Zwischen 0 und 1 03.03.2022, 13:46 Uhr

Reden wir über Cybersouveränität!

Rational betrachtet, bietet Cybersouveränität wesentlich mehr wirtschaftliche Chancen als Cyberabhängigkeit. Dennoch kam die Diskussion rund um das Thema bislang kaum vom Fleck.
(Quelle: Reinhard Riedl)
Verglichen mit früheren Generationen sind wir heute viel abhängiger von anderen, als diese es damals waren. Wir leben zwar viel besser – und vor allem viel gesünder –, aber wir hängen in fast allem stark von anderen ab. Wenn die internationale Logistik versagt oder Staaten beschliessen, gewisse Güter nicht mehr zu exportieren, dann trifft uns das indirekt. Im ersten Fall fehlen nur Kuchenschachteln in der Confiserie, im zweiten Fall bekommen Fliesenleger keine Fliesen mehr und im dritten Fall Patienten keine lebensrettenden Medikamente.
In der IT ist die Abhängigkeit noch viel grösser: Wir hängen nicht nur davon ab, dass ausländische IT-Geräte und Software uns nicht ausspähen und unsere privaten Daten weitergeben. Wir hängen auch davon ab, dass Software-Entwickler in ihrer Freizeit unbezahlt fehlerlose Software-Bibliotheken entwickeln. Auch dann, wenn es gar keinen «bösen» Angreifer gibt. Wenn beispielsweise das Disaster-Recovery nicht funktioniert, stehen schnell alle Räder still: die digitalen und die analogen.

Diskutieren und Klarheit schaffen

Es ist deshalb an der Zeit, ernsthaft über Cybersouveränität zu diskutieren. Bislang kam die Diskussion kaum vom Fleck. Philosophen, Juristen und Ingenieure sprechen gänzlich unterschiedliche Sprachen und viele Stakeholder misstrauen einander. So halten Akteure im Gesundheitswesen die Zusammenarbeit mit den Tech-Giganten aus dem Silicon Valley für eine Idee des Teufels und Inge­nieure den Staat für eine Bedrohung. Keinesfalls dürfe er digitale Infrastruktur kontrollieren, fordern sie.
“Wenn es uns nicht gelingt, gemeinsam über das grosse Ganze zu sprechen, dann bleibt uns nur die zufriedene Abhängigkeit„
Reinhard Riedl
Etwas unerwartet haben sich viele staatliche Institu­tionen auf die Seite der Staatskritiker geschlagen – etwa beim Thema digitale Identität. Doch der Schein trügt. Man verwendet zwar die gleichen Begriffe, meint aber gänzlich Verschiedenes. Bisher hing eine vergleichbar hohe Bedeutungsambivalenz immer wie ein Mühlstein am Hals von digitalen Transformationsvorhaben. Darum sollten wir mehr Klarheit schaffen. Es ist weder möglich noch notwendig, dass wir uns auf nationaler Ebene einigen, wie weit die individuelle, die nationale und die supranationale Cybersouveränität gehen soll. Linke und Liberale werden hier schon aus Prinzip unterschiedliche Ziele anstreben. Wichtig ist aber, dass wir erstens zu einer klaren Auslegeordnung kommen, die einen politischen Diskurs ermöglicht. Und dass wir zweitens Konzepte für eine ganzheit­liche Betrachtung entwickeln und daraus im demokratischen Diskurs Massnahmen ableiten und umsetzen!
Derzeit wird nur über einzelne technische Aspekte diskutiert – ohne den Rattenschwanz an Konsequenzen auch nur zu erwähnen. Oder Lösungen werden wegen emotionaler Befindlichkeiten abgelehnt. Ich habe es kürzlich erlebt, wie die Beteiligung von Hochschulen an Lösungen für die Cybersouveränität mit der Begründung abgelehnt wurde, dass Hochschulprofessoren mit Spin-offs die «echte» Wirtschaft konkurrieren würden.
Immerhin nahm sich dieser Kritiker die Zeit, an der Diskussion teilzunehmen. Trotzdem fragte ich mich, ob Cyber­souveränität nicht ein hoffnungslos idealistisches Ziel ist. Wenn es uns nicht gelingt, gemeinsam über das grosse Ganze zu sprechen, dann bleibt uns nur die zufriedene Abhängigkeit. Allerdings habe ich die Hoffnung, dass die einheimischen IT-Unternehmer das Thema Cybersouveränität auf die politische Bühne bringen werden. Denn rational betrachtet, bietet Cybersouveränität wesentlich mehr wirtschaftliche Chancen als Cyberabhängigkeit!
Der Autor
Reinhard Riedl
beschäftigt sich mit digi­talen Ökosystemen sowie der Rolle der Menschen im digitalen Wandel von Unternehmen und Märkten. Er ist ausserdem Herausgeber des Wissenschafts-Blogs «Societybyte» der Berner Fachhochschule. www.societybyte.swiss



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