Nutzenorientierte Digitalisierung 23.11.2022, 06:05 Uhr

Mit Fokus auf den Nutzen zum Erfolg

Effizienz und Innovationskraft eines Unternehmens hängen nicht zuletzt von seinen digitalen Fähigkeiten ab. Wichtig ist daher, für deren systematische Weiterentwicklung die richtigen Schwerpunkte zu setzen.
Bild 1: Vom konventionellen Auftragsdurchlauf zur integrierten Arbeitsweise
(Quelle: Robert Montau)
Digitalisierung und Industrie 4.0 sind allgegenwärtig, seit disruptive Trends und Innovationen das Geschäftsumfeld dramatisch verändern und bewährte Geschäftsmodelle von namhaften, langjährig erfolgreichen Unternehmen gefährden. Hieraus folgt als zentrale Frage: Welche Digitalisierungsinitiativen sind für die Erreichung der Unternehmensziele am sinnvollsten? Dafür muss die digitale Maturität der IT-gestützten Prozesse analysiert und deren Relevanz für die Unternehmensstrategie bewertet werden. Mit einer nutzenorientierten Vorgehensmethodik lassen sich die digitalen Fähigkeiten systematisch weiterentwickeln, um den Unternehmenserfolg entsprechend der strategischen Ausrichtung bestmöglich zu steigern.
Seit Einzug der Industrialisierung bemühen sich Unternehmen, ihre Produkte und Produktionsfähigkeiten zu verbessern, die stetig zunehmende Komplexität zu meistern und die Produktivität weiter zu steigern. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Taylorismus mit dem Prinzip der Arbeitsteilung in kleine Einheiten und der Spezialisierung auf geringere Arbeitsinhalte, die schnell repetitiv wiederholt werden können. Dies ermöglicht eine höhere Produktivität, mit der allerdings auch unerwünschte Nebeneffekte einhergehen, in Form von Funktions-, Prozess- und Abteilungsgrenzen. Für einen Auftragsdurchlauf im Unternehmen müssen diese Grenzen entlang des Lebenszyklus, über verschiedene Ingenieursdisziplinen und gegebenenfalls übergreifend zu Lieferanten überwunden werden. Konventionell wird dies über einen dokumentbasierten Informationsfluss bewerkstelligt, der eine sequenzielle Arbeitsfolge bedingt (Bild 1 oben).

Digitalisierung hilft, Grenzen zu überwinden

Abhilfe schaffen kann die Digitalisierung, womit aber nicht nur Applikationen gemeint sind, um einen Arbeitsschritt schneller und effizienter ausführen zu können, sondern insbesondere das Prinzip der Integration über datenbankbasierte Informationssysteme. Damit können mehrere Arbeitsschritte parallel ausgeführt werden, wodurch sich die Durchlaufzeiten markant reduzieren lassen. Mit integrativen Digitalisierungsinitiativen werden somit die Grenzen überwunden, die durch Arbeitsteilung und Spezialisierung des Taylorismus entstanden sind.
Historisch bedingt haben die Funktionsbereiche im Unternehmen häufig eigene Applikationssysteme für ihre spezifischen Aufgaben, die jedoch nicht oder nur unzureichend mit anderen Systemen verknüpft sind, um übergreifende Prozesse zu unterstützen. Daraus ergeben sich zwei Integrationsrichtungen (Bild 2):
  • Horizontale Integration über mehrere Funktionsbereiche beziehungsweise Systeme, die durch Aufgliederung der Organisation entstanden sind
  • Vertikale Integration über mehrere Systemebenen der Automatisierungspyramide von der Feld-/Signal-Ebene bis zu firmenweiten ERP- und PLM-Systemen
Bild 2: Horizontale und vertikale Integration von Geschäftsprozessen
Quelle: Robert Montau
Nachdem in den 1980er-Jahren unter dem CIM-Ansatz mit grosser Euphorie die Vision einer Vollintegration propagiert worden war, musste man über die Zeit feststellen, dass dies aufgrund unterschiedlicher Anforderungen, der damit verbundenen Komplexität und Inflexibilität sowie des benötigten Aufwands nicht praktikabel ist. Heute strebt man daher grössere funktionsbereichs- und prozessübergreifende Integrationsstufen an (z. B. mit den Hauptsystemen ERP, PLM, MES und gegebenenfalls IoT), da eine kleinere Granularität mehr Schnittstellen bedeutet und eine weitere Zusammenlegung zu inflexibel und zu aufwendig wäre. Der optimale Integrationsgrad lässt sich jedoch immer nur spezifisch beurteilen.
Für die Wertschöpfung im Unternehmen ist die Effi­zienz der Prozesse massgebend, die häufig schon aus QS-Initiativen gut in Form detaillierter Prozessdefinitionen dokumentiert sind (z. B. Produkt-Entstehungs-Prozess PEP, Serviceprozess). Insbesondere für strategisch wichtige Prozesse wird eine hohe Qualität und Effizienz gefordert, weshalb diese einem Business Process Reengineering (BPR) unterworfen werden, um sie radikal zu verbessern. Beim Business Process Management (BPM) steht dagegen die kontinuierliche und inkrementelle Verbesserung mehrerer Prozesse im Vordergrund.

Prozesse und Strategien weiterentwickeln

Der Handlungsbedarf für Optimierungen ist vielschichtig. Wesentliche Treiber sind der zunehmende Wettbewerbsdruck infolge Globalisierung mit der Beherrschung der Lieferketten, grössere Technologiesprünge wie beispielsweise der Übergang von 2D- auf 3D-CAx/PLM-gestützte Entwicklungsprozesse oder die Evolution ehemals mechanischer Produkte in Elektronik- und Software-intensive Produkte mit Vernetzung zum digitalen Zwilling. Hierdurch werden neue digitale Produktfähigkeiten und Services ermöglicht, die zu digitalen Geschäftsmodellen führen und das Geschäftsumfeld nachhaltig verändern. Aufgrund solcher disruptiven Innovationen müssen die Unternehmensprozesse und -strategien fortwährend angepasst werden.
Grundlegender Bestandteil einer Unternehmensstrategie ist die Wettbewerbsstrategie zur Differenzierung im Markt (Bild 3). Strebt man das beste Produkt an, folgt daraus, dass vor allem Prozesse, Methoden und Tools in der frühen Produktentwicklungsphase bestmöglich unterstützt werden müssen, um eine Differenzierung über das Produkt zu erreichen. Falls man vergleichbare Produkte zum günstigsten Preis anbieten will, muss der Hauptfokus auf Kostenkontrolle und -optimierung gelegt werden, indem über Design-to-Cost-Methoden die verursachten Kosten permanent verfolgt und systematisch minimiert werden. Demgegenüber konzentriert sich die Nischenstrategie auf einen Teil des Markts und versucht durch systematische Analyse der Kundenbedürfnisse ein speziell zugeschnittenes Leistungsangebot zu schaffen. Besonderer Fokus sollte hier auf Methoden zur systematischen Anforderungsentwicklung gelegt werden, um ein besseres Verständnis der Kundenbedürfnisse zu erreichen. Beispielhaft erwähnt seien DB-basierte Requirements-Engineering-Lösungen, die Anforderungen als Objekte abbilden und systematisch weiterbearbeiten können, was File-basiert nicht möglich ist. Für den Kunden wird dadurch ein Mehrwert geschaffen, der ihn letztlich enger an das Unternehmen bindet (Customer Intimacy). Je nach verfolgter Strategie ergeben sich unterschiedliche Prioritäten für die Kernprozesse und digitalen Fähigkeiten.
Bild 3: Qualitative Nutzenanalyse von Prozessen (Value Discovery)
Quelle: Robert Montau
Zur Beurteilung, inwieweit die gelebten Prozesse zum Erfolg beitragen, muss stets von der aktuellen Unternehmensstrategie mit den übergeordneten Zielen ausgegangen werden. Zur Standortbestimmung empfiehlt sich eine Abstimmung im höheren Management, um einen breiten Überblick zu laufenden Initiativen mit Weitsicht über zukünftige Ausrichtungen zu erhalten und um die Bedürfnisse der Unternehmensführung berücksichtigen zu können (Schritt 1 in Bild 3).
Daraufhin kann im zweiten Schritt mit Prozessverantwortlichen die operative Ausführung der wesentlichen Unternehmensprozesse durchleuchtet werden, wobei für jeden Prozessschritt systematisch Input, verwendete Tools und Output analysiert werden. Von zentraler Bedeutung ist das Erkennen von Hindernissen, Schwachstellen und Problempunkten in den gelebten Unternehmensprozessen mit deren Auswirkungen (Pain-Chain-Analyse, SWOT usw.). Häufig kristallisieren sich Ineffizienzen bei der Übergabe zwischen Abteilungen heraus, die ausgeräumt werden müssen. Hierfür kann es hilfreich sein, die Analyse nicht wie üblich entlang des Prozessflusses im Lifecycle auszuführen, sondern in umgekehrter Richtung. Vorteilhaft hierbei ist, dass man identifizierte Probleme in einem Prozessschritt danach beim Vorgänger direkt ansprechen und klären kann, ob sich der Output so anpassen lässt.
Im dritten Folgeschritt wird abgestimmt, wie eine ideale Lösung zu den Problemen aussehen kann und welche Fähigkeiten eine Applikation benötigt, um den Prozessschritt bestmöglich auszuführen.
Im letzten Schritt wird schliesslich der Nutzen der Lösung bewertet, wobei über eine Zeitersparnis gegen den Stundenkostensatz oder durch Verbesserung von Umsatz- beziehungsweise Kosteneffekten ein monetärer Nutzwert ermittelt wird (Schritt 4 in Bild 3).

Vom Prozess zum Nutzen gelangen

Für eine solche quantitative Nutzenanalyse stehen unterschiedliche Methoden zur Verfügung:
  • rollenbasierte Top-Down-Nutzenanalyse nach dem DAPPS-Modell
  • prozessbasierte Bottom-Up-Nutzenanalyse auf Basis von Einzelprozessen mit einer Metrik für Verbesserungspotenzial.
Die rollenbasierte Top-Down-Nutzenanalyse nach dem DAPPS-Modell bietet sich an, wenn keine gesicherten Informationen über Metriken vorliegen oder deren Aufwand zu gross ist. Der Charme des DAPPS-Modells liegt in seiner Einfachheit und allgemeinen Anwendbarkeit, da sämtliche Tätigkeiten einer Rolle vier Zeitanteilen oder Kategorien zugeordnet werden (Bild 4).
Bild 4: Methoden zur quantitativen Nutzenanalyse (beispielhaft)
Quelle: Robert Montau
Die erste DAPPS-Kategorie «Discover» beschreibt den Zeitaufwand in Prozent (%) der gesamten Arbeitszeit, der zum Suchen von Informationen eingesetzt wird. Die zweite Kategorie «Acquire» beschreibt den Zeitaufwand, der nötig ist, um gefundene Informationen aufzubereiten und im benötigten Format bereitzustellen. Unter der Kategorie «Produce» werden alle wertschöpfenden Tätigkeiten für die eigentlichen Arbeitsinhalte aufgeführt. Die letzte Kategorie «Process» beinhaltet den Aufwand zum Ablegen und Verteilen der Daten.
Um eine Verbesserungsaussage zu erhalten, wird nicht nur der aktuelle Ist-Wert ermittelt (%-Is), sondern darüber hinaus überlegt, um welchen Prozentwert (Gain) sich die Kategorie mit einer besseren Lösung verbessern lässt (gemäss Schritt 3 oben), was zu einem %-New-Wert führt. Die Vorgehensweisen für die Kategorien «Discover», «Acquire» und «Process» sind jeweils analog. Für den wertschöpfenden Zeitanteil der Kategorie «Produce» errechnen sich die Prozentwerte aus: 100% – «Discover» – «Acquire» – «Process» in [%].
Aus der Differenz der Prozentwerte %-New und %-Is für «Produce» ergibt sich eine gemittelte Produktivitätsverbesserung in Prozent, die in eingesparte Mitarbeiterzeit pro Tag oder einen monetären Nutzen umgerechnet werden kann.
Bei der prozessbasierten Bottom-Up-Nutzenanalyse auf Basis von Einzelprozessen mit einer Metrik werden anstelle von Rollen oder Abteilungen einzelne Prozesse betrachtet, zum Beispiel das Suchen von Informationen (Bild 4 unten). Für diesen Prozess sind die wesentlichen Prozessparameter im Ist-Zustand bekannt (z. B. ~15% Zeitwand zum Suchen) oder werden als Unternehmenskennzahlen respektive KPI systemtechnisch über Reports ermittelt (z. B. 6500 neue Artikelstämme p.a.; 2700 Änderungsanträge p.a.).
Um eine Verbesserungsaussage für einen Teilprozess zu erhalten, wird auch hier überlegt, wie die Arbeitsschritte mit einer idealen Lösung ausgeführt werden und welche Auswirkungen sich daraus für die Prozessparameter ergeben (z. B. 20–30% Zeitersparnis beim Suchen oder 90% Wegfall durch Automatisierung).
Durch Summierung über die Prozesse ergibt sich eine monetäre Produktivitätsverbesserung, deren Aussagekraft von der Breite respektive der Anzahl der Prozesse und von der Detaillierung abhängt. Im Vergleich zur rollenbasierten Top-Down-Vorgehensweise liefert die Bottom-Up-Analyse meist etwas niedrigere Nutzenwerte, insbesondere wenn nur ein begrenzter Aufwand investiert wird und relevante Nutzenaspekte unberücksichtigt bleiben.

Reifegrad beschreibt den Stand der Digitalisierung

Aus der Prozessanalyse folgen die benötigten digitalen Fähigkeiten eines Unternehmens, und anhand der quantitativen Nutzenbetrachtung lässt sich deren monetäre Hebelwirkung beurteilen. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Standortbestimmung und der Fortschrittsüberwachung bei der Digitalisierung. Wo steht das Unternehmen aktuell, wird derzeit genug zur Digitalisierung getan, oder wo besteht der grösste Handlungsbedarf?
Für die Beurteilung des Digitalisierungsstandes von Unternehmen haben sich Reifegradmodelle mit einer ordinalen Skalierung durchgesetzt, häufig in einer Abstufung von 1 bis 5 (vgl. Bild 5). Den einzelnen Reifegraden werden allgemeine Beschreibungen zugeordnet, wie zum Beispiel «Manual» für das Minimum 1. Dies ermöglicht eine grobe Unterscheidung, aber reicht nicht aus, um eine digitale Fähigkeit sinnvoll einzuordnen. Dafür müssen für jede Reifegradstufe zusätzlich charakteristische Merkmale festgelegt werden. Bild 5 zeigt am Beispiel der digitalen Fähigkeit einer ERP-Integration die charakteristischen Merkmale mit manueller Dateneingabe in Stufe 1 bis zur regelbasierten Interoperabilität in Stufe 5. Anhand solcher detaillierten Merkmale wird eine eindeutige Klassierung ermöglicht. Im vorliegenden Beispiel würde das Unternehmen auf Reifegrad 4 eingeordnet, was sich übersichtlich in einem Spider-Diagramm darstellen lässt.
Bild 5: Digital Maturity Assessment (beispielhaft)
Quelle: Robert Montau
Als Vorarbeit müssen einmalig die charakteristischen Merkmale für die digitalen Fähigkeiten festgelegt werden, was je nach Unternehmenskomplexität und Vollständigkeit durchaus eine Zahl von über 50 ergeben kann. Der grosse Vorteil einer solchen Reifegradstudie ist, dass man die wichtigen Fokusbereiche für eine Unternehmensstrategie gut visualisieren kann und etwaige Handlungsfelder klar ersichtlich werden. Darüber hinaus lassen sich Vergleiche über Zeitabstände, unterschiedliche Standorte, Abteilungen oder Unternehmen einschliesslich des Mitbewerbs gut verfolgen und darstellen.

Fazit

Seit dem Einzug von Industrie 4.0 verändern disruptive Innovationen das Geschäftsumfeld, und aufgrund der grossen Dynamik müssen die Unternehmensprozesse und der Digitalisierungsstand kontinuierlich überprüft und weiterentwickelt werden, um die richtigen Initiativen zu priorisieren.
Mit einer nutzenorientierten Vorgehensmethodik kann die digitale Maturität systematisch weiterentwickelt werden, um das maximale Nutzenpotenzial zu erzielen, die Unternehmensziele bestmöglich zu unterstützen und den Unternehmenserfolg zu steigern.
Der Autor
Dr. Robert Montau
ist Dozent für die Studiengänge BSc Wirtschaftsingenieurwesen und MAS Industrie 4.0 sowie Fachbereichsleiter für Digital Production Management an der Fernfachhochschule Schweiz. www.ffhs.ch


Das könnte Sie auch interessieren