Effizienz bei Neueinstellungen 24.08.2022, 06:12 Uhr

Onboarding mit KI-Technik

Neue Technologien wie Künstliche Intelligenz sollen den Arbeitsbeginn neuer Mitarbeiter optimieren. Computerworld zeigt, wie Onboarding so funktioniert.
(Quelle: Shutterstock / Grafvish; Leena AI)
Gutes Onboarding ist eine Chance, die Produktivität und das Engagement neuer Mitarbeiter schnell zu steigern. Mitarbeiter richtig abzuholen wäre auch wegen des Homeoffice-Trends wichtiger denn je. Doch laut der «Onboarding»-Umfrage 2021 von Haufe sehen 86 Prozent der HR-Verantwortlichen beim Onboarding klaren Handlungsbedarf. In Fachforen und Studien wird oft über mangelhafte bis kaum vorhandene Prozessautomatisierung oder unzureichende fachliche Einarbeitung berichtet.

Überlastete Personalabteilungen

Jedes Onboarding umfasst nicht nur die soziale und fachliche Eingliederung der neuen Mitarbeiter, sondern auch administrative und organisatorische Formalitäten. Zusammenstellen und Ausfüllen der Unterlagen, Dokumentenprüfung, Orientierungsschulungen, Aufnahme ins Personalabrechnungssystem – all das und vieles mehr fällt neben den laufenden Aufgaben in den Verantwortungsbereich der HR. «Die Herausforderungen für Personalabteilungen beim Onboarding-Prozess bestehen darin, dass er für beide Parteien zeitaufwendig, ermüdend und belastend ist», so Karen Burke, Knowledge Advisor bei SHRM, dem weltgrössten Berufsverband der Personalbranche.
Eine Folge des enormen Administrationsaufwands ist, dass Neulinge länger auf Antworten auf wichtige Fragen warten müssen, aber auch, dass zu wenig Zeit für wirksame Onboarding-Aktivitäten bleibt. Oft liegt das daran, dass der Automatisierungsgrad beim Onboarding verglichen mit dem, was möglich wäre, noch ziemlich niedrig ist. «Auch wenn viele Organisationen, die während der Pandemie rekrutieren mussten, Teile des Onboardings automatisiert haben, lässt das Ausmass der Automatisierung noch Raum für Verbesserungen», bestätigt Anil Vijayan, der sich als Partner beim Beratungsunternehmen Everest Group intensiv mit HR, KI und Automatisierung beschäftigt.
Laut der Haufe-Umfrage stecken Digitalisierung und Software-Einsatz bei HR in vielen Bereichen noch in den Anfängen. 40 Prozent der Befragten gaben an, dass sie ihre Rekrutierung noch mit analogen Massnahmen erledigen, während 83 Prozent sagten, ihr Unternehmen habe im vergangenen Jahr «keine zusätzlichen (digitalen) Onboarding-Massnahmen ergriffen». Zu ähnlichen Ergebnissen kam schon 2017 eine Studie von Human Capital Institute (HCI) und dem HR-Software-Anbieter Kronos.
Der Automatisierungsgrad lässt sich auf mehreren Wegen erhöhen. Moderne HR-Systeme wie BambooHR oder HiBob verfügen zum Beispiel über eine Pre-Onboarding-Funktion, die mit einer umfassenden Datenerfassung die Automatisierung vieler Prozesse ermöglicht. In den letzten Jahren kamen vermehrt KI-Lösungen auf, die bereits in der frühen Phase des Onboardings durch Automatisierung zeit- und ressourcenintensive Prozesse und Aufgaben beschleunigen – etwa mit Chatbots oder virtuellen Agenten. «Konversations-KI in Form von virtuellen Agenten kann verwendet werden, um die Anfragen neuer Mitarbeiter zu jeder Tageszeit zu beantworten, insbesondere in einem Remote-Kontext, in dem es möglicherweise nicht einfach ist, sich mit anderen Mitarbeitern zu verbinden», erklärt Anil Vijayan von Everest Group.
Kavita Ganesan, KI-Beraterin und Autorin des kürzlich erschienenen Buchs «The Business Case for AI», hat ein konkretes Beispiel parat: «Wenn Mitarbeiter noch keine Informationen zur Gehaltsabrechnung und zu Zusatzleistungen haben, kann die KI-gesteuerte Lösung nach und nach Aufgaben vorschlagen, um das zu erledigen.»
Der Markt für KI-basierte virtuelle Agenten ist noch recht jung, wächst aber schnell. Zu den bereits gut eta­blierten Anbietern gehört Leena AI. Das Unternehmen will mit seinen Produkten Organisationen helfen, aus dem Onboarding-Prozess ein ansprechendes, interaktives Erlebnis zu machen. Das Ziel ist, Unternehmen ein einheitliches Tool an die Hand zu geben, das einen reibungslosen und stetigen Kommunikationsfluss zwischen einem Kandidaten und einem Personalvermittler gewährleistet – von der Auswahlliste bis zum endgültigen Eintritt ins Unternehmen. Leena AI lässt sich mit anderen Systemen wie SAP SuccessFactors, Workday oder Microsoft 365 verknüpfen, um eine abteilungsübergreifende Zusammenarbeit zu ermöglichen.
Diese Prozessautomatisierung führt zu extrem kurzen Reaktionszeiten und zu Personalern, die sich auf personalisierte Dienste oder komplexe Sachverhalte konzen­trieren können, statt stets wiederkehrende Fragen beantworten zu müssen. Und sie spart Geld. So berichtet etwa Infopro Learning, dass sein Kunde, ein grosses IT-Unternehmen, nach Einführung eines HR-Chatbots 96.000 Dollar Kostensenkung pro Jahr für Onboarding-Programme verzeichnen konnte.

Fachliche Einarbeitung beschleunigen

Neue Mitarbeiter müssen in der Regel auch fachlich intensiv eingearbeitet werden. Hier setzen Unternehmen auf diverse Strategien, zum Beispiel Lernplattformen, um jobrelevantes Wissen über E-Learning-Kurse, interaktive Aufgaben, Prozess-Schulungen oder Simulationen zu vermitteln. Doch nicht alle rollenspezifischen Aufgaben sind wiederkehrend und lassen sich in eine standardisierte Lerneinheit übersetzen. «Für gleichbleibende Tätigkeiten mit klar definierten Aufgaben – denken wir an den Sachbearbeiter, der immer die gleichen Formulare prüft, oder die Juristin, die immer die gleichen Verträge erstellt – sind Lernmanagementsysteme effektiv», erklärt Christoph Kling, Gründer des KI-Start-ups aiconver (siehe auch Interview). Nico Blier-Silvestri, HR-Fachexperte und Mitgründer des dänischen HR-Tech-Start-ups Platypus, teilt diese Erfahrung: «Berufsspezifische Lernmaterialien eignen sich gut für Junior-Level- oder Einstiegsjobs oder Aufgaben mit geringer Komplexität.» Bei veränderlichen Aufgaben oder komplexeren Rollen und Positionen lohne sich dagegen die Erstellung von Trainingsmaterialien nicht, sagen die beiden Experten – hier kämen persönliches Mentoring oder ein Buddy-Programm ins Spiel. Solche Programme gewinnen in der Tat an Popularität: In der Haufe-Onboarding-Umfrage 2019 gaben noch 51 Prozent der deutschen Unternehmen an, dass neuen Mitarbeitern ab dem ersten Arbeitstag ein Pate oder Mentor zur Seite gestellt würde, im Jahr darauf waren es schon 64 Prozent.
Nico Blier-Silvestri zufolge ist es jedoch für erfahrene Mitarbeiter, die sowohl ihre Zeit als auch ihr Wissen teilen, sehr schwer, den Spagat zu schaffen zwischen dem Aufrechterhalten der eigenen Produktivität und der Einarbeitung neuer Mitarbeiter: «Ein Buddy-Programm beziehungsweise Mentoring ist die effizienteste, aber auch die zeit- und kostenintensivste Art des Onboardings.» Oft gibt es auch gut gemeinte, aber unzureichend umgesetzte Programme, die sich negativ auf die Mitarbeiterbindung auswirken können. Karen Burke von SHRM  warnt: «Unterdurchschnittliche Buddy-Systeme, Mentoring-Programme und Onboarding-Prozesse können dazu führen, dass sich neue Mitarbeiter überfordert, unvorbereitet auf ihre Aufgaben und mit ihren Kollegen und dem gesamten Unternehmen nicht verbunden fühlen.»
Alle Mitarbeiterdaten auf einen Blick, unter anderem Abteilung, Standort und Status des Onboarding-Prozesses.
Quelle: aiconver
Vor diesem Hintergrund entstehen erste KI-Lösungen, die Wissensmanagement- und Trainings-Tool zugleich sind. Statt Kollegen, Vorgesetzte oder Mentoren mit Fragen zu löchern, finden neue Mitarbeiter damit in den Wissensbeständen des Unternehmens schnell die passenden Antworten auf ihre Fragen. Solche Tools können auch das Mentoring oder Coaching wirksam ergänzen. Die gängigen Tools reagieren nur auf Anfragen, doch was sollen die Neuen fragen, wenn sie die Prozesse und Abläufe noch gar nicht genau kennen? «Künstliche Intelligenz kann neue Mitarbeiter aktiv mit dem Wissen versorgen, das sie für ihre Aufgaben benötigen», betont Christoph Kling.
Der Zugang zu den Wissensbeständen eines Unternehmens kann auf unterschiedliche Weise ablaufen. Der KI-Mentor von aiconver liest etwa die Dokumente von vorhandenen Cloud-Speichern und Laufwerken, vorausgesetzt, dass die Nutzer den Zugriff auf ihre Speicher autorisiert haben. Das Lernen der Algorithmen erfolgt automatisch, ein manuelles Training ist nicht erforderlich. Um die Einarbeitung voranzutreiben, liest der KI-Mentor die Aufgabenbeschreibung und optional erste Arbeitsergebnisse des neuen Mitarbeiters. Anschliessend empfiehlt die KI aktiv Dokumente von Kollegen für die aktuellen Aufgaben – und erklärt für jedes empfohlene Dokument, was der Mitarbeiter beim Lesen konkret für seine Aufgabe lernen kann. Insbesondere für das fachliche Onboarding bei Telearbeit bieten solche KI-Lösungen einen enormen Vorteil. «Dadurch werden die Erwartungen neuer Mitarbeiter an Einarbeitung auch im Homeoffice erfüllt – und es entstehen weniger Fragen an Mentoren und Kollegen», sagt Kling.

Fazit & Ausblick

KI-Lösungen sind keine Zukunftsmusik mehr, doch ihre Akzeptanz im Bereich HR hält sich noch in Grenzen. Laut Anil Vijayan sind virtuelle Agenten in den Personalabteilungen weit mehr verbreitet als andere KI-basierte Technologien. Aber der Everest-Group-Experte ist sich sicher, dass der Bedarf an diesen Lösungen zunehmen wird: «Remote-Arbeit und insbesondere Remote-Onboarding haben viele Organisationen dazu veranlasst, nach Automatisierung zu suchen, und dabei sind sie auch auf diese KI-basierten Lösungen aufmerksam geworden.»
Auch Kavita Ganesan sieht im Trend zur Telearbeit die treibende Kraft hinter der Verbreitung solcher Lösungen: «Die Rationalisierung des gesamten Onboarding-Prozesses ist von entscheidender Bedeutung und kann die grosse HR-Belastung verringern, während die Mitarbeiter dazu gebracht werden, ihre Rollen effektiv auszufüllen.»
Virtuelle Agenten und Mentoren werden vollwertige HR-Software und menschliche Coaches nicht ersetzen. Sie helfen aber sehr dabei, neue Mitarbeiter abzuholen und eine optimale Onboarding-Erfahrung sicherzustellen. Sie entlasten Personaler und erfahrene Kollegen, weil diese nur noch bei komplexen und kritischen Fragestellungen zurate gezogen werden müssen. Adit Jain, Mitgründer von Leena AI, bringt es auf den Punkt: «Onboarding und Training sind im Wesentlichen die ersten Schritte eines Mitarbeiters in einem Unternehmen. Es prägt den ersten Eindruck von dem Unternehmen und seiner Kultur.» Und der erste Eindruck ist bekanntlich entscheidend.
Vier Einsatzbereiche für KI im Personalwesen
Automatisierung wiederkehrender Aufgaben: KI-basierte virtuelle Agenten können die Beantwortung häufig gestellter Fragen übernehmen, Erinnerungen verschicken oder beim Freischalten bestimmter Systeme unterstützen. Das befreit HR von Routine-Aufgaben und schafft Möglichkeiten, den Mitarbeitern personalisierte Dienste anzubieten. Beispiele: Leena AI, Moveworks, Amelia, ebm.
Rekrutierung und Kandidatenbewertung: KI-Lösungen in diesem Bereich unterstützen HR bei der Suche nach passenden Kandidaten auf der Basis der Stellenbeschreibungen und übernehmen die erste Kontaktaufnahme. Auch beim Bewerber-Screening kann KI eine enorme Hilfe sein, indem sie binnen kürzester Zeit eine Vielzahl von Lebensläufen analysiert, um die Best Matches zu finden. Interessante Lösungen in diesem Segment sind HireVue, Pymetrics und PredictiveHire.
Mitarbeiterentwicklung: Hier kann KI anhand der Beschreibungen der Aufgaben und des Mitarbeiterprofils die Verbesserungspotenziale aufzeigen und die Neueinstellungen automatisch mit den am besten geeigneten Mentoren und Buddies verknüpfen oder sie proaktiv mit aufgabenrelevantem Wissen versorgen, um die fachliche Einarbeitung zu beschleunigen.
Besonders spannend ist in diesem Bereich der KI-Mentor von aiconver, der für neue Mitarbeiter kuratierte Empfehlungen für interne Dokumente sowie Bei­spiele und Arbeitsergebnisse zu ihren aktuellen Arbeitsthemen beschafft; andere Lösungen sind CoachHub, BetterUp und Zenarate AI Coach.
Kulturpflege und Talentmanagement: Ein weiteres, noch sehr junges Feld beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz im HR-Bereich sind Lösungen, die Organisationen dabei unterstützen, den kulturellen Treiber von Menschen im gesamten Unternehmen zu messen, potenzielle kulturelle Risiken zu identifizieren, die Anzeichen eines bevorstehenden Burn-outs anhand von Leistungsabbau zu erkennen oder Schlüsselbereiche für die Verbesserung des Betriebsklimas aufzuzeigen. Zu den Lösungen in diesem Sektor zählen etwa Platypus, Aware, retorio und Punditas AI Advisor.

Kurzinterview: «Im Homeoffice fällt mangelnde Einarbeitung weniger auf»

Computerworld: Herr Kling, wie sieht es derzeit beim Onboarding von neuen Mitarbeitern in den Unternehmen aus – gibt es Unterschiede je nach Unternehmensgrösse?
Dr. Christoph Kling
Gründer von aiconver
Quelle: aiconver
Christoph Kling:
Aus mittleren und kleinen Unternehmen berichten Mitarbeiter häufiger, dass sie bei der Einarbeitung alleingelassen werden, und von fehlender oder uneinheitlicher Dokumentation. Die Folge sind enttäuschte, demotivierte Mitarbeiter und Kündigungen, lange Einarbeitungszeiten, geringe Produktivität, vermeidbare Doppelarbeit und von vielen Fragen gestresste Mentoren.
Computerworld: Woran liegt das?
Kling: Dafür gibt es viele Ursachen. Im Homeoffice fällt mangelnde Einarbeitung weniger auf und proaktive Hilfe wird erschwert. Lange Einarbeitungszeiten haben viele Gründe: Das Lernen und das Anwenden des Gelernten liegen oft auseinander, Inhalte werden vergessen. Schlechte Dokumentation liegt oft an fehlenden Anreizen. Und gestresste Mentoren sind eine Folge, wenn ein vorbereitetes Training ineffizient ist.
Computerworld: Unternehmen investieren in Human-Capital-Management-Software (HCM), Digital-Learning-Plattformen und andere Trainings-Tools. Würden Sie sagen, dass all diese Investitionen umsonst sind?
Kling: Die meisten Werkzeuge stellen sicher, dass Prozesse etabliert und durchlaufen werden – zum Beispiel Onboarding-Checklisten und Trainingsprogramme. Das entlastet Kollegen und sorgt für eine Mindestqualität des Onboardings, ist also nicht umsonst.
Das Problem: Ineffiziente Prozesse werden dadurch nicht effizienter. Es bedarf völlig neuer He­rangehensweisen, um etwa eine personalisierte Employee-Experience zu schaffen, die den Mitarbeiter in den Mittelpunkt stellt. Diesen Ansatz verfolgen wir auch bei unserem KI-Mentor.
Computerworld: Gibt es eigentlich bestimmte Branchen, Sektoren oder Jobs, bei denen Sie den Einsatz Ihres KI-Mentors für besonders sinnvoll und wirksam erachten?
Kling: Es gibt nur wenige Bereiche wie die Software-Entwicklung, in denen spezialisierte Wissensmanagement-Tools sehr aktiv genutzt werden. Für alle anderen Bereiche bieten wir uns an. Gerade mittlere und kleine Unternehmen, die nicht Dutzende von Wissensmanagern beschäftigen und den Dokumentationsaufwand reduzieren wollen, können mit uns sofort Einarbeitung und Effizienz verbessern.
Computerworld: KI-basierte virtuelle Assistenten und Machine Learning sind keine neuen Themen, doch im Bereich Onboarding ist die Verbreitung solcher Lösungen laut Gartner noch ziemlich gering. Woran liegt das Ihrer Meinung nach – und wie schätzen Sie die Implementierungschancen in den deutschen Unternehmen ein?
Kling: Im Onboarding-Bereich gab es Nachholbedarf, also wurden erst einmal bestehende Prozesse abgebildet – grösster Nutzen bei geringstem Aufwand. KI benötigt ausserdem viele Daten, die erst gesammelt werden müssen. Durch den Homeoffice-Boom werden mehr Dokumente, Nachrichten und Prozesse digital gespeichert – diese Daten bieten ein riesiges Potenzial für KI. Durch den damit steigenden Nutzen von KI-Lösungen erwarte ich hier starkes Wachstum.



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