Hinter verwischten Frontlinien

Risikomanagement, das ungeliebte Stiefkind

Eigentlich ist das Thema Risikomanagement für niemanden neu, schon gar nicht für die Forschung. «Bereits vor 15 Jahren habe ich zu Themen wie Supply Chain Risk Disruption Resilience geforscht», sagt Wagner, aber gerade im Zuge der Covid- und der Ukraine-Krisen sei das Thema in Unternehmen wieder stärker aufgetaucht. «All diese Mechanismen haben wir eigentlich schon längst untersucht, Sourcing-Strategien wie Single Sourcing, Multiple Sourcing, Reshoring. Aber als die Weltwirtschaft einfach reibungslos lief, haben die Unternehmen das kaum aufgegriffen. Die Managementagenden hatten andere Prioritäten.»

Man kann halt keine Versicherung abschliessen, nachdem der Unfall bereits passiert ist.

«Die Smarten, die Top-Leute, die guten Manager verstehen das schon», relativiert Wagner. So wie in den letzten Jahren Nachhaltigkeit auf den Finanzmärkten wichtiger geworden ist – weniger aufgrund eines ethischen oder ökologischen Gedankens, sondern wegen einer schlichten Bewegung in der Gesellschaft und der daraus resultierenden Profitabilität grüner Initiativen –, könnte auch das Thema Risiko für Shareholder wichtiger werden.
«Wenn man heute nicht eine gewisse Nachhaltigkeits-Performance hat, investieren die grossen Pension Funds aus den USA nicht mehr in betreffende Unternehmen. Wenn die Finanzmärkte, Kunden und Regulatoren darauf schauen, passiert etwas. Bisher hat es an Risk Management gefehlt. Wenn man das richtig kommuniziert, kann das bei Investoren und Shareholdern zu einem Umdenken führen.»
“Eine neue Lieferkette aufzubauen: Das geht nicht von einem Jahr auf das nächste. Es kann zwei, drei Jahre dauern, bis solche alternativen Produktionskapazitäten für Neon aufgebaut sind.„
Stephan M. Wagner. Professor für Betriebswirtschaftslehre und Inhaber des Lehrstuhls für Logistikmanagement an der ETH Zürich
Tatsächlich sieht Wagner bereits jetzt Symptome ­eines möglichen Umdenkens: «Spricht man mit Investoren, liest man jetzt Analyst Reports und die Geschäftsberichte von Firmen, wird viel mehr über Lieferketten und Risikomanagement berichtet als noch vor ein paar Jahren. Den Finanzmärkten ist bewusst, wie wichtig das Thema ist.»

Wertschöpfungsketten entflechten

Gerade jetzt, mit Blick auf die geopolitische Situation – mit China –, stossen Prognosen an ihre Grenzen. «Es gibt keine Wahrscheinlichkeitsverteilung, die uns ausrechnen lässt, wie realistisch es nun genau ist, dass China Taiwan angreifen wird und Europa und die USA nicht mehr mit Chips beliefert.» Ob 30 Prozent, 90 Prozent: Solche Wahrscheinlichkeiten – selbstverständlich beide schlimm – spielen am Ende in dieser konkreten Situation keine Rolle, denn das Schadenspotenzial in so einem Fall ist zu gross.
Für viele sei dennoch klar: Das Geschäft mit China ist und bleibt eminent wichtig, eine komplette Abnabelung vom chinesischen Markt ist weder wirklich möglich noch erwünscht. Darum sei es wichtig, die Geschäftsbeziehungen so zu strukturieren, dass man bestimmte Teile abkoppeln könne. Im schlimmsten Fall würde man zwar einen gewissen Teil des Umsatzes verlieren, habe aber immerhin nicht das ganze Unternehmen gefährdet.
“Investieren – für was? Für etwas, was hoffentlich nie passiert.„
Stephan M. Wagner
«Diese verflochtenen Wertschöpfungsketten, diese Netzwerke zu entflechten, weniger komplex zu machen, transparenter zu machen, weniger Abhängigkeiten in diesen Zulieferketten zu haben, die man über Jahrzehnte aufgebaut hat», erklärt Wagner. «Das ist die Kunst von heute.» Das einfachste Tool für ein effektives Risikomanagement sei, Redundanzen aufzubauen. «Da ist zum Beispiel Apple aus meiner Sicht enorm gefährdet», sagt Wagner.
Redundanzen – eigentlich ein Konzept, das der ICT-Branche ganz und gar nicht fremd ist. Schliesslich wären beispielsweise Data Center ohne Redundanzen nicht denkbar, denn sie können allfällige Ausfälle sofort, von Endverbrauchenden unbemerkt, kompensieren.
Doch die Realität sieht in der Wirtschaft oft anders aus: «Noch vor wenigen Jahren war es fast schon verpönt, Redundanzen in Form von zweiten Sources zu haben. Supply-Chain-Optimierung bedeutet am Ende einfach Kostenoptimierung. Single Sourcing als Kostensenker in Entwicklung und Fertigung», erklärt der ETH-Professor. Das ist ein Problem: «Ins Risikomanagement zu investieren, fällt unmittelbar auf die Kostenposition zurück», sagt Wagner. Das heisst, es geht um Revenues: «Noch wollen die wenigsten Shareholder, dass man Geld für Redundanzen ausgibt», denn diese werfen kein Geld ab. «Und darum: Investieren für was?», fragt Wagner und gibt die Antwort gleich selber: «Für etwas, was hoffentlich nie passiert.»
Globale Lieferketten sind komplexe, empfindliche Gebilde. Sie resilienter zu ­machen, dauert Jahre.
Quelle: Shutterstock/Golden Sikorka
Im Umkehrschluss bedeutet das: «Die Kosten werden höher werden», sagt Wagner. Denn in Kostengesichtspunkten, in Sachen Effizienz, Verfügbarkeit und Variabilität sei niemand leistungsfähiger als die chinesischen Contract Manufacturers. «In einer einzelnen Fabrik, in der beispielsweise iPhones hergestellt werden, arbeiten in Hochzeiten bis zu 300 000 Arbeiter.» So etwas könne weder Europa noch die USA bewerkstelligen, geschweige denn die Schweiz. Ohne eine Entflechtung der Lieferketten, ohne Decoupling-Strategien, ohne effektives Risikomanagement geht in Zukunft gar nichts. «Es braucht einfach Contingency Plans», sagt Wagner.

Unwahrscheinliche Unwahrscheinlichkeiten erwarten

In «Homo Faber», einem der bekanntesten Romane des Schweizer Autors Max Frisch, sieht sich die Hauptfigur Walter Faber als Rationalist mit durch und durch technischem Weltbild: «Ich glaube nicht an Fügung und Schicksal, als Techniker bin ich gewohnt, mit den Formeln der Wahrscheinlichkeit zu rechnen», sagt er einmal. Um «das Unwahrscheinliche als Erfahrungstatsache gelten zu ­lassen», brauche er lediglich Mathematik. Mit einem – statistisch absolut unwahrscheinlichen – Flugzeugabsturz tritt schliesslich der Zufall in sein bisher durchorchestriertes Leben ein und löst eine Verkettung ebenfalls höchst unwahrscheinlicher Unglücke aus. Die Folge: Walter Fabers geordnetes Leben gerät aus den Fugen und die eingetretenen Unwahrscheinlichkeiten überfordern sein rationalistisch-technisches Weltbild. Die Frage, über die sich die Literaturwissenschaft bis heute uneins ist: Hat Walter Faber aus dem Eintritt des Unwahrscheinlichen gelernt?
Eine ähnliche Frage stellt sich nun den Entscheidungsträgern der Wirtschaft. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, nach der Weltwirtschaftskrise 2008, nach der Covid-Pandemie, nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine: Hat man gelernt, dass Risiken nicht nur blosse Zahlen sind, dass Risikomanagement nicht bloss kostet, dass selbst die unwahrscheinlichsten Unwahrscheinlichkeiten eintreten können – und es darum Notfallpläne und Redundanzen braucht, um grössere Schäden abwenden zu können?
Stephan M. Wagner: «Wenn ich jetzt mit Firmenvertretern spreche, sehe ich, dass sie Massnahmen planen und umsetzen, auch, weil sie ein Nichtstun ihren Eigentümern und Shareholdern gegenüber nicht mehr rechtfertigen können. Dieses Mal habe ich wirklich die Hoffnung, dass wir aus diesen Krisen gelernt haben, dass etwas davon hängen bleibt. Dass wir die Folgen und Zukunftsgefahren der Krisen nicht vergessen, sobald der Ukraine-Krieg vorbei ist und man nur noch auf das Wirtschaftswachstum achtet. Ich glaube, dieses Mal sind wir wirklich auf einem guten Weg.»



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