03.03.2009, 10:06 Uhr

Was läuft in Winterthur? ERP in der Stadtverwaltung

In einem Pilotprojekt testet die Stadt Winterthur ein Informationssystem, das tagesgenaue Auswertungen aller Belange der Stadt möglich machen soll. Für die Controller in der Stadtverwaltung wird damit vieles leichter, so der Plan.
Die Anlagebuchhaltung, ebenfalls ein Modul der ERP-Software
Davide Salvodelli ist Mitglied der Geschäftsführung der Wilken AG
Controller haben einen schlechten Ruf, sie gelten als Zahlenfanatiker, die über jeden Rappen Rechenschaft verlangen. Zu Unrecht. Denn «Controlling» leitet sich vom Englischen «to control» ab - und das bedeutet nicht kontrollieren, sondern steuern. In die richtige Richtung steuern kann aber nur, wer jederzeit über alle aktuellen Entwicklungen und Zahlen im Unternehmen Bescheid weiss.
Winterthur, mit rund 100000 Einwohnerinnen und Einwohnern die sechstgrösste Stadt der Schweiz, ist ein «Unternehmen» mit vielen Kunden und einem etwas anderen Produkteangebot. Die Kennzahlen lauten hier nicht «Wie viele Stückzahlen haben wir verkauft?», sondern etwa «Wie viele Wasserfreunde haben das Hallenbad in diesem Monat besucht?» Das Prinzip aber bleibt das gleiche wie in jedem Unternehmen.
Um Fragen wie diese beantworten zu können, müssen die Mitarbeiter der Stadtverwaltung die Daten bislang mühsam per Excel-Tabelle zusammensuchen. Im Herbst 2008 hat die Stadt Winterthur deshalb im Departement Soziales, Bereich Alter und Pflege, das Informationssystem (IS) als Modul der Wilken-ERP-Suite installiert. In einem Pilotprojekt soll aufgezeigt werden, dass damit Abfragen und Berichte viel schneller abgerufen werden können. Während heute mehrere Tage notwendig sind, um die Daten zusammenzustellen, soll der Quartalsbericht in Zukunft auf Knopfdruck erzeugt werden. Das Informationssystem verbindet die Betriebsdaten automatisch mit den entsprechenden Kostenstellen.
Verteilte Anwendungen als Problem
Management-Informationssysteme gibt es zwar jede Menge auf dem Markt. Das Problem ist aber immer dasselbe: In den Unternehmen existieren meist viele verteilte Anwendungen, die Daten müssen daher umständlich zusammengesucht und aufbereitet werden. Das IS fasst jedoch die Kennzahlen aus allen Wilken-Anwendungen und aus vielen weiteren Drittsystemen zusammen.
Das Departement Soziales arbeitet dabei mit den Alterszentren zusammen. Dabei geht es zum Beispiel um die Bettenbelegung, also um die Frage, wie lange es dauert, bis ein Bett wiederbelegt ist. Auch die Spitex-Dienste sind in das Pilotprojekt integriert. Noch läuft das System im Testbetrieb, Ende des ersten Quartals 2009 soll es dann in den Produktivbetrieb gehen.
Bei derartigen Aufgabestellungen, die aus Daten unterschiedlichster Quellen gespeist werden, ist es von zentraler Bedeutung, dass das Informationssystem auf unterschiedliche Betriebssysteme und Datenbanken zugreifen kann. Dies stellt ein sogenannter ETL-Baukasten sicher (ETL steht für Extract, Transfer, Loading): Die Daten werden per Flatfiles importiert oder auf Datenbankebene ohne Medienbruch abgegriffen. Dabei spielt es keine Rolle, auf welchem Betriebssystem oder auf welcher Datenbank das Drittsystem läuft.
Gut für die Anwender: Die Daten werden über eine logische Sicht aus dem Drittsystem zur Verfügung gestellt. Diese Sicht enthält auch die fachliche Aufbereitung der Daten und wird vom Drittsystemanbieter release-fähig gehalten.
ERP-Suite für die Stadtverwaltung
Das Informationssystem (IS) ist aber nur ein Modul der ERP-Suite. Winterthur hat die Wilken-Software seit 1998 im Einsatz. Seit 2002 gilt bei der Stadt das Prinzip des dezentralen Arbeitens, im Zuge dessen wurde auch die Finanzbuchhaltung eingeführt, verbunden mit dem Umstieg von der ein- auf die zweidimensionale Buchung: In der Software entspricht einem Konto der Finanzbuchhaltung eine Kostenart in der Betriebsbuchhaltung. Kostenrechnungsrelevante Buchungen werden stets mit Kostenart und Kostenstelle gebucht. Somit ist der Kontenplan für die ganze Stadtverwaltung derselbe, in der Einzeluntergliederung sind die Ämter aber frei. Konkret bedeutet dies: Die ersten drei Stellen der 6-stelligen Kostenstelle werden zentral vergeben. Damit weiss jeder Mitarbeiter, welchem Amt eine Kostenstelle zugeordnet ist.
Beispielsweise gehören alle Kostenstellen, die mit 153xxx beginnen, zum Stadttheater von Winterthur. Erst dieser einheitliche Kontenplan macht dezentrales Buchen überhaupt erst möglich. Die Verantwortung für alle Ein- und Ausgangsrechnungen liegt bei den Departementen (Kulturelles und Dienste; Sicherheit und Umwelt; Schule und Sport; Bau; Finanzen; Soziales und Technische Betriebe) und der Stadtkanzlei. Nur die Stammdaten wie Geschäftspartner und Bankverbindungen werden zentral vom Finanzamt angelegt. In seinem Bereich führt jedes Amt unabhängig von den anderen eine automatisierte Kosten- und Leistungsrechnung. So schafft die Finanzbuchhaltung Transparenz und verdeutlicht die effektiven Kosten eines Amts. Auch Leistungsverrechnungen zwischen den Ämtern sind möglich.
2008 wurde zur besseren Kostenrechnung zusätzlich die Anlagenbuchhaltung eingeführt. Alle Anlagenwerte wie Verwaltungsgebäude, Schulen, Sportanlagen, Pflegeheime und Feuerwehrgebäude werden seitdem einzeln aufgeführt. Wie sind sie finanziert? Auf welche Zeit ist die Abschreibung angelegt? Solche Fragen lassen sich jetzt mit einem Mausklick beantworten. Dabei unterscheidet die Anlagenbuchhaltung zwischen der linearen betriebswirtschaftlichen und der finanzrechtlichen Abschreibung. Beide Abschreibungsformen sind mit der Finanzbuchhaltung und dem Informationssystem verbunden.
Fazit: flexible Entscheidungsräume
Die ERP-Software hat die Stadtverwaltung flexibel gemacht. Dank vollautomatischer Auswertungen auf Mausklick sind Entscheidungen schneller möglich. Die politischen Entscheidungsträger erhalten dabei nur die für sie wichtigen, verdichteten Daten. Obwohl finanzielle Direktiven zu vollziehen sind, können an anderer Stelle finanzielle Spielräume erkannt und genutzt werden. Die «wirkungsorientierte Verwaltung» ist in Winterthur Wirklichkeit.
ERP-Stufenplan1. Start mit Kick-off-Meeting

- Verbindlich messbare Ziele
- Eindeutige Ansprechpartner
- Definierte Kompetenzen
- Regeln und Aufgaben
2. Planung
- Meilensteine und Teilziele
- Definierte Aufgabenteilung
3. Durchführung
- Planabweichungen erkennen
- Einvernehmliche Lösungen im Lenkungsausschuss
4. Abschluss
- Abnahme im Testsystem
- Produktstart
- Review und Erfahrungsweitergabe
Davide Salvodelli



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