Internet Computer 06.03.2020, 10:45 Uhr

Wie Dfinity die Software-Welt revolutionieren will

Mit Blockchain-, Open-Source- und Web-Technologien arbeitet eine neue Generation von Entwicklerinnen und Entwicklern am Internet Computer. Er könnte in Zukunft die Programmierung, den Betrieb und den Unterhalt von Software revolutionieren.
(Quelle: Shutterstock/Yurchanka Siarhei; spainter)
Wenn zum Jahresbeginn das Weltwirtschafts­forum in Davos steigt, richten sich alle Blicke auf den kleinen Ort in Graubünden. Das Who’s who der Staatenlenker und Konzernchefs verkündet seine Sicht auf die Entwicklung der Zukunft. Im Schatten der Grossen, abseits des Medienrummels, präsentieren sich auch die Kleinen. Menschen mit Ideen, die – aus ihrer Sicht – ebenfalls das Potenzial besitzen, die Welt zu verändern. Wie das Team von Dfinity. Das Tech-Start-up arbeitet an nichts Geringerem als zu verändern, wie wir Software und Infrastruktur bauen und pflegen.
Nach rund einem halben Jahrzehnt Entwicklung präsentierte das Team von Dfinity Anfang dieses Jahres auf dem Weltwirtschaftsforum seinen «Internet Computer» in Aktion. Stanley Jones, Engineering Manager bei Dfinity, führte vor, wie eine Software auf dem System bereitgestellt wird. Hierfür nutzte er Dfinitys neu lancierten Web-Dienst LinkedUp, eine quelloffene Alternative zu dem zu Microsoft gehörenden Social Network LinkedIn.

Ein Paradigmenwechsel kündigt sich an

Die Anwendung hätten gerade einmal zwei Ingenieure in rund drei Wochen erstellt. Geschrieben wurde die Applikation in der von Dfinity im letzten Jahr veröffentlichten Programmiersprache Motoko. Diese entstand unter der Leitung von Andreas Rossberg, einem Miterfinder der Software-Technik WebAssembly. Jones musste jetzt letztlich noch den Code der Anwendung kurz kompilieren und fertig: Die Software lief. Die Technologieplattform von Dfinity hatte eine sogenannte Web-3.0-Software in lediglich 18 Millisekunden zum Leben erweckt.
Was der Ingenieur Jones in Davos vorführte, war ein Kunststück der besonderen Sorte aus verschiedenen Gründen. Der Prototyp einer hochverfügbaren Cloud-Anwendung meldete sich auf der Infrastruktur von Dfinity zu Diensten – ohne eine Datenbank, frei von Browser-Erweiterungen und REST-APIs, ohne Web-Server, Lastverteiler, Firewalls oder Content Delivery Network. Alles erstellt mit Dfinitys SDK Canister und unterstützt vom bekannten Code-Format WebAssembly, das Applikationen in Browsern ausführt. Jones konnte sich einen Seitenhieb auf die Komplexität gewöhnlicher Software-Bereitstellung auf einer Cloud-Plattform der «alten Schule» in seiner Präsentation nicht verkneifen. Dann fügte er aber ernsthaft hinzu: «Das ist ein Paradigmenwechsel.»
“Wer heute als Anwender auf ‚Big Tech‘ baut, der baut auf Sand„
Dominic Williams, Dfinity

Den Stack reparieren

Damit moderne Unternehmen effizient funktionieren können, sind sie auf Software-Anwendungen angewiesen. Allerdings sei der aktuelle Technologieunterbau, der Stack, «broken», erklärt Dominic Williams, der britischstämmige Gründer und Geschäftsführer von Dfinity in Zürich. Das hätten unter anderem «die zahlreichen Hacks und Sicherheitslücken, Systemausfälle sowie die hohen Kosten bei der Software-Entwicklung nachdrucksvoll bewiesen». Hinzu kommt, dass die zunehmend monopolistische Natur der Internet-Dienstleister zwar nicht so offensichtlich, deswegen aber nicht weniger bedrohlich sei. Anwenderunternehmen seien gewissermassen in der Geiselhaft ihrer Cloud-Anbieter gefangen. «Wer auf ‹Big Tech› baut, baut auf Sand», bringt es Williams auf den Punkt. Dafür arbeiten sie bei Dfinity an einer Lösung.
Management Summary
  • Nach der Welle der Kryptowährungen entwickelt eine neue Generation von Start-ups neuartige Architekturen auf Basis von Kryptotechnik. Zu ihnen zählt Dfinity.
  • Das Team um Gründer Dominic Williams entwickelt eine dezentrale webbasierte Compute-Plattform, den Internet Computer. Auf ihm sollen neuartige Applikatio­nen betrieben werden, die unter anderem sicherer als heutige Software sind.
  • Basis bilden Kryptotechnologien und das selbst entwickelte Internet Computer Protocol (ICP), ähnlich dem TCP/IP-Protokoll. Das ICP soll kompatibel mit heu­tigen Web-Protokollen und Standards sein. Damit der Internet Computer läuft, benötigt er zudem eine Grundmenge an Rechenzentren, die als Nodes dienen.
  • Fachleute zeigen sich von Dfinitys Ansatz begeistert, sehen aber grosse Hürden.
  • Anwenderunternehmen verspricht das Start-up weniger Abhängigkeiten von grossen Tech-Anbietern. Dfinity spricht von Legacy-IT im Wert von 3,8 Billionen US-Dollar, die man ablösen will. Sollten die Konzepte von Firmen wie Dfinity oder Polkadot etc. praxistauglich werden und Anklang am Markt finden, dürfte der IT-Welt ein Paradigmenwechsel noch ungeahnten Ausmasses bevorstehen.

Protokoll für neue Generation von Software

Die Technik von Dfinity verschmilzt die Compute-Kapa­zitäten unabhängiger Rechenzentren zu einer globalen Anwendungsplattform. Das Zürcher Start-up taufte sie auf den Namen «The Internet Computer». Dahinter steht ein neuartiges Internet-Protokoll, welches das aktuelle TCP/IP ergänzt. Dfinity schickt sich quasi an, das Internet in eine globale Cloud-Plattform zu verwandeln. Das soll Anwenderunternehmen verschiedene Vorteile bieten. Ein Versprechen ist etwa die geringere Abhängigkeit von den grossen Cloud-Anbietern, da auch diese sich an den neuen Standard halten und somit nach Regeln agieren müssten, nach denen ihre wirtschaftliche Dominanz eine geringere Rolle als heute spielen würde. Damit das gelingt, müssten sich künftig nicht nur viele verschiedene Akteure an den neuen Standard halten.
Für ihr Konzept benötigt Dfinity eine Vielzahl an un­abhängigen, weltweit verteilten Rechenzentren, die als Nodes dienen. Diese stellen dem System ihre Kapazitäten zur Verfügung. Als Belohnung will Dfinity eigene Tokens, sogenannte «dfinities», herausgeben, was zu den tech­nischen Hürden der noch jungen Technologie wohl zusätzlich einige juristische Hürden mitbringen dürfte. Denn die Finma und auch weitere Börsenaufsichten weltweit dürften beim Thema Token aufmerksam werden.
Der Bezug zu den Tokens kommt nicht von ungefähr. Denn unter der Haube des Internet Computers werkelt die Dfinity-Blockchain. Diese führt Buch über die Ressourcen in den verteilten Daten Centern, die Laufzeitanforderungen der Applikationen und andere Aspekte der Plattform. Für die Bestätigung einer Transaktion nach einem Konsens­algorithmus benötigt das bekannte Bitcoin bis zu einer Stunde und die modernere Ethereum-Technik rund sechs Minuten. Bei Dfinity will man mit dem eigenen Konsensalgorithmus nur noch fünf Sekunden benötigen. Das wäre etwa 72-mal schneller als bei Ethereum. «Ich nenne es gerne die Konsensus-Ebene des Dfinity-Stacks», erklärt Mahnush Movahhedi, Senior Research Engineer bei Dfinity. Auf diesem Level setzen die Anwendungen auf. Auf dem Technologieunterbau von Dfinity sollen Anbieter genauso wie Anwenderunternehmen ihre Websites, Geschäfts­anwendungen, Internet-Dienste oder andere IT-Systeme auf Enterprise-Niveau direkt aufsetzen können – wie auf einem virtuellen verteilten selbstheilenden Supercomputer.
Dominic Williams ist Gründer und Chief Scientist bei Dfinity. Sein Unternehmen baut am Internet Computer
Quelle: Dfinity

Zwischen Begeisterung und Skepsis

Nicht alle teilen die optimistische Sicht der Dinge. Zum einen ist da die Herausforderung, den Konsensalgorithmus derart drastisch zu senken, wie er für den reibungslosen Betrieb des Internet Computers erforderlich wäre. Wenn die Ingenieurinnen und Ingenieure die angestrebten Geschwindigkeitswerte beim Konsensalgorithmus tatsächlich erreichen würden, wäre Dfinity in der Tat extrem schnell, bescheinigte Nils Urbach, Professor für Wirtschaftsinformatik und Strategisches IT-Management an der Universität Bayreuth sowie Mitgründer und Co-Leiter des Fraunhofer Blockchain-Labors gegenüber dem Wirtschaftsmedium Forbes. Aber noch sei der Internet Computer mehr ein Versprechen als eine fertige Lösung.
Und nicht nur das: Joseph Lubin, Mitgründer des heute in Zug beheimateten Blockchain-Spezialisten Ethereum und Gründer des Software-Anbieters ConsenSys in New York, stellt manche Ideen von Dfinity infrage. Sollte ein Drittel der Knoten des Dfinity-Netzwerks zeitweise für die übrigen Knoten nicht mehr erreichbar sein, könnte das gesamte Dfinity-Netzwerk zum Stillstand kommen, argumentierte Lubin im Mai des vergangenen Jahres. Dies würde den Internet Computer für «viele unterschiedliche Klassen von Anwendungen» aus seiner Sicht ausschliessen.
Lubin gibt schmunzelnd zu, er könne aufgrund seiner Ethereum-Befangenheit nicht die nötige Objektivität aufbringen. Dfinity als einen würdigen Ersatz von AWS könne er sich dennoch sehr gut vorstellen. «Die Ingenieure von Dfinity werden es mit einer hohen Wahrscheinlichkeit durchaus sehr gut hinkriegen», bestätigt er.

Quelloffen und «unzerstörbar»

Lubin ist sich mit Dfinity-Chef Williams darin einig, wenn es um die Abhängigkeit von den grossen Plattformen geht. Das Problem werde durch die Konflikte zwischen den Big Playern des Internets und den kleineren Unternehmen, die von ihnen abhängig sind, im Laufe der Zeit weiter verschärft. Das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Nachteile proprietärer Social-Media-Dienste hat in den letzten Jahren zugenommen. Auslöser dafür war nicht zuletzt die Weitergabe von Nutzerdaten durch Facebook an Cambridge Analytica. Die Verbraucher mögen sich über den Verlust an Kontrolle über ihre Daten und über deren Missbrauch ärgern, doch für Anwenderunternehmen, die sich auf «Big Tech»-Companys verlassen, seien die Risiken sogar existenzbedrohend, zeigt sich Williams überzeugt.
Denn die Schwergewichte können die Regeln für den Zugang zu unternehmenskritischen Ressourcen und Infra­strukturen – sprich zu den APIs – jederzeit nach eigenem Gutdünken verwalten. Williams führt das Beispiel des Spiele­entwicklers Zynga ins Feld, der sich auf Facebooks APIs verlassen hatte und 80 Prozent des Umsatzes über das Social Network erwirtschaftete. Als Facebook dann die «Spielregeln» unerwartet geändert hatte, erlitt Zynga einen massiven wirtschaftlichen Rückschlag.
Zwar wird Zynga heute wieder als Anlagetipp gehandelt, damals jedoch brach der Aktienkurs des Spieleherstellers um rund 40 Prozent ein. «Wir bauen die Infrastruktur für ein offenes LinkedIn, ein offenes eBay, ein offenes AirBnB – der gleiche Service, aber offen.» LinkedIn habe nach der Übernahme durch Microsoft unzähligen Software-Schmieden die Nutzung seiner APIs verweigert und die betroffenen Entwickler hängen gelassen, erinnert der Software-Spezialist. Das werde mit Dfinity niemals passieren, verspricht Firmengründer Williams.

Forschung auch in der Schweiz

Dfinity hat ein starkes Forschungsteam in Zürich zusätzlich zu je einem in Palo Alto und San Francisco in Kalifornien, in Deutschland und in Tokio. Zürich sei ein grossartiger Standort für gewisse Computing-­Bereiche und für Kryptografie, kommentiert Williams. Viele der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Dfinity in Zürich haben zuvor bereits bei etablierten IT-Schwergewichten wie IBM und Google ein bleibendes Erbe ihrer Innovationskraft hinterlassen.
Andreas Rossberg beispielsweise, Alumnus eines Post-Doc-Programms des Max Planck Institute for Software Systems, zeichnete zuvor bei Google Deutschland verantwortlich für die Entwicklung von V8, einer quelloffenen High-Performance-JavaScript- und WebAssembly-Engine, verfasst in C++. Die Engine wird im Chrome-Browser und in Node.js eingesetzt. In seiner jetzigen Kapazität als Senior Staff Researcher & Engineer bei Dfinity soll Rossberg ein «Entwicklerteam von Superstars der Weltklasse» aufgebaut haben, kommentiert Jelena Djuric, ehemalige Community Managerin bei Dfinity im kalifornischen Palo Alto.
Das Team von Dfinity könnte mit seiner Technik die IT-Kosten von Anwenderunternehmen senken
Quelle: Dfinity
Für Dfinity ist das Blockchain-Öko-System im sogenannten Crypto Valley rund um Zug ein idealer Nährboden. «Ohne das Privileg, mit Talenten aus der Schweizer Crypto Valley Community zu arbeiten, wäre die Erschaffung des Internet Computers von Dfinity auf keinen Fall möglich gewesen», ergänzt Dfinitys Senior Research Engineer Movahhedi. «Das Crypto Valley ist eine wirklich einzigartige Umgebung für technische Innovationen.»
Auch die Nähe der EPF Lausanne und der ETH Zürich spielten für Dfinity bei der Wahl des Standorts eine wichtige Rolle. Das Zürcher Forschungslabor von Dfinity leitet Jan Camenisch, mehrfach preisgekrönter Computerwissenschaftler. Camenisch ist für seine wissenschaftlichen Pu­blikationen auf den Gebieten der Kryptografie und des Datenschutzes sowie für mehrere Patente bekannt. Auch ist er ein Fellow des Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE), einem weltweiten Berufsverband von Ingenieuren hauptsächlich aus den Bereichen Elektro- und Informationstechnik. Der Verband definiert beispielsweise Parameter für Schnittstellen wie den USB-Anschluss.

Angriff auf Legacy-Systeme

Dfinity hat die Latte sehr hoch angesetzt. Den Internet-Stack komplett neu zu erfinden, ist sicherlich keine leichte Aufgabe. Die Rückendeckung durch Investoren wie beispielsweise die Venture-Capital-Firma Andreessen Horowitz, Polychain Capital und SV Angel verspricht jedenfalls ein gewisses Durchhaltevermögen. Noch vor der Vorstellung finaler Produkte wurde der Marktwert von Dfinity auf etwa 2 Milliarden US-Dollar taxiert. Die Plattform von Dfinity soll langfristig die IT-Kosten der Unternehmen senken. Denn IT-Systeme und ihre Wartung würden aus Sicht des Start-ups viel zu viel Geld verschlingen. Für Big Tech gäbe es «absurde» Anreize, IT-Systeme zu «überkomplizieren», um die betroffenen Nutzer in diesen komplexen Systemen zu halten.
Sein Internet Computer könne eine Alternative für den 3,8 Billonen teuren Legacy-IT-Stack sein, warb der Gründer gegenüber dem Medium «TechCrunch» für seine Technik und fügte an: Das werde die nächste Generation an Entwicklerinnen und Entwicklern fördern, die neue manipulationssichere Software auf Enterprise-Niveau und offene Web-Services entwickeln wollen. Wenn es nach Williams geht, könnte Dfinity Anwenderunternehmen im KMU-Segment kaum schnell genug mit einer quelloffenen Alternative zu althergebrachten Modellen der Software-Entwicklung und -Bereitstellung befreien. Die ersten grossen Dfinity-Anwendungen «Made in Switzerland» avisiert das Unternehmen für die kommenden zwei Jahre.
Crypto Valley
Leuchttürme und Einhörner
Die Schweiz gilt mittlerweile als Zentrum der weltweiten Entwicklung von Appli­kationen und Technologien unter Einsatz der Blockchain- und Hyperledger-Technik. Über 800 Firmen sind es inzwischen gemäss dem Kryptoinkubator CVVC. Die Branche beschäftigt in der Schweiz und Liechtenstein rund 4400 Menschen. Die Schweizer Kryptobranche erlebt nach einem Einbruch (Kryptowinter) einen zweiten Frühling. Vier aktuelle Leuchtturmprojekte des Crypto Valleys:
  • Ethereum: Das hierzulande entwickelte Ether ist nach Bitcoin die zweitstärkste Kryptowährung am Markt. Darüber hinaus lässt sich die zugrunde liegende Blockchain-Technik des Unicorns Ethereum für verschiedene Anwendungen einsetzen. So gilt Ethereum momentan als eine der populärsten Plattformen für die relativ schnelle und einfache Umsetzung von Smart Contracts.
  • Modum.io: Das Zürcher Unternehmen bietet Lösungen für Supply Chain Intel­ligence und Automatisierung an. Auf Basis von IoT-Sensorik und Blockchain-Technologie schafft Modum nach eigenen Angaben digitale Ökosysteme für ein breites Anwendungsspektrum für sensible Güter in verschiedenen Branchen.
  • Seba und Sygnum: Die weltweit ersten Kryptobanken mit Finma-Lizenz.
  • Polkadot: Das Technologie-Start-up und Unicorn arbeitet ähnlich wie Dfinity an einem dezentralisierten Web. Über ein Netzwerkprotokoll werden verschiedene Blockchains miteinander verknüpft, sodass diese untereinander Informationen austauschen können. Die Technik soll es ermöglichen, Applikationen zu bauen, die beispielsweise Daten von privaten auf öffentlichen Blockchains nutzen.



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