Lego Serious Play 15.02.2018, 14:21 Uhr

Bausteine zur Digitalisierung

Eine in der Schweiz mitentwickelte Methode könnte entscheidend zur Digitalisierung der Wirtschaft beitragen. Mit «Lego Serious Play» lässt sich eine Digitalstrategie entwickeln.
«Lego Serious Play» im professionellen Einsatz
(Quelle: ipt)
Von Kindheit an haben wir gelernt, mit den Händen zu «denken». Wir haben erfahren, dass eine Herdplatte heiss sein kann. Und, dass scharfe Gegenstände unsere Haut verletzen können. Diese Erlebnisse sind memoriert beziehungsweise im Gehirn vernetzt. Die Erinnerungen respektive ihre Vernetzung gilt es zu aktivieren. Denn in der heutigen textbasierten Welt geht die Multi­modalität je länger, je mehr verloren. Allerdings lernen wir besser, wenn wir einen Sachverhalt selbst erfahren – als wenn wir ihn lediglich von jemandem erzählt bekommen.
Im «Scenario» werden die neuen Ideen(-modelle) anhand von Herausforderungen getestet
Quelle: ipt
Die meisten heutigen Manager haben in jungen Jahren mit Lego-Bausteinen gespielt. Das Bauklötzchensystem geniesst unter Pädagogen und Psychologen einen guten Ruf zur Förderung der motorischen sowie geistigen Fähig­-keiten. «Lego Serious Play» ist mittlerweile eine etablierte
Managementmethode, die eine spielerische Entscheidungsfindung ermöglicht (vgl. Kasten unten).
“Am Ende siegt die Vernunft über entfesselte Gedanken, wenn die Ideen dem Realitäts-Check unterzogen werden„
Cyrill Rüttimann, Principal Architect, ipt
«‹Lego Serious Play› eignet sich primär für komplexe Fragestellungen, bei denen der Zusammenhang zwischen dem Ausprobieren und dem Resultat nicht klar ist», sagt Cyrill Rüttimann, Certified Facilitator und Software-Architekt bei der IT-Beratungsfirma ipt. Er hat Erfahrungen gesammelt in drei Anwendungsbereichen: dem Entwickeln von Unternehmensstrategien in einem kompetitiven Umfeld sowie dem Team-Building. Zudem kam «Lego Serious Play» beim Entwurf von Software-Architekturen zum Einsatz. Die Aussage eines Unternehmensarchitekten am Ende des Workshops: «Zum ersten Mal habe ich diese
komplexe Architektur wirklich verstanden.»
Für Rüttimann denkbar ist auch der Entwurf einer Digitalisierungsstrategie mithilfe von «Lego Serious Play», beispielsweise bei einer Versicherung. Sie könnte etwa Chancen und Herausforderungen ermitteln, die sich durch einen Policen-Abschluss ausschliesslich via Website am Sonntagabend ergeben.
Über Lego Serious Play
Die Methode «Lego Serious Play» wurde Mitte der 1990er-Jahre von den Professoren Johan Roos und Bart Victor vom Lausanner International Institute for Management Development IMD sowie Lego-CEO Kjeld Kirk Kristiansen entwickelt. Der Lego-Manager und die Forscher suchten nach alternativen strategischen Planungs-Tools und -Systemen. Sie entwickelten das Konzept einer adaptiven Strategie, bei der Lego-Bausteine als dreidimensionale Modelle für geschäftliche Probleme und Herausforderungen verwendet wurden.
Heute ist die Methode unter der Creative Commons License öffentlich zugänglich. Der Name und die Ausbildung der «Facilitators» (Moderators) sind geschützt. Lego ist daneben selbstverständlich der einzige Lieferant der speziellen Bausteine-Sets. In der Schweiz wird die Methode unter anderem von der Visualisierungs-Akademie in Zürich gelehrt.

Standardisiertes Spiel

Laut dem Facilitator – Trainer im Lego-Jargon – macht es bei «Lego Serious Play» überhaupt keinen Unterschied, ob eine komplette Firmenstrategie, eine Software-Architektur oder «nur» ein Team entwickelt werden soll. Denn für jede Fragestellung wird dasselbe Vorgehen angewandt. Es besteht aus den sechs Schritten «Skillsbuilding», «Identity», «Landscaping», «Scenario», «Emergences» und «Simple Guiding Principles».
1. Skillsbuilding: Im ersten Schritt werden die Teilnehmer mit den unterschiedlichen Lego-Bausteinen vertraut gemacht. Dazu sieht «Lego Serious Play» unterschiedliche Aufgabestellungen mit einer klar definierten Zeitspanne vor. Hier lernen die Teilnehmer auch schon, dass sie immer unter einem gewissen Zeitdruck arbeiten müssen.
Zum Beispiel: Baue mit einer vorgegebenen Anzahl Lego-Steinen einen möglichst hohen Turm – innerhalb von zwei Minuten. Nach einer Minute wird eine zusätzliche Anforderung gegeben: Der Turm muss erdbebensicher sein. Oder: Baue eine Brücke. Nach einer Minute folgt die Anweisung, dass eine Hand unter der Brücke durchpassen muss.
Die verschiedenen Lego-Männchen mit unterschied­lichen Gegenständen symbolisieren Rollen im Team
Quelle: ipt
2. Identity: Wenn die Teilnehmer den Inhalt und die Funktionen der Bausteine kennengelernt haben, geht es nach Aussage Rüttimanns umgehend zum Kern der Frage­stellung. Dafür wird zuerst ein Zielszenario definiert.
Dies geschieht an einem Whiteboard – ganz ohne Lego. Im Beispiel: Die Versicherung XYZ generiert in zwei Jahren 60 Prozent des Umsatzes mit digitalisierten Produkten über Online-Kanäle.
Anschliessend geht es um das Entwickeln von Ideen, die das Unternehmen selbst umsetzen kann. Nun kommt Lego ins Spiel: In drei bis fünf Sessions à jeweils 5 Minuten baut jeder Teilnehmer individuell ein Ideenmodell, das auf das Zielszenario einzahlt. Nach jeder Session erklären alle Lego-Baumeister ihre Modelle im Plenum. Zum Beispiel: Modell eines Chatbots, der die Kunden 7×24 beraten kann. Oder: Ein Computer analysiert alle Anrufe an die Aus­senstellen via Machine Learning und erstellt ein automatisches Protokoll.
Bei der Ideenentwicklung steht den Teilnehmern aus­serdem frei, ihre eigenen Modelle ruhen zu lassen und an den Ideen der anderen weiterzuarbeiten, wenn sie darin weitere Anknüpfungspunkte oder mehr Potenzial sehen.
Den Abschluss der Sessions bildet eine gemeinsame «Identity». Dafür werden die individuellen Ideenmodelle auf einer grossen Grundplatte zusammengefasst. Nun entscheidet das Team, welche der Ideen relevant sind und welche nicht. Für diesen Schritt sind ein bis zwei Iterationen vorgesehen, die jeweils nur 10 bis 20
Minuten dauern dürfen.
3. Landscaping: Nun stehen die Ideen­modelle im Raum. Es folgt das Modellieren der äusseren Einflüsse auf die definierten Zielszenarien. Denn: Kein Unternehmen ist isoliert auf dem Markt. Es ist abhängig von Lieferanten, Partnern und auch immer in ein Ökosystem eingebunden. Im Schritt «Landscaping» gilt es, möglichst alle Akteure ausserhalb der Firma zu identifizieren sowie zu charakterisieren. Die Teilnehmer haben wiederum drei bis fünf Iterationen à jeweils 5 Minuten Zeit, um die äusseren Einflussfaktoren darzustellen. Ein Modell kann die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht darstellen, die zusätzliche  Auflagen zum Datenschutz macht. Oder ein amerikanischer Technologiegigant plant eine Niederlassung sowie ein Angebot in der Schweiz. Ein drittes Beispiel: Hacker wollen das Kernsystem kapern und planen eine Erpressung. Der Ablauf ist analog zum vorhergehenden Schritt: Die Lego-Modelle werden auf jeweils einer Grundplatte aufgebaut und nach jeder Iteration im Plenum erklärt und diskutiert. 
Im Schritt «Landscape» werden die Rahmenbedingungen einer Organisation modelliert
Quelle: ipt
Den Abschluss des «Landscaping» bildet das Anordnen der einzelnen Ideen rund um das gemeinsame «Identity»-Modell. Mit dem Abstand zum Kern wird die Gefahr respektive das Ausmass des Change bewertet. Je näher die Modelle der «Identity» sind, desto gravierender sind sie. In ein bis zwei Iterationen à 10 bis 20 Minuten entscheidet das Plenum, welche der Ideen relevant sind und welche nicht. Auch der korrekte Abstand von der «Identity» wird im Team diskutiert und festgelegt.
4. Scenario: Da nun neue Geschäftsmodelle und das Umfeld bekannt sind, können die Modelle quasi in der Realität getestet werden. Dafür ermitteln die Teilnehmer via Brainstorming verschiedene Szenarien. Eins könnte sein: Google spannt mit einem lokalen Anbieter zusammen und bietet neu ebenfalls Versicherungen an. Oder: Hacker entwenden Kundendaten und wollen das Unternehmen erpressen. Von diesen Szenarien werden eins bis fünf selektiert.
5. Emergences: Pro Szenario werden die Auswirkungen auf die «Identity» sowie die «Landscape» durchgespielt. Dabei wird das Modell umgebaut und die Auswirkungen kommentiert. Im Fall der Versicherung bewegt ein Teammitglied die Figur des Hackers aus der «Landscape» in den Kern der «Identity». Die Idee eines anderen Teammitglieds war, sämtliche Daten in einem Data Lake zu vernetzen. So wurden das Risiko des Datenklaus und eines damit verbundenen Reputationsschadens aufgezeigt.

6. Simple Guiding Principles
: Der sechste und letzte Schritt kommt einer verkürzten Zusammenfassung gleich: Das Ziel ist die Definition einfacher Prinzipien, die einerseits die gefundene Strategie optimal unterstützen, und andererseits Gefahren abmildern. Dafür greifen die Teilnehmer nochmals in die Lego-Kisten und bauen in rund 20 Minuten jeweils ein individuelles Modell, das die Prinzipien repräsentiert. Ihre Modelle präsentieren sie anschliessend im Plenum. Optimalerweise lassen sich dann gemeinsame Prinzipien erstellen: Im Fall der Versicherung kann das bedeuten, dass die Sicherheit initial im Projekt berücksichtigt werden muss. Oder dass das Unternehmen lediglich Services rund um die Datenanalyse anbietet, aber die
Daten aus Sicherheitsgründen nicht selbst speichert.

Modell für die Wirklichkeit

Das strukturierte Vorgehen bei «Lego Serious Play» führt nach Auskunft von Rüttimann dazu, dass im Vergleich zu herkömmlichen Projektmanagementmethoden in kurzer Zeit extrem viel erreicht wird. Die Zeitvorgaben nötigen die Teilnehmer, schnell Prototypen zu entwickeln, die später kombiniert, umgebaut oder auch zerstört werden können. In der eher ungewohnten (Spiel-)Welt können sie die verrücktesten Ideen entwickeln und auf das Modell des Kollegen noch eins draufsetzen. «Am Schluss siegt doch die Vernunft über die entfesselten Gedanken, wenn die Ideen dem Realitäts-Check unterzogen werden», sagt der Experte.
“‹Lego Serious Play› eignet sich zur Entwicklung eines Teams – oder einer komplett neuen Geschäftsstrategie„
Cyrill Rüttimann, Principal Architect, ipt
Die Methode fördert ausserdem eine sachliche Diskussion: Während der Sessions wird ausschliesslich über das Modell gesprochen und nicht über eine tatsächliche Person oder ein Team. Beispielsweise kann ein schwarzer Brunnen, auf dem Lego-Männchen ohne Kopf stehen, eine Abteilung symbolisieren, in der alles verschwindet und niemand die Verantwortung übernimmt. Eine derart niederschmetternde Kritik wird im Lego-Spiel anders aufgenommen, als wenn der Systems Engineer Ivo dem Team-Leader Reto gegenübersteht und auf die Missstände hinweist.
Die Welt aus einer anderen Perspektive sehen – mit «Lego Serious Play» umgesetzt
Quelle: ipt

Expertise trifft Engagement

Die Lego-Methode unterscheidet nicht zwischen Experten und Novizen. Jeder Teilnehmer muss den anderen sein Lego-Modell respektive seine Idee erklären. Beim Storytelling wird Expertenwissen geteilt. Novizen können das challengen. Jeder Teilnehmer hat dieselbe Aufmerksamkeit. So kommen sonst eher ruhige Mitarbeiter zu Wort – und Extrovertierte muss der Facilitator zügeln.
Ein vereinfachtes Lego-Modell einer komplexen Software-Architektur
Quelle: ipt
Rüttimann weiss, dass «Lego Serious Play» maximale Aufmerksamkeit und ein hohes Engagement von allen Beteiligten erfordert. Die Regeln von «Lego Serious Play» sehen vor, dass sich niemand dem Prozess entziehen und eine ruhige Kugel schieben kann. Das erfordert einerseits Engagement, aber auch Disziplin. Die Tatsache, dass es sich bei dem Arbeitsgegenstand um ein Spielzeug handelt, vereinfacht aber die Anforderung. «Durch die Haptik der Lego-Bausteine und das Storytelling werden Emotionen und Kreativität gefördert», sagt Rüttimann.
Fakten zu Lego Serious Play
  • Gruppengrösse: optimal 5 bis 8, maximal 10 Personen
  • Rahmenbedingungen: grosser Konferenzraum, alle Teilnehmer an einem Tisch
  • Dauer: bis zu zwei Tage für Strategieentwicklung, halber Tag für Team-Building
  • Facilitator: ob interner Mitarbeiter oder externer Experte macht keinen Unterschied
  • Markt in der Schweiz: ipt nutzt «Lego Serious Play» in herausfordernden Projekten; auch im Portfolio bei selbstständigen Facilitators und Beratungsfirmen
  • Aufwand für Ausbildung: halber Tag Theorie und zweieinhalb Tage Praxis
  • Kosten Workshop: vierstelliger Betrag, je nach Dauer und Fragestellung



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