CEO Centris 26.10.2022, 06:14 Uhr

«Das Gesundheitswesen braucht offene Plattformen»

Beim IT-Dienstleister Centris laufen die Drähte von Schweizer Kranken- und Unfallversicherern zusammen. CEO Patrick Progin sagt, dass das Gesundheitswesen offene und skalierbare Plattformen braucht, die den digitalen Wandel unterstützen.
Patrick Progin übernahm vor gut 18 Jahren den Chefposten bei Centris
(Quelle: Centris)
Während der Pandemie hatte der Versicherungsdienstleister Centris als Betreiber einer kritischen Infrastruktur der Schweizer Volkswirtschaft alle Hände voll zu tun. Die Erfahrungen hätten Centris gestärkt und Türen für neue Fokusthemen wie Fraud Detection geöffnet, sagt CEO Patrick Progin. Nun aber wird ihre Branchenplattform mit der Kernsoftware Adcubum Syrius und den Umsystemen für den skalierbaren Betrieb in der Cloud fit gemacht. Durch den Ausbau des Ökosystems will Centris zudem neue Geschäftsfelder erschliessen.
Computerworld: Vor 20 Jahren wurde Centris gegründet. Sie sind fast seit Beginn dabei. Wie hat sich das Unternehmen und wie haben Sie das Unternehmen seitdem entwickelt?
Patrick Progin: Das Unternehmen ist im Jahr 2002 als Tochtergesellschaft der Stiftung Reso, eines Rechenzentrums für Krankenkassen, entstanden. Die Stiftung betrieb damals ein deutsches Informatiksystem, das am Ende seines Lebenszyklus war und aufgegeben werden sollte. Mein Auftrag war es, neue Lösungen zu prüfen, mit der die Centris vorwärtsgehen und ihre Versicherungskunden behalten konnte. Daraufhin entschieden wir, uns mit der St. Galler Software-Herstellerin Adcubum zusammenzutun und ihre bestehende Syrius-SE-Lösung gemeinsam zu reengineeren. Der Erfolg dieses Erneuerungsprojekts war für Centris matchentscheidend.
CW: Wie haben Sie und Adcubum die Software damals weiterentwickelt?
Progin: Auf der Basis der Adcubum-Software Syrius und von anderen Kernsystemen haben wir eine standardisierte Plattform entwickelt, auf der verschiedene Komponenten und Systeme angebunden werden können, um darüber die Geschäftsprozesse von Kranken- und Unfallversicherern zu bedienen und abzuwickeln. Unser Ziel dabei war es, Versicherern eine nachthaltige und preiswerte Lösung anzubieten, mit der sie ihre Commodities auslagern können, um sich voll auf die Differenzierung ihres Angebots zu konzentrieren. 2007 war die Swiss Health Platform (SHP) schliesslich geboren und der erste Kunde darauf erfolgreich migriert. Mit der SHP haben wir gleichzeitig den Branchenstandard definiert, indem die Skalierbarkeit möglich war. 
CW: Konnten Sie die Skalierung erreichen?
Progin: Zunächst haben wir, ebenfalls in Zusammenarbeit mit Adcubum, ein Modul entwickelt, das auch die Wertschöpfungskette für die Versicherung von Unternehmen in den Bereichen Krankentaggeld und Unfallversicherung unterstützt. Damit gelang es uns, eine standardisierte All-in-One-Gesamtlösung zu schaffen, die Versicherern durch die «Shared-Services-Logik» erhebliche Vorteile brachte. Dies hat sich mit dem von da an kontinuierlichen Zuwachs an Kunden immer wieder bestätigt.

Wo Centris heute steht

CW: Wo steht Centris heute?
Patrick Progin freut sich über zufriedene Mitarbeiter, denn er weiss, wie schwierig es ist, gutes Personal zu bekommen
Quelle: Centris
Progin:
Mit dem stetigen Zuwachs von grossen und kleinen Versicherern zählen wir heute 23 Kunden aus der ganzen Schweiz und sind marktführend bei Outsourcing-Dienstleistungen für Kranken- und Unfallversicherungen. Über die Centris-Systeme werden rund 4,3 Millionen Versicherte abgerechnet, also etwa die Hälfte der Schweizer Bevölkerung, und mehr als 125 000 Unternehmen. Täglich arbeiten gut 7750 Sachbearbeiter bei den Versicherungsunternehmen und fast 2200 Broker auf unseren Systemen, mit denen wir jährlich auch etwa 26 Millionen Rechnungen prüfen. Die Geschäftszahlen sprechen ebenfalls für sich: So hat sich der Umsatz seit der Gründung im Jahr 2002 mehr als verdoppelt, und wir zählen doppelt so viele Mitarbeitende.
Mit Axa, Helsana und Swica sind drei Branchengrössen unsere Kunden. Mit der heutigen Open Swiss Health Platform betreibt Centris eine offene, integrierte und skalierbare Gesamtlösung, welche die gesamte Wertschöpfungskette für Kranken- und Unfallversicherer mit Services bedient und unsere Kunden ermächtigt, ihre Digitalisierungsstrategien umzusetzen.
Im Frühjahr dieses Jahres konnten wir die Serviceverträge mit sieben unserer Kunden, namentlich Aquilana, Axa, EGK, innova, ÖKK, Solida und Swica, bis 2030 verlängern. Damit sichern wir eine enorm stabile Basis für die Zukunft der Centris und unserer Mitarbeitenden sowie für die Versicherungslandschaft Schweiz.
Wir sind ein moderner und stabiler Arbeitgeber, der Mitarbeitende fair entlöhnt und ihnen mit viel Flexibilität für die Work-Life-Balance entgegenkommt. Für die Zukunft der Branche ist es unerlässlich, die Weiterbildung und -entwicklung der Belegschaft zu unterstützen und den Nachwuchs zu fördern. Centris bildet heute 14 IT-Lernende aus und erweitert ihr Ausbildungsprogramm in den nächsten Jahren für weitere zehn Nachkömmlinge.
CW: Wenn Sie Centris mit dem Wettbewerb vergleichen würden: Welches sind die Alleinstellungsmerkmale?
Progin: Einzigartig ist sicher unser voller Fokus auf die Kranken- und Unfallversicherer mit einem Geschäftsmodell, bei dem die Kunden individuell und als Gemeinschaft von standardisierten Services, einer hohen Betriebs- und Transformationsmaturität sowie dem Branchen-Know-how profitieren. Wir haben seit der Entwicklung der SHP keinen einzigen Kunden verloren, aber einige Kunden hinzugewonnen. Sie alle bilden eine Community, in der sehr viel Innovationspotenzial steckt. Unsere Kunden sind alle im Versicherungsgeschäft tätig – und viele haben ähnliche Herausforderungen. Indem wir die Kunden zusammenbringen, können wir ihnen helfen, die Probleme zu lösen. Existiert eine Lösung, kann Centris sie über die gesamte Community hinweg skalieren. Dabei geht es kaum nur um IT, sondern vielmehr um das Versicherungsgeschäft. Dies kann ein reiner IT-Dienstleister – was unser grösster Wettbewerb ist – nicht bieten. Mit diesem Vorteil sind wir in der Lage, in Zukunft auch ganze Ökosysteme im Gesundheitswesen zu unterhalten.

Cloud Computing in der Schweizer Versicherungsbranche

CW: Skalierung ist ein gutes Stichwort. Welchen Stellen­wert hat Cloud Computing heute im Schweizer Versicherungsgeschäft?
Progin: Der Markt ist insbesondere durch die technischen Entwicklungen sowie den Wandel der Gesellschaft stark geprägt. Der Bedarf nach einer kosteneffizienteren und übergreifenden Gesundheitsvorsorge erfordert eine starke Vernetzung, womit Cloud-Lösungen Einzug auch in den Gesundheitsmarkt halten. Dabei fungieren Schweizer Provider zu den Hyperscalern (Public Cloud) als Integrator für Beratungs-, Umsetzungs- und betriebliche Themen. Wir sind mittendrin und im engen Dialog mit allen Anspruchsgruppen. Denn auf absehbare Zeit wird die Cloud für Versicherungen zum Standard werden. Die Frage ist nicht ob, sondern einzig wann es so weit ist. Und ausserdem: Wer macht den Anfang?
Centris binde seine Kunden heute langjährig, sagt Patrick Progin im Interview
Quelle: Centris
CW: Das klingt jetzt so, als würden die Krankenkassen in die Public Cloud streben.
Progin: Die Kunden wollen vor allem Möglichkeiten, die ihnen einen bedarfsgerechten und flexiblen Bezug von Software- und Plattform-Services erlauben. Wir sehen den Boom der Public Clouds differenziert: Unsere Aufgabe ist es, unsere Kunden technologisch vor allem mit dem Back­end zunächst Schritt für Schritt dahin zu führen, indem sie erst von den Vorteilen des Cloud Computings – aber in einer Private Cloud – profitieren, ohne dabei hohe Risiken für den Betrieb in Kauf zu nehmen.
CW: Was bedeutet das für die Strategie der Centris?
Progin: Für Centris erschliessen sich mit Cloud-Lösungen vor allem neue Geschäftsfelder im Bereich der Ökosysteme und Plattformtechnologien. Dabei kann eine gemeinsame und vernetzte Plattform den Datenaustausch unterstützen und vereinfachen, die Informationssicherheit gewährleisten und Grundlagen für die Datenanalyse schaffen. Unsere Strategie ist es, alle Services in die Cloud zu bringen, aber nicht ohne die Vor- und Nachteile der jeweiligen Lösungen abzuwägen. Für uns ist klar, dass wir mitunter eine eigene Cloud (Private Cloud) betreiben.
Die Backend-Systeme sind heute weitgehend nicht bereit für die Cloud. Zudem sind Fragen zum Schutz und zur Haltung von Gesundheitsdaten bei Hyperscalern nicht endgültig geklärt. Deshalb machen wir zunächst – konkret im Rahmen einer exklusiven Partnerschaft mit Adcubum – die Systeme Cloud-fähig, wobei der erste Schritt, die Containerisierung, in unserer Private Cloud erfolgt. Damit erhalten unsere Kunden bereits Vorteile bezüglich Skalierung, zum Beispiel bei der Bereitstellung von Testsystemen. In der Folge können die Systeme dann in geplanten Schritten auf die Hyperscaler gebracht werden.
Services wie Integration und Data Analytics würden wir dann direkt in der Public Cloud anbieten, da gerade in diesen Bereichen von den Kapazitäten der Public-Cloud-Anbieter zur Beschleunigung von Innovation und der hohen Skalierbarkeit profitiert werden kann. Parallel dazu müssen die Compliance-Fragen hinsichtlich Datenhaltung auf Hyperscalern geklärt werden, und die Organisation muss sich auf das Adaptieren eines neuen Operating Models vorbereiten.
CW: Ist die Datenhaltung in der Schweiz für die Krankenkassen zwingend vorgeschrieben?
Progin: Bisher war das so. Allerdings kann und wird diese Hürde in absehbarer Zeit vollständig überwunden werden. Die Hyperscaler und auch andere Provider können diese Option mittlerweile anbieten.

Mit KI gegen Betrugsversuche

CW: Sie sprechen von Analytics. Wie nutzen Sie diese?
Progin: Dank der Lösungen mit Data Analytics gewinnen wir essenzielle Erkenntnisse zur Verbesserung der Geschäftsvorgänge bei uns selbst und bei unserer Kundschaft. Damit können wir vor allem die Prozessqualität und -effizienz optimieren, was ein zentrales Anliegen unserer Kunden ist. Ein weiterer wichtiger Einsatzbereich von Data Analytics ist die Aufdeckung von Betrugsfällen (Fraud Detection) und damit verbundene Möglichkeiten zur langfristigen Senkung der Gesundheitskosten.
CW: Jüngst machten gefälschte Covid-Tests Schlagzeilen. Ist Fraud Detection ein Geschäft für Centris?
Progin: Wir haben mit Kunden ein intelligentes Regelwerk für die Kontrolle der elektronischen Rechnungen entwickelt. Vorgesehen sind auch KI-basierte Funktionen für die Betrugserkennung. Dies sind 2 von rund 300 funktionalen Erweiterungen in unseren Kernbereichen pro Jahr. Unser jährliches Innovationsbudget beträgt knapp fünf Millionen Franken.
Mit Partnern planen wir den Ausbau des Bereichs der Datenwissenschaften. Wir hätten durchaus Interesse daran, die Spezialisten selbst anzustellen, aber die Experten auf diesem Gebiet sind nicht auf dem Markt. Deshalb haben wir uns entschieden, Lösungen gemeinsam mit zwei Partnern zu realisieren.
Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Bei den Covid-Tests gingen die Betrüger gezielt vor: Sie reichten bei den Krankenkassen bewusst nur Rechnungen über kleine Beträge ein. Denn sie wussten, dass Rechnungen wegen des hohen Aufwands erst ab einem gewissen Grenzbetrag tatsächlich geprüft werden. Wenn nun aber viele Rechnungen über kleine Beträge eingereicht werden, ist der Schaden letztlich trotzdem gross.
CW: Was plant die Centris in der näheren Zukunft?
Progin: Wir haben viel vor. Centris steht wie viele andere Firmen vor Herausforderungen hinsichtlich Betriebskontinuität – wie zuletzt bedingt durch die Pandemie oder aktuell durch die drohende Energiekrise. Auf solche Situationen bereiten wir uns proaktiv und intensiv vor. Bezüglich Ertragsziele ist klar, dass wir weiter wachsen und neue Versicherungskunden gewinnen wollen – auch solche, die bereits in der Cloud sind, oder solche aus dem Ausland, die ihr Interesse an unserem Ökosystem signalisieren.
Im Rahmen unseres Innovationszyklus entwickeln wir ausserdem das Serviceportfolio zusammen mit der Community laufend weiter und werden in diesem Kontext einige Projekt realisieren. So streben wir es an, unseren Kunden möglichst bald ein bedarfsorientiertes und kostentransparentes Servicemodell im Sinne von SaaS zu bieten. Für all unsere Vorhaben ist jedoch entscheidend, dass wir über das nötige Human Capital verfügen. Entsprechend gross sind dort unser Fokus und unsere Investitionsbereitschaft, zum Beispiel mit Ausbildungskampagnen zu Cloud-Themen und zusätzlichen Mitarbeiterbindungsmassnahmen.
Zur Person und Firma
Patrick Progin ist seit Januar 2004 CEO des IT-Dienstleisters Centris. Zuvor war er insgesamt fünf Jahre CIO und Verwaltungsrat bei Swiss Life sowie La Suisse Versicherung. Als COO bei Unicible betreute Progin während der 1990er-Jahre die Banking-Systeme unter anderem der Genfer, der Waadtländischen und der Walliser Kantonalbank. Der studierte Wirtschaftsinformatiker hat sich zusätzlich auf IT-Security spezialisiert.
Centris ging 2002 aus der Stiftung Reso hervor, die ihren Ursprung im Jahr 1947 hat. Das Unternehmen zählt zu den führenden Dienstleistern für IT-Lösungen im Schweizer Markt der Kranken- und Unfallversicherer. Zu den Kunden zählen u. a. Allianz Suisse, Aquilana, Assura, Atupri, Axa, Basler, EGK, Generali, Helsana, Helvetia, Innova, Mobiliar, ÖKK, Solida, Swica, die Sympany-Gruppe sowie die Vaudoise Versicherungen. Als einer der grössten Arbeitgeber der Stadt Solothurn beschäftigt Centris über 280 Mitarbeitende. www.centrisag.ch



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