Gesundheitswesen und digitale Therapie 01.03.2018, 06:00 Uhr

«Es gibt teils Anreize für eine maximale Medizin»

Als grösste Krankenversicherung der Schweiz kommt der CSS eine besondere Rolle im Gesundheitswesen zu. Generalsekretärin Gabriella Chiesa Tanner spricht über falsche Anreize und die digitale Therapie.
Gabriella Chiesa Tanner ist Generalsekretärin der Krankenversicherung CSS
(Quelle: Samuel Trümpy / NMGZ)
Mitte nächsten Jahres bekommt die Schweiz das elektronische Patientendossier. Die Initianten versprechen sich davon mehr Effizienz und tiefere Kosten. Die Kostenträger sind in das System allerdings gar nicht involviert. Die CSS als grösste Krankenversicherung der Schweiz wünscht sich mehr Transparenz darüber, welche Leistungen sie tatsächlich bezahlen muss. Dafür ist Generalsekretärin Gabriella Chiesa Tanner im politischen Bern aktiv. Und auch am Hauptsitz in Luzern befasst sie sich mit der Digitalisierung des Versicherungsgeschäfts sowie der Pflege, sagt sie im Interview.
Computerworld: Wie krank ist das Schweizer Gesundheitswesen?
Gabriella Chiesa Tanner: Das Gesundheits­wesen ist nicht im eigentlichen Sinne krank. Es lebt einfach auf zu grossem Fuss. Bei aller berechtigter Kritik: Das Schweizer Gesundheitswesen hat auch viele Vorzüge. Mit der obligatorischen Grundversicherung sind Frau und Herr Schweizer umfangreich abgesichert. Mit der freiwilligen Zusatzversicherung kann man ergänzende Leistungen versichern. Dieses Prinzip halte ich für hervorragend. Unbestritten stehen wir aber vor einigen Problemen. Im System sind heute sehr viele Stakeholder involviert. Sie verfolgen jeweils ihre eigenen Interessen. Die Anreize sind teilweise so gesetzt, dass keine optimale medizinische Versorgung erfolgt, sondern eine maximale Versorgung, ja eine Überversorgung. Dieser Unterschied ist sehr entscheidend. Denn die maximale Medizin kann durchaus – auch jenseits der hohen Kosten – negative gesundheitliche Folgen für den Patienten haben.
CW: Können Sie Beispiele für falsche Anreize geben?
Chiesa Tanner: Führt ein Arzt mehr Behandlungen aus als notwendig, hat dies einen positiven Einfluss auf sein Einkommen. Somit hat er keinen Anreiz, nur das Notwendige zu machen. Das gilt ebenso für den stationären Bereich, der aktuell stark in der Diskussion ist. Beispielsweise zeigt die Organisation Swiss Medical Board auf, dass häufig operiert wird, obwohl Studien bei bestimmten Indikationen konservative Behandlungen (sprich Physiotherapien) empfehlen. Im Gesundheitswesen gilt das Vertrauensprinzip, das sich im Grossen und Ganzen bewährt hat: Der Arzt entscheidet. Um das Beispiel von vorhin aufzugreifen: Es sollen jedoch bei strittigen Eingriffen Vorgaben gemacht werden, wann operiert werden soll. Diese Guidelines sollte der Arzt dann umsetzen.

Die Rolle der Krankenversicherungen

CW: Übernehmen die Krankenversicherungen eine Regulationsfunktion in diesem System?
Chiesa Tanner: Die Schweizer Krankenversicherungen haben den Auftrag, die Wirksamkeit, die Zweckmässigkeit und die Wirtschaftlichkeit von medizinischen Behandlungen zu prüfen. Diese Funktion nehmen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten wahr. Allerdings fehlen uns wesentliche Informationen wie zum Beispiel die Diagnose, um eine stringente Kontrolle durchzusetzen. Nichtsdestotrotz sparen wir durch die Kontrolle auch heute bereits Millionen an Prämien­geldern ein.
CW: Was wären Ihre Vorschläge?
Chiesa Tanner: Wir plädieren für mehr Transparenz. Es sollte klar sein, für welche Leistung die Krankenversicherung zahlen muss. So würden uns mehr Möglichkeiten gegeben, unsere Kontrollfunktion noch besser wahrzunehmen. Bei den Tarifen und bei der Medikation können wir die Kont-rolle gut wahrnehmen. So lässt sich klar prüfen, ob ein Medikament zum korrekten Preis in Rechnung gestellt wird.
“Wir plädieren für mehr Transparenz, damit klar ist, für welche Leistung die Krankenversicherung zahlen muss.„
Gabriella Chiesa Tanner
CW: Die Transparenz der Daten scheint ein zentrales Element im Gesundheitswesen zu werden. Arbeiten Sie daran, mehr Transparenz zu bekommen?
Chiesa Tanner: Wir versuchen, auf politischer Ebene mehr Transparenz einzufordern. Um diesen Prozess voranzutreiben, braucht es allerdings eine gemeinsame Anstrengung verschiedener Akteure. Wenn wir an das elektronische Patientendossier denken, muss ich konstatieren, dass die Krankenversicherungen von vornherein ausgeschlossen wurden. Es gab den bewussten Entscheid, dass die Versicherungen keine Einsicht erhalten. Insofern ist die Hoffnung eher gering, an mehr Daten zu gelangen.
CW: Welche Möglichkeiten sehen Sie? Bestenfalls gibt es einen Mittelweg?
Chiesa Tanner: Denkbar wären wissenschaftliche Auswertungen gemeinsam mit Ärzten und Spitälern. So liessen sich Frage­stellungen untersuchen wie: Welcher Behandlungspfad hat einen positiven Effekt auf den Behandlungserfolg und auf die Kosten? Die CSS hat den vollständigen Überblick über die Kosten eines Patienten. Wenn wir in einem geschützten Rahmen – beispielsweise einer wissenschaftlichen Studie – weitergehende Gesundheitsdaten erhalten würden, liessen sich aufschlussreiche Analysen durchführen. Sie brächten grossen Nutzen nicht nur für die Patienten, sondern auch für das gesamte Schweizer Gesundheitssystem.
Zur Person
Gabriella Chiesa Tanner
amtet seit April 2017 als Generalsekretärin der Krankenversicherung CSS. Die studierte Pharmazeutin ist bereits seit 1999 in verschiedenen Funktionen bei der CSS tätig, zuletzt als Senior Consultant und Leiterin des CSS Health Lab an der ETH Zürich sowie der Universität St. Gallen. Chiesa Tanner ist ausserdem Präsidentin der Eid­genössischen Kommission für Analysen, Mittel und Gegenstände sowie Mitglied der Eidgenössischen Kommission für allgemeine Leistungen und Grundsatzfragen.

Das Tagesgeschäft der Generalsekretärin

CW: Woran arbeitet die Generalsekretärin der CSS im aktuellen Tagesgeschäft?
Chiesa Tanner: Bei der CSS leite ich verschiedene Abteilungen, so zum Beispiel die Gesundheitspolitik. Sie verantwortet gemeinsam mit dem Krankenversicherungsverband Curafutura das politische Lobbying. Ein zweiter Tätigkeitsbereich ist die Organpflege. Die CSS ist als Verein organisiert, hat einen Mitgliederrat als höchstes Organ, den Verwaltungsrat und die Konzernleitung. Hier bereite ich die Geschäfte vor. Der dritte Bereich ist die Entlastung der CEO und Spezialaufgaben.
CW: Zählt das Health Lab auch zu den Spezialaufgaben?
Chiesa Tanner: Nein, das CSS Health Lab gehört nicht dazu. Das Lab ist eine Institution, in der wir mit Forschern kooperieren. Die Idee hinter der Zusammenarbeit: Wir wollen im Bereich der digitalen Therapie eine Vorreiterrolle einnehmen. Es existieren schon sehr viele Angebote im digitalen Gesundheitsmarkt, jedoch fehlt bei fast allen die Evidenz, die nachgewiesene Wirksamkeit in der Behandlung. Zum Beispiel haben wir Apps für Asthmapatienten geprüft: Die meisten beinhalten lediglich Informationen aus Quellen wie Wikipedia. Oder es sind werbliche Angebote von Pharmafirmen. Mit dem Health Lab haben wir den Anspruch, in eine andere Dimension vorzustossen. Insbesondere bei den chronischen Krankheiten wollen wir innovative digitale Angebote entwickeln und dann deren Wirksamkeit erforschen und belegen. Wir versprechen uns davon einen Effizienzgewinn und Kosteneinsparungen in der Behandlung und Betreuung von chronisch Kranken.
Gabriella Chiesa Tanner, hier im Gespräch mit CW-Redaktor Mark Schröder, arbeitet seit fast 20 Jahren bei der CSS
Quelle: Samuel Trümpy / NMGZ
CW: Wird man Kunde der CSS sein müssen, um die App verwenden zu können?
Chiesa Tanner: Das ist eine gute Frage. Wir überlegen tatsächlich in verschiedene Richtungen. Für die Nutzung einer unserer neuen Apps muss man kein Kunde der CSS sein. Gemeinsam mit der Lungenliga haben wir bestehende Asthmaschulungsunterlagen für Kinder digitalisiert. Die Trainings sind jetzt als Comic umgesetzt und werden in Zukunft noch mit einem Chatbot ergänzt. Da es sich hier um ein Kooperationsprojekt handelt, wollen wir nicht auf Exklusivität bestehen. Andere Entwicklungen des Health Labs sind allenfalls patentierfähig. Hier stellen wir durchaus Überlegungen zum Geschäftsmodell an. So könnten Personen, die nicht bei uns versichert sind, für die App bezahlen, während CSS-Kunden die App gratis nutzen könnten.
CW: Was bedeutet für Sie die Digitalisierung?
Chiesa Tanner: Ich verstehe die Digitalisierung als wich­tiges Hilfsmittel, um den Alltag und Geschäfte einfacher zu bewältigen. Wenn ich früher eine Reise nach Genf unternehmen wollte, habe ich einen Blick in das SBB-Kursbuch geworfen, um die ideale Verbindung zu finden. Das war langsam und umständlich. Heute frage ich eine App, die mir jederzeit schnell und intelligent Auskunft gibt.

Digitalisierung bei der CSS

CW: Was bedeutet Digitalisierung für das Geschäft der CSS Versicherung?
Chiesa Tanner: In der CSS unterscheiden wir mehrere Bereiche der Digitalisierung. Einerseits sind wir bei den Abrechnungen schon seit Jahren digital unterwegs. Ohne die Digitalisierung könnten wir unser Geschäft nicht so schnell und perfekt abwickeln. Dabei bilden unsere Server und IT-Struktur quasi das Rückgrat unseres Unternehmens. Wir sprechen in diesem Zusammenhang allerdings eher von der Automatisierung des Tages­geschäfts, denn von Digitalisierung. Mit den neueren Entwicklungen zum Beispiel im Bereich von Analytics oder dem Machine Learning können wir in Zukunft sicher noch einen Schritt weitergehen. Den eigentlichen Kern der Digitalisierung verorten wir bei der Kundenbeziehung. Wir haben hier schon viel investiert. Wir müssen uns jedoch noch stärker an den Bedürfnissen unserer Kunden orientieren. Die Digitalisierung bedeutet allerdings nicht, dass wir uns ausschliesslich auf die elektronischen Kanäle beschränken, sondern dass wir neben dem persönlichen Gespräch und dem Telefon auch zusätzliche Kontaktarten anbieten. Der Kunde entscheidet, wie er mit der CSS kommunizieren will. Diesen Erwartungen müssen wir gerecht werden, um den Versicherten schnell und umfassend zu betreuen.
CW: Wollen die Kunden tatsächlich über alle möglichen Kanäle mit einer Krankenversicherung kommunizieren?
Chiesa Tanner: Die neuen Kanäle werden von den Kunden sehr gut angenommen. So wird die Kommunikation über das elektronische Kundenportal oder über die CSS-App immer beliebter. Das klassische Gespräch am Telefon wird seine Bedeutung aber nicht verlieren, genau wie der physische Kontakt – der noch immer einen Mehrwert bietet. Ein Ziel der Kanalvielfalt ist allerdings auch, einen Effizienz-gewinn zu erzielen – auf beiden Seiten. Für eine kurze Anfrage nach einer Rechnungsgutschrift genügt eine E-Mail oder in Zukunft ein Chatbot. Dagegen eignet sich bei der Versicherungsberatung für ein Neugeborenes sicherlich auch weiterhin das persönliche Gespräch am besten. Hier sehe ich eine Parallele zum Gesundheitswesen: Einfache Abläufe – wie die Kontrolle bestimmter Werte bei chronisch Kranken – können digital unterstützt werden. So hat der Arzt auch mehr Zeit für die komplizierten Fälle, bei denen eine persönliche Konsultation notwendig ist.
CW: Der Schutz der Gesundheitsdaten steht an erster Stelle. Das bremst manche Digitalisierung aus. Sind die Patienten wirklich so heikel mit ihren Daten?
Chiesa Tanner: Wir müssen als Krankenversicherer sehr achtsam mit Daten umgehen, das ist unser Kerngeschäft. Unser Ziel ist, eine Vertrauensbasis mit unseren Kunden aufzubauen. Nur wenn diese Basis stimmt, werden die Patienten auch bereit sein, zusätzliche Gesundheitsdaten mit ihrem Versicherungsunternehmen zu teilen. Grundsätzlich bin ich davon überzeugt, dass die Zurückhaltung bei den Patientendaten eher von den Leistungs­erbringern gelebt wird als von den Patienten selbst. Meiner Erfahrung nach sind unsere Kunden durchaus bereit, ihrer Versicherung einen Einblick zu gewähren. Wichtig ist: Wir als Versicherer müssen klar ausweisen, welche Daten wir zu welchem Zweck verarbeiten und was der Kunde im Gegenzug dafür erhält. Dabei geniesst der Datenschutz immer die höchste Priorität.
CW: Wie ich in Gesundheitsforen sehe, veröffentlichen Patienten durchaus ihre persönlichen Daten, wenn sie eine Chance auf Heilung oder Linderung sehen.
Chiesa Tanner: Das stimmt. Für die eigene Gesundheit scheint oftmals kein Weg zu weit zu sein. Wir als Versicherer empfehlen allerdings bei komplexen Krankheitsbildern nicht den Gang ins Internet, sondern eine persönliche Patientenbegleitung. Voraussetzung ist hier das Offenlegen der Daten per Unterschrift, sodass wir den Patienten auch im Arztgespräch und während der Behandlung begleiten können. In diesen Fällen sind die Betroffenen froh, wenn sie zusätzliche Unterstützung erhalten. Wir klären mit dem Patienten, wer auf welche Daten Zugriff erhalten soll.

Apple und Co. als künftige Wettbewerber?

CW: Hat die CSS neben der Patientenbegleitung noch weitere, allenfalls digitale Zusatzangebote?
Chiesa Tanner: Mit «myStep» honorieren wir die Bewegung im Alltag. Ein Fitnesstracker zeichnet die Anzahl zurück­gelegter Schritte auf und wir vergüten anschliessend eine Entschädigung. myStep haben wir vor rund eineinhalb Jahren lanciert und waren damals die erste Krankenversicherung, die ihren Kunden ein solches Angebot unterbreitet hat. Zusatzversicherungsprodukte, die auf gesundem Verhalten basieren, sind vielversprechend. Die Herausfor­derung besteht jedoch darin, dass die Kausalitäten in der Gesundheit nicht immer so eindeutig sind.
CW: Sagt die studierte Pharmazeutin …
Chiesa Tanner: [lacht] Natürlich gibt es einige Schlüsselfaktoren für einen gesunden Lebenswandel. Nicht rauchen, kein Übergewicht und viel Bewegung sind entscheidende Kriterien. Daraus ein sinnvolles Produkt zu lancieren, ist allerdings nicht ganz einfach.
“CSS ist sich bewusst, dass es bei den Privatversicherungen künftig eine neue Dimension von Wettbewerb geben kann.„
Gabriella Chiesa Tanner
CW: Womöglich sieht ein Konzern wie Apple eine Option, die Gesundheitsdaten der Apple Watch mit einem Versicherungsprodukt zu kombinieren …
Chiesa Tanner: Vielleicht nicht Apple im Alleingang, sondern in Kooperation mit einem etablierten Anbieter von Versicherungen. Denn die Regulierung in der Schweiz erschwert den Markteintritt eines neuen Players. Die CSS ist sich durchaus bewusst, dass es besonders im Privatver­sicherungsbereich in Zukunft eine neue Dimension von Wettbewerb geben kann. Wir werden uns deshalb weiterentwickeln, um weiterhin konkurrenzfähig zu bleiben.
CW: Kooperieren Sie allenfalls schon mit Start-ups?
Chiesa Tanner: Das Health Lab hat uns viele Türen geöffnet. Mit diesem Engagement haben wir signalisiert, dass wir offen sind für innovative Ansätze. Nun kommen teilweise wöchentlich die Start-ups auf uns zu. Da sind viele gute Ideen dabei, oftmals sind wir jedoch nicht der richtige Ansprechpartner. Beispielsweise ist ein Gründer mit einer tollen Idee für die Rehabilitation von Schlaganfall­patienten bei uns an der falschen Adresse. Dies ist eher ein Thema für die Leistungserbringer.
Zur Firma
CSS Versicherungen
hat ihre Wurzeln in einer 1899 von 60 Frauen und Männern in St. Gallen gegründeten Selbsthilfeorganisation. Daher stammt auch der Name: christlich soziale Schweiz. Heute ist das Unternehmen als Ver­ein organisiert und hat den Hauptsitz nach Luzern gezügelt. Mit den Tochtergesellschaften Arcosana, Auxilia und Intras zählt CSS heute rund 1,66 Millionen Kunden, beschäftigt 2740 Mitarbeiter und verfügt über 116 Agenturen.



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