Business-Satire 06.01.2022, 06:30 Uhr

Aus der Teppichetage: Her mit den Daten!

Über Schulterklopfen und Schockpausen, Sparwut, Messbarkeitsmanie, Ideenkompetenz – und den unerschütterlichen Glauben an die Zukunft eines Unternehmens und seine Führungsmannschaft.
(Quelle: Shutterstock/ESB Professional)
Der neue CEO zieht im Unternehmen von Produk­tionsleiter Hannes andere Saiten auf. Er hat sich in seinen ersten 100 Tagen ein Bild davon gemacht, wie das Unternehmen aufgestellt ist und wie es um die Prozesse steht. Dem gewachsenen Industrieunternehmen mit ursprünglich lokaler Verankerung haftet irgendwie immer noch so etwas wie ein ländlicher Stallgeruch an. Man kennt sich nicht nur im Unternehmen, sondern ist auch in der heimischen Region verankert. Die Umgebung ist stolz, man kennt sich und viele Menschen haben einen Bezug zu irgendjemandem in der Firma.
Als der neue Chef angetreten ist, hat er dann doch klar signalisiert, dass das Moderne, beispielsweise in Form der Digitalisierung, weit unterentwickelt ist und man jetzt einen grossen Schritt nach vorn gehen soll. Die Zeit ist reif für grosse Visionen, predigt er regelmässig an zelebrierten Mitarbeiterveranstaltungen – abwechslungsweise jeweils live und via Livestream im Intranet. Genau das ist seine Plattform. Er setzt auf moderne Medien und spricht regelmässig via Bildschirm zur Belegschaft. Dafür wurde in seinem Büro eigens eine Ecke als Mini-TV-Studio eingerichtet, damit seine gelenkt spontanen Ansprachen auch optisch geschliffen daherkommen und ja kein Staubpartikelchen auf dem Jacket vom Inhalt der Botschaft ablenkt, die auf den hochauflösenden Flatscreens zu sehen ist.

Nichts dem Zufall überlassen

Diese Perfektion steht auch sinnbildlich für all das, was in der Produktion und im Zusammenhang mit Kundenzufriedenheit ansteht. Ja, die Zeiten sind vorbei, als die Kundschaft einfach anrufen konnte und nach einer schnellen Lösung gesucht wurde. Irgendwie fühlte sich schliesslich so jeder mit dem Unternehmen verbunden. Ein Kunden­anruf löste im Kopf automatisch die Alarmfunktion «jetzt aber sofort das Problem lösen» aus.
«Das hat ja kein System», meinte der neue Chef von Hannes und lässt ihn jetzt Fleissarbeit erledigen. Kundenzufriedenheit ist nicht mehr zufällig, sondern muss gesteuert werden. Das beginnt schon einmal mit dem Wort. Es kann ja nicht sein, dass sich jeder für den Kunden einsetzt. Das muss einen strategischen Hintergrund haben. Customer-Experience-Management wird die neu geschaffene Abteilung genannt. Sie hat die Aufgabe, sämtliche Prozesse darauf auszurichten, den Kunden wahrzunehmen. Allerdings waren die Menschen in dieser Gruppe selbst noch nie an der Kundenfront – geschweige denn bei der Montage einer Produktionsanlage.
Zur Reihe
«Hannes managt»
ist eine Geschichten-Serie mit feinsinniger Satire aus den und über die Management-Etagen. Hannes ist als Produktionsleiter in einem grossen, international aufgestellten Industrieunternehmen tätig. Als Mittfünfziger ist er in der Geschäfts­leitung unterdessen das älteste Mitglied.
Den ersten Teil der Reihe können Sie hier nachlesen.

Die Prozesse optimieren, bis …

Sie haben aber unglaubliche Client-Optimierungsprozesse gestaltet. «Kunde ruft an – Mitarbeiter sucht Lösung» ist zu profan. Der Kunde meldet sich bei einem Problem zuerst beim Client-Management, das dann aufgrund der Schwere des Falles ein Major-Problem daraus macht oder einen Workflow eröffnet. Das schafft schon mal ganz klar Transparenz. Daraus entsteht ein ausgeklügeltes Ticket-System, das dann der Incident-Management-Group übergeben wird. Im Grunde ist das einfach ein Mitarbeiter, der aus der IT dafür freigestellt wurde.
Morgendlich werden durch das ebenfalls neu geschaffene Availability-Management dann die Störungsmeldung der Kunden an mögliche Try-and-Error-Help-Points übermittelt, die sich anschliessend der eigentlichen Problemlösung annehmen. Neu ist daher in jeder Produktionsschiene ein sogenannter Kümmerer zumindest einmal für die Entgegennahme des Problems verantwortlich. Dann gilt es sicherzustellen, dass sich die richtigen Leute an die Umsetzung respektive die Behebung des ursprünglichen Problems machen. Jetzt wird die Feedback-Group dazu­geschaltet, die ihrerseits wiederum sicherstellt, dass auch sämtliche Schritte protokolliert und rückgemeldet werden.
Fazit nach dem ersten Monat der Installation dieses Customer-Experience-Problem-Managements: Bereits zehn Tage nach der Meldung eines Problems erhält der Kunde Bescheid, dass dieses verstanden wurde und ein Vertreter der Problem-Präventionsgruppe sich in den nächsten fünf Tagen melden wird. Im Vergleich zu vorher kann der dann eine exakte Angabe von Tagen kommunizieren, in denen eine Lösung gefunden wird. Hannes, der auch in der freiwilligen Feuerwehr im Ort tätig ist, überlegt sich schon bald, ob das auch ein Ansatz für das Löschen von Hausbränden sein könnte ...

Die Messbarkeit macht Prozesse komplett

Die Sache hat erhebliches Potenzial, noch weiter verfeinert zu werden. Da sind solide gezeichnete Prozesse ja gut, aber es soll schliesslich auch alles gemessen werden. Diesbezüglich ist man natürlich auch in Hannes’ Unternehmen schon lange im digitalen Zeitalter angekommen und verwaltet dazu eine Unmenge an Daten. Alles wird gemessen, analysiert, bewertet, beurteilt und kein Entscheid muss mehr ohne fundierte Zahlenauflistung gefällt werden.
Korrelationen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen, Statistiken und Machbarkeitsarithmetik haben Diskussionen über «Vor- und Nachteile» abgelöst. Man will nicht einfach «aus dem Bauch heraus» irgendetwas tun, alles soll eine solide Basis haben. Wäre ja noch schöner, wenn man zum Beispiel die Wahl der Farbe des neuen Logos einfach so mal nach «gefällt mir mehr» oder «gefällt mir weniger» fällen würde. Dazu dienen heute psychologische Gutachten, die beschreiben, welche Emotionen welche Farben bei wem zu welcher Gelegenheit auslösen. Daten skizzieren exakt, welche der Farben bei den wirklich erfolgreichen Mitbewerbern – was auch wieder mit Zahlen fundiert belegt werden kann – schon am häufigsten vorkommen, weshalb man sich dann nicht mehr von ihnen abheben kann.
Nun hat das Geschäftsleitungsgremium beschlossen, auf diesem Pfad weiterzufahren. Die erfolgreiche Zeit lässt sich selbstverständlich auch mit einem zehnseitigen Bericht mit je ca. fünf Tabellen, 18 Kuchendiagrammen und nachgezählten rund 100 Zahlenangaben beweisen.

Vertiefte Analysen für Soft-Faktoren

Hannes darf als Leiter der Produktion – die ist an sich ja prädestiniert dafür, Berechnungen anzustellen – den internen Markt beleuchten und hinterfragen. Produktionstechnisch ist zwar seit Langem klar, wie viele IT-Pannen die entsprechende Abteilung pro Tag lösen muss oder an welchen Wochentagen die Schwerpunkte liegen. Klar ist auch, nach welchen Feiertagen am meisten Krankenabwesenheiten zu verzeichnen sind. Belegt ist ebenfalls schon seit Längerem, wie lange sich der durchschnittliche Besuch in Betriebskantine, Raucherecke und Toiletten hinzieht. Die Auswertung zeigt Säulen für Mitarbeiter, Alters- und Hierarchie­gruppen separiert. Hannes ist sich zwar nicht ganz im Klaren, was man mit all dem Big-Data- und Small-Data-Zeugs macht. Aber gut ist es sicherlich schon, wenn das alles in Erfahrung gebracht wird.
Nun geht es um die Zufriedenheit und die weichen Faktoren. Man will schliesslich nicht nur wissen, wie lange der durchschnittliche Small Talk beim Warten an den Auf­zügen zum Personalrestaurant dauert. Sondern auch, wie zufrieden das Warten vor der Kaffeemaschine macht – wenn die Angestellten beobachten, wie sich die mittlere, dunkle oder helle Mokka-Mischung mit der Milch für den perfekten Cappuccino vereinigt.

Voten, was das Zeug hält

Feedbacks einholen via Voting-Instrument ist zwar ein beliebtes Mittel. Aber ob es den gewünschten Nutzen bringt?
Quelle: Shutterstock/Davizro Photography
Also beginnt Hannes, systematisch Orte zu suchen, wo unmittelbar eine Bewertungsbox hingestellt werden soll. Die Bewertungsbox «Votix» ist ein selbst produzierter, kleiner Voting-Apparat auf einer Dreibeinstütze und den beliebten, grossen Buttons mit den drei Smileys «lächeln», «neutral» und «wütend». Alternativ soll es dereinst auch eine Smartphone-App geben, mit der ebenfalls eine Bewertung deponiert werden kann.
Konkret ist somit der Vorgang beschrieben: Wer die Kaffeetasse wieder von der Maschine nimmt, wird sofort per App aufgefordert (oder macht es manuell an der Votix), die Zufriedenheit des Kaffee-Outputs zu bewerten. So geht es weiter. Man darf voten, wie sauber die Toiletten empfunden wurden, wie kompetent die IT-Supporter das Problem lösten, wie zügig die Person am Empfang die Besucherkarten ausfüllte, wie zufrieden man mit dem Duft des neuen Reinigungsmittels der Tiefgarage ist oder was man von der Anlaufzeit der neuen Klimaanlage im Sitzungszimmer hält.

Nur nichts überstürzen

Selbstverständlich baut Hannes im Prozess und den entsprechenden Steuerungsprogrammen auch noch eine Sicherheitsschlaufe ein. Da sämtliche Voting-Stationen den Personalbadge erkennen, weiss man natürlich auch, wer vergessen hat, eine Bewertung abzugeben. Diese Person erhält beispielsweise eine Stunde nach dem Toilettengang eine WhatsApp und eine E-Mail mit dem Text: «Vor Kurzem durften wir Sie auf unseren Toiletten begrüssen. Ihr Besuch dauerte 4,316 Minuten und der Wasserverbrauch war durchschnittlich. Es freut uns, wenn Sie uns noch beurteilen. Danke, Ihr Hausdienst.»
Hannes ist beruhigt, es mit relativ einfachen Mitteln geschafft zu haben, worüber man sich schon lange Sorgen machte: Nämlich Daten zusammenzutragen, ob die Mit­arbeitenden mit den peripheren, internen Dienstleistungen auch tatsächlich zufrieden sind. Herauszufiltern, was die Zahlen nun wirklich aussagen, das ist ein Projekt fürs nächste Jahr. Und allfällige Schlussfolgerungen können auch noch bis ins übernächste Jahr reifen. Man muss ja nichts überstürzen – gerade bei solch strategisch wich­tigen digitalen Konzepten …
Der Autor
Stefan Häseli
ist Experte für Kommunikation.



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