10.04.2015, 09:39 Uhr

Startschuss für Schweizer eHealth

Das Gesetz zum elektronischen Patientendossier steht vor der Tür. Dadurch erhalten die laufenden kantonalen Pilotprojekte einen gesetzlichen Rahmen, und das Gesundheitswesen wird deutlich mehr in IT investieren. Eine flächen­deckende Digitalisierung wird es aber nicht so bald geben.
Bislang war das Gesundheits- und So­zialwesen eine der Branchen mit den geringsten Investitionen in Informatik überhaupt. Für Computer und Software nahmen Schweizer Ärzte, Apotheker, Spitäler und Pflegeeinrichtungen im Schnitt jährlich rund 600 Millionen Franken in die Hand. Die Marktforscher von IDC kalkulieren auch künftig nicht mit bedeutenden Mehrausgaben. Im nächsten Jahr sollen ca. 650 Millionen Franken in IT-Infrastruktur investiert werden, sagt IDC. Zum Vergleich: Das Bundesamt für Gesundheit beziffert die Gesamtkosten des Schweizer Gesundheitssystems mit 62,5 Mil­liarden Franken. Diese immense Summe soll das Bundes­gesetz über das elektronische Patientendossier zu drücken helfen. Das Ziel ist, eine landesweite gesetzliche Grundlage für die digitale Speicherung von Gesundheitsdaten und deren Austausch zwischen den Leistungserbringern wie Ärzten, Labors und Spitälern zu schaffen. «Das Bundesgesetz definiert einen klaren Rahmen, sodass die Beteiligten Investitionssicherheit haben», sagt Michael Schröder, Head of Business Consulting Zürich bei Elca. Der IT-Dienstleister war am eHealth-Pilotprojekt der Post im Kanton Genf massgeblich beteiligt. Dort wissen die Bürger schon seit einigen Jahren, wie die Tech­no­logie für das Patientendossier aussehen und auch funktionieren kann.

Kantonal schon getestet

Die Einwohner von Genf besitzen eine elektronische Patientenkarte, die sie beim Praxis­besuch vorlegen. Mithilfe der Karte erhält der behandelnde Arzt Zugriff auf das elektronische Patientendossier MonDossierMedical. Auf dem Portal ist die Krankengeschichte des Pa­tienten gespeichert, etwa Diagnosen, Labor­befunde, Röntgenbilder oder verschriebene Medikamente. Dank der vom Patienten freigegebenen Informationen weiss etwa der Hausarzt, welche Behandlung der Spezialist geleistet hat oder welche Therapie nach dem Spitalaufenthalt avisiert ist. Zusätzlich hat auch der Patient die Möglichkeit, selbst die Befunde zu studieren – bequem vom heimischen Computer aus. Projekte wie MonDossierMedical laufen auch in anderen Kantonen, mit dabei sind u.a.  Aargau, Basel-Stadt, Freiburg, Luzern, St. Gallen, Tessin, Waadtland, Wallis und Zürich. Das Fernziel ist es, dass alle Kantone ein elektro­nisches Patientendossier unterstützen. Dafür müssen jedoch einerseits die gesetzlichen Grundlagen geschaffen und andererseits die medizinischen Einrichtungen aufgerüstet werden. Nachdem das Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier steht, sind die Kantone aufgefordert, ihrerseits Gesetze zu verabschieden. Danach haben nach aktuellem Stand die Spitäler fünf Jahre Zeit, um eine funktionierende Infrastruktur für den Datenaustausch zu implementieren. Vielerorts ist eine entsprechende technische Basis heute schon vorhanden. So kommt eine Evaluation der Berner Fachhochschule für Technik und Informatik zum Schluss, dass neben Genf (MonDossierMedical) auch die Projekte in St. Gallen (Ponte Vecchio), im Tessin (Rete Sani­taria), Waadtland (Stratégie eHealth VD) und Wallis (Infomed) bereits so weit fortgeschritten sind, dass das elektronische Patientendossier jederzeit in Betrieb gehen könnte. Die vier Modellversuche schliessen an verschiedenen Orten mehrere Akteure des Gesundheitswesens ein und die Infrastruktur erfüllt die Standards der «eHealth Strategie Schweiz». Nun wartet alles auf den Gesetz­geber, um auch den interkantonalen Datenaustausch zu ermöglichen. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Freiwillig oder obligatorisch?

Freiwillig oder obligatorisch?

Ebenfalls noch in der politischen Diskussion ist, ob das elektronische Patientendossier für Ärzte und andere Leistungserbringer obligatorisch werden soll. Bis anhin steht lediglich fest, dass Spitäler solche Dossiers führen müssen. Die Gesundheitskommission des Nationalrates (SGK) will alle Leistungserbringer zu diesem Service verpflichten. In der Vernehmlassung zum Bundesgesetz schlug die SGK zuletzt vor, den Spitälern eine Übergangsfrist von drei Jahren zuzugestehen, den Ärzten, Apothekern, Laboratorien und Pflegeheimen zehn Jahre. Mit diesem Vorstoss steht die Kommission bis jetzt allerdings allein da: Der Bundesrat hatte einem Obligatorium nur für Spitäler und mit einer Implementierungsfrist von fünf Jahren zugestimmt. Allerdings: Damit das Dossier funktioniert, müssen neben den Spitälern auch die übrigen Leistungserbringer mitmachen, sonst wird der Austausch praktisch unmöglich. Investitionen in die Informatik kommen somit auf alle Beteiligten im Gesundheitswesen zu. Für die Bürger soll das elektronische Patientendossier in jedem Fall freiwillig sein: Sie können entscheiden, ob ihre Gesundheitsdaten digital gesammelt werden sollen oder nicht. An dieser «doppelten Freiwilligkeit» (Leistungserbringer und Patienten) wird auch die SGK nicht rütteln. Trotzdem sind Diskussionen da­rüber nützlich, denn die rasche Verbreitung des Dossiers gelingt nur dann, wenn wirklich alle Parteien an einem Strang ziehen.

Finanziell gesehen ein Gewinn

Trotz zusätzlicher IT-Investitionen steht ausser Zweifel, dass das Gesundheitswesen unter dem Strich vom elektronischen Patientendossier profitiert. Welchen finanziellen Vorteil sich für die Volkswirtschaft ergibt, hat das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) berechnet. Die Experten haben zwei Szenarien kalkuliert: Im einen werden nur die Spitäler zur Teilnahme verpflichtet, im anderen sowohl Spitäler als auch Arztpraxen (vgl. Grafik). Fürs erste Szenario wurden Investitions- und Wartungskosten sowie Administrations- und Prozessänderungskosten im Zeitraum von 2011 bis 2031 in Höhe von ca. 4,1 Milliarden Franken angenommen. Diesem Betrag stellt das EDI einen Nutzen von etwa 7,7 Milliarden Franken gegenüber. So ergibt sich ein volkswirtschaft­licher Nutzen bis 2031 von insgesamt 3,5 Mil­liarden Franken oder durchschnittlich rund 176 Millionen Franken pro Jahr. Dies entspricht ungefähr 0,3 Prozent der 63 Milliarden Franken, die im Jahre 2011 insgesamt für das Gesundheitswesen ausgegeben wurden. Im Alternativszenario wurde zusätzlich eine Anschubfinanzierung einbezogen – und ein Obligatorium für Arztpraxen, sich einer Gemeinschaft anzuschliessen. Da der Staat die Investitionskosten für Praxissysteme übernähme, müsste er mit wesentlich höheren Kosten rechnen (ins­gesamt ca. 290 Millionen Franken). In der Summe entstünden Kosten in Höhe von 4,3 Milliarden Franken. Diesem Betrag steht laut Berechnungen ein Vorteil durch Einsparungen im Gesundheitssystem sowie der finanziellen Entlastung der Arztpraxen von etwa 8,4 Milliarden Franken gegenüber. Das EDI prognostiziert somit für das Alternativszenario einen volkswirtschaftlichen Nettonutzen von etwa 4,1 Milliarden Franken, also rund 600 Millionen Franken mehr als im ersten, heute geplanten Szenario. Zusätzlich würde die IT-Wirtschaft profitieren, wenn sie nicht nur Spitäler, sondern auch Arztpraxen mit Informatik ausstatten könnte. Branchenverbände sind also gut beraten, sich an der Diskussion um das Patientendossier aktiv zu beteiligen.

Sicherheit hat höchste Priorität

Keine Diskussion gibt es in der Gesetzgebung über die Sicherheit des elektronischen Patientendossiers. «Die Datenschutzanforderungen für das elektronische Dossier sind viel höher als für Papierdossiers» sagt Elca-Manager Schröder, und schliesst an: «Die strengeren Vorschriften sind allerdings auch notwendig, denn das Missbrauchspotenzial ist bei der digitalen Akte viel grösser.» Alle Beteiligten sind sich einig, dass Sicherheit die höchste Priorität haben muss, damit die Anwendung für Bevölkerung und Leistungserbringer überhaupt infrage kommt. Das Bundesgesetz sieht ein Patientendossier mit dezentraler Datenhaltung vor. Im Dossier selbst werden keine Originaldokumente gespeichert. Es ermöglicht lediglich über einen sicheren Mechanismus den Zugriff auf die jeweiligen Ablageorte der Daten. Sie werden in sogenannten Gemeinschaften gehalten – entweder unter kantonaler Führung oder in Spitälern respektive in Spitalverbänden. Die Speicher genügen schon heute höchsten Sicherheitsstandards. Dennoch herrscht Un­behagen bei den Beteiligten: Zwar befürworten in Umfragen («Gesundheitmonitor») 78 Prozent eine Speicherung ihrer Daten. Bei der Frage, ob der Datenschutz im elektronischen Patientendossier gewährleistet ist, vertrauen laut der Studie «Öffentliche Meinung eHealth» 70 Prozent den Sicherheitsmechanismen. Im «Gesund­heitmonitor» fehlt hingegen der Mehrheit von 59 Prozent das Vertrauen. Die Autoren beider Studien weisen darauf hin, dass zur Förderung der Akzeptanz des elektronischen Patientendossiers noch Aufklärungs­arbeit zu leisten ist. Die Sicherheit von Speichertechnologie ist seit dem Start der Planung des elektronischen Pa­tientendossiers immer besser geworden. Leistungsfähige Chips ent- und verschlüsseln heute riesige Datenmengen in Echtzeit. Die neusten Sicherheitstechnologien kommen bei den Pa­tientendossiers von Post (Vivates) und Swisscom (Evita) zum Einsatz. Vivates erlaubt etwa den Versand medizinischer Dokumente an einen oder mehrere Empfänger. Die Kommunikation erfolgt medienbruchfrei, nachweisbar und sicher. So lassen sich strukturierte Patienten­daten automatisiert und verschlüsselt beispielsweise von einem Hausarzt in eine Praxis-Software eines Spezialisten transferieren. Für Evita betont Swisscom insbesondere das Zugriffsmanagement: So können Patienten be­liebigen Dritten (Familie, Rechtsbeistand, Vertrauensperson) Zugriff auf das Dossier erteilen. Dabei behält der registrierte Nutzer die Kont­rolle über die erteilten Berechtigungen: Einmal erteilte Zugriffsrechte können wieder entzogen oder neu ausgestellt werden. Eine Personenliste soll beim Verwalten der Berechtigungen helfen – wie in der Benutzerverwaltung von Windows. Lesen Sie auf der nächsten Seite: Lokale Player in Pole Position

Lokale Player in Pole Position

Es sind weniger Global Player wie IBM, Microsoft oder SAP, sondern vielmehr lokale Konzerne wie die Post oder Swisscom, die bei der Realisierung und Implementierung des elektronischen Pa­tientendossiers die Führungsrolle spielen. «Die lokalen Player waren an der Konzeption des künftigen Patientendossiers beteiligt», nennt Michael Schröder von Elca einen der Gründe. Ein anderer ist die jahrelange Erfahrung der Player in den Modellprojekten und mit den Besonderheiten des Schweizer Gesundheitsmarkts allgemein. Die Post hat das erste Projekt überhaupt lanciert: Das Genfer e-toile geht zurück auf das Jahr 2001. Es wurde als MonDossierMedical Mitte 2013 kantonsweit und für alle Patienten kostenlos eingeführt. Die Teilnehmerzahl gibt die Post mit 2000 Nutzern an. Die Technik von e-toile hat die Post mittlerweile unter dem Namen Vivates kommerzia­lisiert. Dies ist die Grundlage für das «Rete Sanitaria»-Dossier im Kanton Tessin: Seit Januar 2014 dient es als Patientendossier für Onkologiepatienten, zukünftig soll es auch für andere medizinische Bereiche geöffnet werden. Im Kanton Waadt dient Vivates einerseits der sicheren Übertragung von Patientendaten zwischen den Leistungserbringern und andererseits der Medi­kationsplanung. Dafür hat die Post zwei Module entwickelt: Berichtstransfer und Medikationsplan. Via Berichtstransfer werden die Austrittsberichte vom Universitätsspital zu den Regionalspitälern oder vom Spital zur Spitex respektive den Ärzten ohne Medienbruch transferiert. Der Medikationsplan erlaubt ein Tracking der Medikation für Patienten mit komplexen Medikationen. Dabei hat der Hausarzt den Überblick auch über Arzneien, die von anderen Ärzten verschrieben wurden. Den Dienst Evita hat Swisscom ursprünglich 2009 als rein kommerzielles Produkt lanciert. Heute basieren Projekte unter anderem in den Kantonen Bern, Luzern, Wallis und Zürich auf der Lösung. Konzeptioniert ist Evita allerdings als schweizweites Dossier, wobei die Patientendaten verschlüsselt auf Servern des Telekommunikationskonzerns abgelegt sind. Stefano Santinelli, Leiter von Swisscom Health, sagt: «Patienten schätzen es, mit dem Arzt elektronisch zu kommunizieren. Beim Zürcher Gesundheitsnetz ist dies möglich, da mit dem Swisscom Gesundheitsdossier ein sicherer Kommunikationskanal zum Patienten besteht.» Zudem können die Daten via Smartphone-App mit zusätzlichen Informationen wie einer Patientenverfügung oder Vitaldaten wie Gewicht oder Blutdruck ergänzt werden. Per Kamera lassen sich ausserdem Dokumente elektronisch erfassen und im Dossier ablegen.

Umgang mit Apps von Dritten

Jenseits der «offiziellen» Gesundheits-Apps MonDossierMedical und Evita verwenden Pa­tienten auf ihrem Smartphone diverse Programme aus dem Gesundheits- und Fitness-Bereich. Runtastic, MiCoach, Workout Trainer, Yoga2go, MyFitnessPal, FatSecret und Fitbit sind die populärsten. Eine Herausforderung für die Zukunft des Schweizer Patientendossiers wird es sein, das doppelte Erfassen von Diät-, Ernährungs- und Trainingsplänen zu vermeiden. Via Schnittstellen zu den gängigsten Apps sollten sich die bereits abgelegten Daten transferieren lassen. Damit würde die Akzeptanz des elektronischen Dossiers erhöht und die schnelle Verbreitung wahrscheinlicher. Ausserdem könnten sich Ärzte und andere Leistungserbringer durch die zentrale Datenhaltung in der «offiziellen» App besser über den Gesundheitszustand orientieren und allfällige Einflüsse von privaten Trainings auf den Therapieverlauf besser abschätzen.

Apps als Vorbild

Die Gesundheits-Apps sollten auch eine Vorbildfunktion haben für das Design des künf­tigen Patientendossiers. Überladene Oberflächen und verschachtelte Menüs sind in Zeiten reduzierter Smartphone-Apps nicht mehr zeitgemäss. Das gilt auch, wenn etwa die Rechteverwaltung einige Dutzend Optionen bieten muss. Amazon, Facebook oder Microsoft Office zeigen, dass sich auf dem Smartphone auch komplexe Anwendungen aufs Notwendigste reduzieren lassen. Mit einer attraktiven App gewinnt eHealth durch Neugierde und dem Spass am Ausprobieren ganz von allein neue Anhänger.


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