Witty-Works-Gründerinnen 22.07.2019, 14:29 Uhr

«Wir führen Firmen zu mehr Diversität»

Divers zusammengesetzte Teams arbeiten besser. Firmen suchen daher weibliche Fachkräfte. Doch anstatt sie anzuziehen, vergrätzen sie diese. Die Witty-Works-Gründerinnen Nadia Fischer und Valérie Vuillerat helfen Tech-Unternehmen dabei, diverser zu werden – mit Erfolg.
Valérie Vuillerat (l.) und Nadia Fischer haben das Start-up Witty Works vor einem Jahr gegründet
(Quelle: Samuel Trümpy)
Computerworld: Wie haben Sie sich kennengelernt?
Valérie Vuillerat: Nadia und ich lernten uns an einem Branchen-Meeting kennen. Wir arbeiten beide seit vielen Jahren im Tech-Bereich und stellten fest, dass sich unsere männlichen Kollegen regelmässig darüber beklagten, keine weiblichen Talente zu finden oder halten zu können. Und, dass Frauen keine Leadership-Funktionen übernehmen wollen.
Komischerweise kennen wir persönlich jedoch sehr viele Frauen, die in dieser Branche arbeiten und die auch Verantwortung übernehmen wollen. Uns scheint es gefährlich, wenn Frauen im Tech-Bereich untervertreten sind, da ja unsere Zukunft völlig technologisiert sein wird. Unser Projekt konkretisierten wir im Dezember 2017. Im Juni letzten Jahres entschieden wir uns, ein Start-up zu gründen. Im August sind wir dann live gegangen – mit dem Ziel, Tech-Unternehmen zu unterstützen, sodass sie weibliche Talente finden und halten können.
CW: Mit welchem Business-Modell gehen Sie das an?
Nadia Fischer: Unser Geschäftsmodell basiert derzeit auf zwei Säulen. Einerseits bieten wir Unternehmen Tools, dass sie weibliche Talente anziehen und rekrutieren können. Andererseits coachen wir Unternehmen bei der Entwicklung von Prozessen und Verhaltensweisen, anhand derer sie weibliche Talente eher halten können.
Zur Person
Nadia Fischer
arbeitete unter anderem in einem Start-up in San Francisco und verantwortete als Product Owner die Entwicklung von Software-Applikationen sowie auch das Business Development des Zürcher Office von Liip.
Valérie Vuillerat
baute mehrere Firmen auf, wie etwa die Digitalagentur Ginetta. Als Mitgründerin des Frauennetzwerks «We shape Tech» setzt sie sich seit Jahren für mehr Diversität in der Digital­branche ein.

Tools für bessere Stelleninserate

CW: Wie sehen diese Tools aus?
Nadia Fischer optimiert Formulierungen in Job-Inseraten, damit sich mehr IT-Spezialistinnen auf die Stellen bewerben
Quelle: Samuel Trümpy
Fischer: Der erste Berührungspunkt mit einer neuen Firma ist in vielen Fällen ein Job-Inserat. Und wir sehen, dass diese in den meisten Fällen so geschrieben werden wie vor 20 Jahren. Also mit möglichst vielen und hohen Anforderungen. Mehrere Studien – unter anderem auch von der Technischen Universität München – haben jedoch gezeigt, dass Frauen ein Job-Inserat anders wahrnehmen als Männer. Oft ist die Sprache des Job-Inserats so gewählt, dass es weibliche Talente nicht anspricht und sie sich dann nicht bewerben. Dem setzen wir entgegen: Wir analysieren Job-Inserate auf sogenannte kognitive Verzerrungen oder Bias. Wir prüfen, wie attraktiv Inserate für Bewerberinnen sind, und unterstützen Firmen darin, ihre Job-Angebote dahingehend zu optimieren, dass sich auch Frauen darauf bewerben. Das bedingt, dass man Inserate für Frauen anders verfasst als für Männer. Wir schreiben Job-Inserate um und machen sie so attraktiv für Bewerberinnen. Ihre Anzeigen können unsere Kunden auch auf unserer Plattform publizieren.
Vuillerat: Wir sehen nun, dass Unternehmen Bewerbungen von weiblichen Talenten über unsere Job-Plattform erhalten. Aber oft fallen sie im Rekrutierungsprozess dann wieder raus. Dies führen wir auf das versteckte Bias in Rekrutierungsprozessen zurück.
Daher ist ein weiteres Tool die Neutralisierung des Re­krutierungsprozesses. Wir bieten Handlungsempfehlungen, sodass er möglichst frei von Bias und für alle Bewerberinnen und Bewerber mit diversem Hintergrund offen ist. Unsere Lösungen sind auch nicht auf die Schweiz beschränkt. Wir können diese global anbieten und dadurch skalieren. Das macht unseren Ansatz zusätzlich interessant.
CW: Welche Schritte bieten Sie darüber hinaus an?
Vuillerat: Wir coachen Unternehmen hinsichtlich ihres Employee Brandings. Denn der Auftritt von Firmen kann weibliche Fachkräfte abschrecken oder anziehen. Und im Wei­teren führen wir Firmen zu klaren Diversitätszielen – denn wenn Ziele klar formuliert und gemessen werden, dann werden sie auch umgesetzt.
Fischer: Wir möchten Lösungen aufzeigen, die etwas bewirken. Unsere Stärke ist, dass wir relativ schnell mit punk­tuellen Lösungen intervenieren und auf diese Weise kleine Hebel in Bewegung setzen können. Es muss nicht gleich der mehrjährige Change-Prozess sein. Dadurch sinkt die Hemmschwelle, was Unternehmensentscheidern hilft, mit kleinen, einfachen Schritten zu starten.

Bias in den Unternehmen

CW: Es herrscht Fachkräftemangel in der Schweiz. Eigentlich sollte es Ihr Unternehmen gar nicht brauchen. Wozu braucht es Witty Works?
Vuillerat: Aktuell betreuen wir fast 60 Frauen mit tech­nischem Background in unserem Talent-Pool. Manche von ihnen haben über 80 Bewerbungen geschrieben.

CW: Mehr als 80 Bewerbungen im Technologie-Umfeld? Wie kann das sein?
Fischer: Wir haben heute die am besten ausgebildete weibliche Generation, die es jemals in der Weltgeschichte ge­geben hat. Das sehen wir auch an unserem Talent-Pool. Die Frauen bringen allesamt eine gute Ausbildung und jeweils jahrelange Erfahrung mit. Unsere Recherchen mit Fokus-Gruppen weiblicher Tech-Talente haben uns allerdings gezeigt, dass es für Frauen um einiges schwieriger ist, überhaupt zu einem ersten Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Oftmals werden sie in den Rekrutierungsprozessen einfach abgelehnt. Entweder erhalten sie gleich nach der ersten Runde eine Absage oder sogar bereits nach dem Anschreiben. Das führen wir auf das Bias zurück, das in den Unternehmen vorherrscht.
“Unsere Sozialisierung ist: Männer machen Karriere, Frauen bleiben zu Hause„
Nadia Fischer
CW: Sie haben das Paper «How to de-bias job ads for Women in Tech & Digital» veröffentlicht. Darin analysieren Sie, wie man Stellenausschreibungen verfasst, von denen sich auch Frauen angesprochen fühlen. Welches sind die typischen Fehler, mit denen Unternehmen potenzielle Bewerberinnen vor den Kopf stossen?
Vuillerat: Das beginnt bereits bei der Job-Bezeichnung. Da steht etwa in einem Inserat Projektleiter/-in oder Projektleiter (m/w) etc. Das erzeugt beim Lesen das innere Bild eines Projektleiters, nicht aber einer Projektleiterin. Dem kann man einfach entgegenwirken. Anstatt ein (m/w) hintenan zu stellen, kann man auch Projektleitung schreiben.
Ein weiterer Faktor, der gerne unterschätzt wird, ist die Kultur. Über diese sprechen Unternehmen viel zu wenig in Inseraten. Dafür liest man viele Superlative wie «Wir sind der führende Hersteller von ...». Diese Sprache schreckt Frauen ab – übrigens auch viele Männer. Die Resultate der Fokus-Gruppen deuten klar darauf hin, dass Frauen zuerst die Beschreibung des Jobs anschauen und sich dann sofort mit der Kultur des Unternehmens beschäftigen. Darum ist auch der Auftritt eines Unternehmens über die Corporate-Seite oder in den sozialen Medien wichtig.

Stellenanzeigen schrecken Frauen meist ab

CW: Was empfehlen Sie noch?
Fischer: Frauen bewerben sich nur dann, wenn sie über 90 Prozent der Anforderungen abdecken. Frauen sind diesbezüglich pflichtbewusster als Männer, da sie so erzogen wurden. Je mehr Anforderungen man in der Annonce nennt, desto eher sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sich Frauen auf die Stelle bewerben. Deshalb ist es wichtig, dass man sich überlegt, welches die zwingend erforderlichen Hard und Soft Skills sind und diese in wenigen Punkten aufzählt.
Wir beschränken uns auf vier. Alles Weitere kann man im Bewerbungsgespräch klären. Noch immer meinen manche Firmen, sie können mit einem Job-Inserat rausgehen und erhalten dann 200 Bewerbungen von IT-Fachkräften. Wenn man Glück hat, sind es noch 30 Bewerbungen, oft aber weniger. Deshalb muss man am Anfang den Trichter weit öffnen, um möglichst viele Dossiers zu erhalten.
CW: Wie erklären Sie sich problematische Stellenausschreibungen, wo doch HR-Abteilungen hochprofessionell organisiert sind?
Vuillerat: Ich denke, in vielen Fällen fehlt es HR-Verantwortlichen schlichtweg an Zeit und an einer vom Unternehmen vorgegebenen Vision, wie die Unternehmenskultur eigentlich aussehen sollte. Sie haben keine Zeit, sich mit den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu beschäftigen. HR-Leute – so zeigt es unsere Erfahrung – werden oft nur als «Kostenstelle» gesehen. Obwohl wir wissen, dass es eine Kunst ist, die richtigen Menschen für ein Unternehmen zu finden. Sie arbeiten stets unter grossem Zeitdruck. Wenn man hier etwas unternehmen will, muss man die Rekrutierungs- und Betreuungsprozesse im HR gemeinsam mit der Geschäftsleitung und den HR-Verantwortlichen auf den Prüfstand stellen und überarbeiten.
Zur Firma
Witty Works
unterstützt Tech-Firmen oder Firmen mit Tech-Teams beim Finden und Halten weiblicher Talente. Das Start-up stellt Tools zur Rekrutierung von Diversität zur Verfügung und begleitet Firmen auf ihrem Weg zu einer inklusiveren Kultur, mit der weibliche Tech-Talente besser ge­halten werden können.

Recruiting-Pozess mit Mängeln

CW: Was fehlt den heutigen Recruiting-Prozessen?
Fischer: Wir stellen fest, dass die heutigen Rekrutierungsprozesse in den meisten Unternehmen ein Bias enthalten. Das sind unbewusste Denkmuster, die sich auf die Schritte im Prozess auswirken und dadurch Frauen – vor allem jene im Tech-Bereich – benachteiligen. Dabei ist es gleichgültig, ob es Männer oder Frauen sind, welche die Kandidatinnen beurteilen – wir alle unterliegen diesem Bias. Diese un­bewusste Voreingenommenheit ist durch unsere Sozialisierung gegeben, die besagt: Männer machen Karriere, Frauen bleiben zu Hause. Dabei ist es sehr wichtig zu verstehen: Auch wenn wir dies bewusst nicht wollen und auch sogar gegensteuern möchten, ist es doch so, dass unser Verhalten un­bewusst so gesteuert wird. Dementsprechend werden Männer eher eingestellt und eher befördert als Frauen. Wir können diese unbewussten Denkmuster nicht auf persönlicher Ebene bekämpfen. Bewusstsein hilft, aber vor allem können wir Rekrutierungsprozesse so gestalten, dass die unbewussten Bias nicht oder nur begrenzt spielen können.
CW: Wir sprechen hier also von einem tiefgreifenden strukturellen Problem?
Fischer: Ja, es ist ein systemisches Problem. Darum ist ein Teil davon, den Unternehmen klarzumachen, dass es nicht an den Frauen oder an einzelnen Personen im Unternehmen liegt. Eine Firmenkultur wird ja nicht von einer Person allein bestimmt. Es ist eine Vermengung verschiedener Verhaltensweisen. Diese wirken sich wiederum auf Strukturen und Prozesse aus. Geschieht diese Entwicklung unbewusst und wird sie nicht aktiv gesteuert, etabliert sich eine Kultur der Mehrheit. Diese benachteiligt Menschen, die nicht zu dieser Mehrheit gehören. Geschäftsleitungen und HR-Abteilungen müssen, falls sie Diversität ermutigen wollen, ganz bewusst an Strukturen und Prozessen arbeiten, um die Denkmuster zu umgehen.
Valérie Vuillerat weiss um die wirtschaftlichen Vorteile von Diversität
Quelle: Samuel Trümpy
Vuillerat
: Unternehmensvertreter, mit denen wir uns unterhalten, betonen meist, dass sie sich mehr Frauen im Team wünschen, aber nicht bekommen. Dann lesen wir die Job-Inserate, die männliche Schreibweisen enthalten, auf der Website sehen wir das Klischeebild eines Nerds. Auf dem Instagram-Kanal sieht man Bilder von Männern an Hack­athons. Auf einen Job in einer Firma, die sich derartig präsentiert, würde ich mich auch nicht bewerben. Hier wird eine andere Welt gezeigt. Dabei bräuchten wir eine Kultur, in der sich alle wohlfühlen. Es reicht nicht zu wissen, dass man sein Bias hinter sich lassen muss. Das ist auch nicht möglich, da wir ohnehin alle in irgendeiner Weise einer kogni­tiven Verzerrung unterliegen. Man kann daher nur daran
arbeiten, indem man Strukturen aufbaut und Prozesse etabliert, um eine kognitive Verzerrung zu umgehen.
Irgendwie erinnert mich die Debatte an die Diskussion um die Digitalisierung. Ich erlebe gerade ein Déjà-vu.
CW: Inwiefern?
Vuillerat: Noch vor gut zehn Jahren sprach kaum jemand über Digitali­sierung. Sie galt als Marketing-Topic. Doch auch damals war klar, dass wenn das Thema nicht als Top-Priorität auf der Agenda der Geschäftsleitung steht, auch keine Geschäftsprozesse digitalisiert werden. Ähnliches erleben wir heute wieder. Es braucht viel
Aufklärung. Die Entscheider wissen praktisch nichts darüber, welche Chancen sich Unternehmen vergeben, wenn sie sich für Homogenität entscheiden in der Rekrutierung. Unternehmen, die über alle Führungsebenen divers sind, machen bis zu 25 Pro­zent mehr Umsatz mit Innovationen. Führungskräfte wissen, dass wir zu wenig Frauen in der Wirtschaft haben, meinen aber, es liege an den Frauen und weil die einfach nicht
wollen. Das ist grundfalsch! Richtig ist, dass Frauen die (Berufs-)Welt anders erleben als Männer. Ich glaube, dass es schwierig ist, diese eingefahrenen Strukturen einer männlich geprägten Wirtschaft aufzubrechen, da diese historisch so gewachsen ist. Aber der Wandel zu einer Wirtschaft, die für beide Geschlechter und Minoritäten attraktiv ist, ist ein wichtiges gesellschaftliches und wirtschaftliches Thema. Denn Firmen, die einen hohen Grad an Diversität aufweisen, haben einen höheren wirtschaftlichen Erfolg, wie kürzlich wieder eine BCG-Studie bewies. Mittelfristig geht es nicht nur darum, mehr Frauen in die Wirtschaft zu bringen, sondern das gesellschaftliche Bild insgesamt zu verändern.

Diversität als Garant für unternehmerischen Erfolg

Nadia Fischer (l.) und Valérie Vuil­lerat haben noch Tipps für Apple
Quelle: Samuel Trümpy

CW: Wie profitieren Firmen von der Diversität?
Fischer: Diversität umfasst mehr als nur den Gender­aspekt, es zählen auch Nationalitäten, Kulturen, sexuelle Orientierungen, Hautfarben etc. Wenn sich Unternehmen verändern, sodass sich verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Ansichten willkommen und inkludiert fühlen, wirkt sich das positiv auf die gesamte Firmenkultur, Belegschaft und den wirtschaftlichen Erfolg aus. Firmen mit einem diversen Führungsteam verzeichnen fast 10 Prozent mehr Umsatz aufgrund von Innovationsprojekten. Zudem ist es für sie einfacher, Fachkräfte zu rekrutieren. Es ist nicht nur unsere Überzeugung, sondern auch ein wissenschaftlicher Fakt: Diversität ist ein entscheidendes Kriterium im unternehmerischen Erfolg.
CW: Wie begründen Sie Ihre Überzeugung?
Vuillerat: Die heutigen technischen Probleme sind derart komplex, dass es für deren Lösung Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen braucht. Deshalb ist es wichtig, dass Unternehmen dafür offen sind, möglichst unterschiedliche Leute zu rekrutieren.
Fischer: Um in der komplexen Welt digitale Produkte zu erzeugen, die auf verschiedenste Zielgruppen zugeschnitten sind, braucht man auch ein Team, das entsprechend divers denkt. Es erstaunt mich immer wieder, dass man in vielen Unternehmen diese Überlegungen nicht anstellt. 70 Prozent aller Kaufentscheide werden von Frauen getroffen. Da ist es doch seltsam, wenn ein digitales B2C-Produkt ent­wickelt wird, aber keine Frauen im Produktteam vertreten sind.
Vuillerat: Es gibt genügend Beispiele, die belegen, was schiefläuft, wenn Frauen in Entwicklungsteams fehlen und die Bedürfnisse von Kundinnen nicht abgeholt werden.

CW: Können Sie ein Beispiel nennen?
Vuillerat: Da gibt es mehrere. Ein bekanntes ist die Apple Watch – die immerhin meistverkaufte Smartwatch der Welt. Diese misst zahlreiche Körperfunktionen vom Herzschlag bis zum Schlafrhythmus. Jedoch fehlte lange die Messung des weiblichen Zyklus. Daran hatte man nicht gedacht. Wahrscheinlich, weil keine Frau oder nur sehr wenige Frauen im Entwicklerteam waren oder zu wenig zu sagen hatten.
CW: Speziell Apple achtet darauf, divers aufzutreten. Zumindest erweckt der Hersteller diesen Eindruck an seinen Keynote-Events.
Fischer: Ein kultureller Wandel in einem Unternehmen, sodass alle inkludiert sind und alle Stimmen gehört werden, geschieht erst ab einem Frauenanteil von 20 bis 25 Prozent. Und zwar auf allen Hierarchiestufen und allen Funktionen. Das hat die Unternehmensberatung Boston Consulting Group ausführlich untersucht. Es reicht nicht, nur genügend Mitarbeiterinnen im Finance oder Marketing zu beschäf­tigen. Genauso, wie es wenig bringt, wenn eine Frau unter fünf Männern in der Geschäftsleitung sitzt. Sie hat praktisch keine Chance und kann aus dem eingespielten System gar nicht ausbrechen. Falls sie es versucht, wird sie als Frau identifiziert und quasi stigmatisiert, aber nicht als Fachexpertin wahrgenommen. Deshalb müssen sich männliche Verantwortliche in den Schweizer Unternehmen engagieren und möglichst viele Frauen einstellen, damit die heutigen Denkmuster verändert werden können.
CW: Aber es liegt doch letztlich an der individuellen Leis­tung eines jeden Einzelnen und dem Wunsch, ein Ziel erreichen zu wollen, um nach oben zu kommen. Oder liege ich hier falsch?
Fischer: Wären wir wirklich eine leistungsbasierte Gesellschaft, hätten wir gleich viele Männer wie Frauen in Führungspositionen. Allerdings ist die Realität eine andere. Wie der jährliche Glass Ceiling Index der OECD und des «The Economist» aufzeigt, rangiert die Schweiz auf Platz 26 von 29 OECD-Ländern. Der Untersuchung zufolge kommt die Entwicklung insgesamt sogar zum Stagnieren. Es wird also eher schwieriger für Frauen aufzusteigen.
Vuillerat: Das würde ja ansonsten bedeuten, dass wir deshalb weniger Frauen in Führungspositionen haben, weil sie weniger leisten. Was ja offensichtlich nicht der Fall ist.

Frauenquoten als Interims-Lösung

CW: Brauchen wir am Ende also doch verbindliche Frauen­quoten, um mehr weibliche Fachkräfte in Tech-Berufe oder Top-Positionen zu bringen?
Vuillerat: Seit rund 20 Jahren debattiert man in Wirtschaft und Politik darüber, mehr Frauen in Führungsposi­tionen zu holen. Die anhaltende Debatte zeigt, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben. Ein Blick in die nordeuropäischen Länder offenbart, dass strukturelle und systemische Massnahmen durchaus helfen. Eine Quote, begrenzt auf ein paar Jahre, wäre also sinnvoll und würde zum Erfolg führen. Dann müssten Unternehmen reagieren und wir würden eine kulturelle Veränderung erleben. Später liesse sich dann ja auch ohne Quote weiterarbeiten.
CW: Wo kann man heute bereits anfangen, um die Diversität im Unternehmen zu fördern?
Fischer: Es gibt verschiedene punktuelle Eingriffe, die man sofort machen kann – etwa Job-Inserate anders schreiben oder Rekrutierungsprozesse objektivieren –, um sicher­zustellen, dass man Diversität rekrutiert. Aber dann muss man auch sicherstellen, dass eine Kultur gelebt wird, welche die Diversität unterstützt. Dies braucht eine andere und tiefgründigere Arbeit des Unternehmens. Wir gehen individuell auf die Firmen ein und holen sie dort mit den treffenden Massnahmen ab, wo sie zurzeit stehen.
“Eine Frauenquote für ein paar Jahre wäre sinnvoll und würde zum Erfolg führen„
Valérie Vuillerat
CW: Wie offen sind die Entscheider für Ihre Ansätze?
Vuillerat: Das ist ganz unterschiedlich. Unsere Kunden lassen sich grob in drei Gruppen unterteilen. Es gibt diejenigen, die sich für das Thema überhaupt nicht interessieren, da sie kein Problem sehen mit homogenen Teams. Daneben gibt es welche, die spüren, dass sie etwas unternehmen müssen, bei denen es aber bei einem Lippenbekenntnis bleibt. Dann gibt es die dritte Gruppe, die sich klar dazu bekennt und Diversity wirklich leben will. Denen ist auch klar, dass es ein Change-Prozess ist, der zwei bis drei Jahre andauert, bis man am Ziel ist. Hierfür muss man mit kleinen Schritten beginnen und iterativ arbeiten.
CW: Woher stammen Ihre Kunden und in welchen Branchen sind sie aktiv?
Fischer: Im Moment stammen viele unserer Kunden aus den Wirtschaftsräumen Zürich und Bern. Der Musterkunde ist momentan das mittelständische Unternehmen mit 20 bis 250 Mitarbeitenden. Wir unterstützen aber auch Kunden aus dem Enterprise-Segment.
Vuillerat: Wir merken seit einiger Zeit, dass Unternehmen vermehrt auf uns zukommen. Darunter sind auch Firmen, die zum Teil männlich dominiert sind und von ihren Kunden darauf angesprochen werden, weshalb sie nicht mehr Frauen in der Geschäftsleitung oder im Entwicklungsteam haben. Manche verloren bereits einen Pitch deswegen. Der wirtschaftliche Druck steigt also und damit das Bewusstsein und die Bereitschaft, die Situation zu verbessern.
CW: Welches Feedback erhalten Sie von Ihren Kunden? Inwieweit hat sich die Zusammenarbeit für sie gelohnt?
Fischer: Wir sind im Herbst letzten Jahres gestartet, in­sofern ist es noch etwas früh für eine erste Bilanz. Aber gemäss unseren Kunden erhalten sie mehr Bewerbungen von Frauen, etwa von IT-Spezialistinnen. Manche Bewerberin hätten sie ohne uns nicht bekommen. Auch die Präsenz der Unternehmen auf unserer Website ist interessant für sie. Sie können sich öffentlich präsentieren als Unternehmen, die etwas dafür (Women in Tech & Digital) unternehmen.
Zudem berichten unsere Kunden von mehr Klarheit im Diversitätsthema aufgrund der Aufklärungsarbeit, die wir leisten. Einzelne tiefgründigere Massnahmen, die sie getroffen haben, müssen noch gemessen werden. Aber nur schon die Tatsache, dass wir der ganzen Belegschaft ganz konkrete Massnahmen vorschlagen, um das Thema zu bearbeiten, hilft enorm, um das Bewusstsein auf neutrale Art und Weise zu stärken.

Auch die Politik ist gefragt

CW: Was könnten eigentlich politische Akteure tun?
Vuillerat: Es wäre entscheidend, dass die Heiratsstrafe abgeschafft wird. Dadurch würde es sich für Frauen endlich lohnen, arbeiten zu gehen. Das hat zwar nicht direkt mit Führungskräften zu tun, aber diese politische Rahmen­setzung wirkt sich ebenfalls darauf aus, wie lange und wie viel eine Frau arbeitet. Auch braucht es mehr Kinderbetreuung, Ganztagesschulen und ähnliche Angebote, um Familien zu entlasten. Ebenfalls notwendig ist die Einführung eines obligatorischen Vaterschaftsurlaubs.
Fischer: Mich erstaunt immer wieder, dass ein Staat so viel für die Ausbildung ausgibt, schliesslich sind 60 Prozent der Universitätsabgänger Frauen. Dann diese Investition aber wieder verpuffen lässt, indem Barrieren wie Heiratsstrafe, Kinderbetreuungskosten und ein nicht existierender Vaterschaftsurlaub aufgestellt werden, welche die Frauen vom Arbeiten abhalten. Das ist, kurz gesagt, volkswirtschaftlicher Blödsinn. Kein privat organisiertes Unternehmen würde diesen negativen ROI zulassen.
CW: Witty Works ist seit fast einem Jahr am Markt. Welche nächsten Schritte haben Sie geplant?
Fischer: Die Tools in der Rekrutierung werden mittels Software automatisiert. Somit ist es jedem Unternehmen möglich, Diversität einfach zu rekrutieren. Damit erzielen wir auch einen Skaleneffekt, sodass es mit der Diversität in der Schweizer Wirtschaft schneller vorwärtsgehen kann. Auch wollen wir mit einem zusätzlichen Tool zukünftig messen können, wo ein Unternehmen in der Entwicklung einer offenen, inklusiven Kultur steht.
Vuillerat: Ich spüre im Moment, dass sich Veranstalter von Tech-Events um mehr Besucherinnen, Keynote-Spea­kerinnen oder weibliche Jurymitglieder bemühen und sich an uns wenden. Allerdings sind die wenigsten bereit, für die Vermittlung zu bezahlen oder die nötige Zeit zu investieren. Es wird einfach erwartet, dass man Namen erhält. Das zeigt mir, dass es den Veranstaltern eigentlich egal ist. Aber der äussere Druck steigt. Die Besucherinnen und Besucher reagieren in den sozialen Medien oder bei den Anmeldungen, wenn es zu wenig oder gar keine Frauen auf der Bühne oder im Publikum hat. Hier verfolgen wir die Idee, selbst ein Netzwerk aufzubauen. Mit möglichen Referentinnen und Expertinnen für Panel-Diskussionen.



Das könnte Sie auch interessieren