig entbrannt. Die fehlenden Fachkräfte sind mittlerweile das grösste Problem aller Unternehmen. Diese zwei Herausforderungen kommen nun zusammen: Wer in den vergangenen zwei Jahren angestellt wurde, musste vielenorts im Home Office arbeiten. Sie oder er hatte oftmals gar nicht die Möglichkeit, eine Unternehmenskultur kennenzulernen, die Kollegen zu treffen oder nur schon den persönlichen Arbeitsplatz einzurichten. Seine oder ihre Bindung an die Firma ist schwach. Die Gefahr besteht, dass ein besseres Gehalt oder eine flexiblere Vorgabe beim Home Office gute Argumente für den erneuten Wechsel des Arbeitgebers sind.
In dieser Situation positionieren sich diejenigen Unternehmen besser, die ihren Angestellten zum Beispiel ein Mitarbeiterportal bereitstellen, in dem alle Finanz-, HR- und Fachdetails abgebildet sind. Ein solches Portal bekommen die Kunden bei ServiceNow «Out of the Box». In die Entwicklung sind hohe Investitionen geflossen in den vergangenen drei bis vier Jahren. Heute ist der Bereich einer derjenigen mit dem stärksten Wachstum.
CW: Im HR-Bereich sind Sie schon einige Jahre aktiv, wie Sie sagen. Gibt es Applikationen speziell für die «neue» Arbeitswelt?
McDermott: Durchaus! Genau wie die Firmen ihre Schwierigkeiten damit haben, ihren Angestellten eine adäquate Arbeitsumgebung neu virtuell bereitzustellen, stehen sie auch vor der Herausforderung, den Konsumenten über die Distanz adäquate Services zu liefern. Ich denke hier nicht nur an den Schuhkauf, sondern auch an den Besuch im Spielwarengeschäft oder im Restaurant. Wenn Unternehmen jetzt ihre Ware über das Web verkaufen, wollen die Konsumenten ein vergleichbares Einkaufserlebnis.
Die Schuhe müssen passen, das Plüsch-Nilpferd darf nicht zu weich sein und das Cordon bleu muss heiss und saftig sein. Wenn für die Kundenservices alles über eine Plattform abgewickelt werden kann, können sich die Unternehmen um ihre tatsächlichen Kernkompetenzen kümmern. Und nicht mehr um die IT dahinter.

750 Millionen Apps in drei Jahren

CW: Können die Kunden eine passende Plattform von der Stange kaufen oder muss sie erst individuell entwickelt werden? – Was ja auch wieder Fachleute erfordert und Geld kostet.
McDermott: Viele der Funktionen sind als Vorlagen auf der «Now»-Plattform schon heute verfügbar. Zusätzlich ermöglicht eine Low-Code-Entwicklungsumgebung den Anwendern das einfache und schnelle Umsetzen von individuellen Apps. Sie können dann anschliessend unternehmensweit ausgerollt werden.
Dieses Modell ist die Zukunft, sagen auch die Analysten. Sie gehen davon aus, dass die Unternehmen aufgrund veränderter Konsumentenbedürfnisse und der sich stetig wandelnden Wirtschaft allein in den nächsten drei Jahren geschätzt 750 Millionen neue Apps entwickeln müssen. Das sind mehr Apps, als wir im letzten halben Jahrhundert geschrieben haben.
Diese Menge schaffen nicht die hauptberuflichen Programmierer. Hier braucht es den Citizen Developer – sprich Sie und mich –, der ein spezifisches Kundenbedürfnis kennt und mit einer eigenen App bedienen kann. Und es braucht eine moderne Entwicklungsumgebung, denn in einer traditionellen IT-Infrastruktur können wir zwei nur schwerlich eine App umsetzen.
CW: In der Vergangenheit wurden zum Beispiel Domino und Notes für die Umsetzung von Business-Applikationen genutzt – auch von den Citizen Developern. Sehen Sie die Konkurrenz?
ServiceNow-CEO Bill McDermott sieht grossen Bedarf an neu zu entwickelnden Business-Apps
Quelle: ServiceNow
McDermott:
Wenn die Plattformen ähnliche Möglichkeiten bieten, sollten sie sich entsprechend positionieren. Denn es gibt viel zu tun angesichts der vielen Millionen Apps, die realisiert werden müssen in den nächsten Jahren. Aber ich sehe die Konkurrenz nicht.
CW: Im Interview vor zwei Jahren sagten Sie, dass ServiceNow Ihr Meisterstück sein soll. Welche Puzzlestücke fehlen noch?
McDermott: Das Meisterstück entwickelt sich ausgezeichnet. ServiceNow wird meiner Meinung nach zur wichtigsten Business-Plattform des 21. Jahrhunderts.
Uns fehlt heute noch die Sichtbarkeit und die breite Akzeptanz am Markt. Wir wollen den Unternehmen aufzeigen, wie unsere Plattform ihnen helfen kann bei der Lösung ihrer Probleme. Und auch bei den Herausforderungen von morgen, beispielsweise der Nachhaltigkeit und ESG [Environmental, Social, and Corporate Governance; Anm. d. Red.]. Auf unserer Plattform sind dafür schon Lösungen bereitgestellt, mit denen sich die Unternehmen fit machen können für die Zukunft.
CW: Die Schweiz ist ein KMU-Land. Für diese Firmen ist Ihre Plattform wohl überdimensioniert. Welche Angebote haben Sie für diese Zielgruppe?
McDermott: Diesen Kunden können wir fixfertige Pakete beispielsweise für HR, Kundenbeziehungspflege oder System-Monitoring bereitstellen, die auf der «Now»-Plattform laufen. Wenn die KMU dann später entscheiden, dass sie noch weitere Funktionen der Plattform nutzen möchten, lassen sie sich ohne Weiteres hinzuschalten.

Defizite der «alten» Welt

CW: Die Wirtschaft global und auch in der Schweiz ist verunsichert wegen des Konflikts in der Ukraine. Beteiligt sich ServiceNow an den Sanktionen gegen Russland?
McDermott: Mein Herz bricht beim Gedanken an die Menschen in der Ukraine! Russland führt einen brutalen Krieg gegen einen souveränen Staat, der durch nichts zu entschuldigen ist.
Ich persönlich habe sehr gute Freunde in der Ukraine. Einer von ihnen ist Wladimir Klitschko, ein anderer sein Bruder Vitali, der Bürgermeister von Kiew. Beiden und allen ihren Mitstreitern helfen wir als Unternehmen soweit wir können. Dabei unterscheiden wir uns nicht von allen anderen Firmen, die eine beeindruckende Solidarität mit den Menschen in der Ukraine beweisen – auch mit den Sanktionen gegen Russland.
Aber um Ihre Frage zu beantworten: Wir machen keine Geschäfte mit russischen Firmen und sind auch in Russland nicht aktiv. Entsprechend sind wir auch nicht von Sanktionen betroffen. Aber wir haben auch keine Kunden in der Ukraine, weil wir die Expansion in diese Länder bisher nicht geschafft haben.
CW: Welchen Einfluss hat der Krieg in Osteuropa auf das globale Geschäft?
McDermott: Meine Beobachtung ist, dass sich die mittlerweile agileren Lieferketten der Kunden in der neuen Krisensituation bewähren. Die Unternehmen verlegen sich auf nationale oder sogar regionale Anbieter. Wenn global gesourct wird, erfolgen Umstellungen mittlerweile fast in Echtzeit. Die Energieversorgung ist ein gutes Beispiel, bei der Europa sich sehr schnell von Russland gelöst hat und nun Alternativen etabliert. Einer unserer Kunden, ein grosser Automobilhersteller, hat seine 4000 Zulieferer innerhalb eines Monats umgestellt. Dabei hat ihm unsere Plattform sehr gute Dienste geleistet. Die Geschwindigkeit, mit der Veränderungen umgesetzt werden können, ist zu einem echten Wettbewerbsfaktor geworden.
Ein guter Beleg dafür ist der Fakt, dass 1996 die Lebensdauer einer Firma noch 30 Jahre betrug. 2022 überleben Firmen durchschnittlich 16 bis 19 Jahre. Mit dieser verkürzten Lebenserwartung gehen weitere Veränderungen einher. Wie viele der 30 wertvollsten Unternehmen der Welt sind heute noch so wertvoll wie vor 30 Jahren? Die Antwort lautet: keine. Und vor 30 Jahren stammten vier der fünf wertvollsten Firmen aus Japan. Heute ist keine einzige japanische Firma mehr in den Top 5. Daraus lernen wir: Kein Unternehmen kann sich der digitalen Transformation entziehen. Wer es versucht, wird verlieren. Europa agiert hier noch erstaunlich zögerlich.
CW: Bemerkenswert, dass gerade Europa bei der Transformation hinterherhinkt.
McDermott: Ja, das ist tatsächlich bemerkenswert. Insbesondere in so innovativen Ländern wie der Schweiz oder Deutschland. In Gesprächen mit den Führungskräften in Europa höre ich immer wieder die Aussage, dass sie zwar von ihren IT-Abteilungen das Signal erhalten, sie könnten die digitale Transformation schaffen. Aber im Business werde noch zu sehr an den traditionellen Praktiken festgehalten. Hier kann ServiceNow eine Hilfe sein, um die ­digitale Transformation heraus aus der IT in die Fach­bereiche zu übertragen.
Zur Person und Firma
Bill McDermott wurde im November 2019 zum CEO von ServiceNow berufen. Erst kurz zuvor hatte er den Vorstands­vorsitz bei SAP abgegeben, den er seit Anfang 2010 ­innehatte. McDermott war 2002 bei dem deutschen Software-Konzern eingetreten. Zu den weiteren Stationen des 60-Jährigen zählen Führungsposten bei Xerox, Gartner und Siebel Systems. Er studierte Betriebswirtschaftslehre und hält einen MBA der Kellogg School of Management der Northwestern University im US-Bundesstaat Illinois.
ServiceNow wurde 2003 von Fred Luddy in San Diego als Glidesoft gegründet. Eine erfolgreiche Finanzierungsrunde und drei Jahre später benannte Luddy das Unternehmen um in ServiceNow. 2011 wurde die Niederlassung in der Schweiz gegründet. 2012 folgte der Börsengang. Die fast 11 200 Angestellten, davon ein Drittel in der Software-Entwicklung, beliefern weltweit mehr als 6200 Kunden. www.servicenow.com



Das könnte Sie auch interessieren