Transformationshelfer 25.10.2021, 10:15 Uhr

Start-ups als Begleiter für die digitale Zukunft

Unternehmen stehen unter Digitalisierungsdruck. Start-ups könnten ihnen dabei helfen, innovativer zu werden oder in neue Geschäftsfelder vorzudringen. Während manche sich noch in Zurückhaltung üben, haben andere das Potenzial bereits erkannt und Kooperationen lanciert.
(Quelle: Shutterstock/Color4260)
Unser Alltag und unsere Arbeitswelt stecken in einem massiven Wandel. Zugegebenermassen nicht erst seit gestern. Aber die Corona-Pandemie hat mit ihrem Beginn im Frühjahr 2020 die Entwicklungen, die in den vorherigen Jahren angestossen, vielerorts aber doch noch nicht so konsequent umgesetzt wurden, nochmals beschleunigt. Home Office und Remote Work sind nun nicht mehr nur eine Option, sondern eigentlich in der Regel Pflicht.
Die letzten Monate haben auch gezeigt, wie wichtig zum Beispiel digitale Behördendienste sind. Wenn der Gang zum Schalter nicht mehr möglich ist, dann müssen die Informationen und Dienste auf andere Art und Weise zugänglich sein. Viele Unternehmen stehen mit der Forderung nach immer mehr digitalen Services vor einer Her­kulesaufgabe. Hinzu kommt in vielen Branchen der Druck, Innovationen voranzutreiben. Neue Player betreten den Markt und sind oftmals um einiges leichtfüssiger und agiler unterwegs als ihre älteren Mitbewerber.
Dass die Veränderungen durch die digitale Transformation deutlich spürbar sind, davon sind viele Teilnehmende unserer «Focus by ICT Analytics»-Studie überzeugt. Von den Personen, die sich an der Umfrage beteiligten, sagt gut ein Drittel aus, dass die Digitalisierung auf ihr Unternehmen extrem schwerwiegende oder schwerwiegende Auswirkungen hat. Knapp die Hälfte der Befragten gab sich in dieser Frage neutral. Nur 15 Prozent sind der Ansicht, dass die Digitalisierung auf ihre Firma keine Auswirkungen hat. Immerhin: Rund zwei Drittel der Befragten halten ihr Unternehmen aktuell für fähig, die Herausforderungen durch die Digitalisierung erfolgreich zu meistern.

Ressourcenmangel als grösster Bremsklotz

Was ist mit jenen, die sich diesbezüglich weniger optimistisch zeigen? Gemäss den Umfrageergebnissen gehört für sie der Mangel an personellen Ressourcen sowie internem Know-how zu den grössten Hürden. Auf dem Weg in die digitale Zukunft werden sie ausserdem durch eine fehlende Bereitschaft zur Veränderung und zum Kulturwandel ausgebremst. Mancherorts scheinen auch andere Projekte wichtiger zu sein. Und nicht wenige der Befragten gaben an, dass es bei ihnen an digitaler Kompetenz in der Geschäftsleitung sowie auch an einer durchgängigen Strategie mangelt.
Die Gesamtheit der Teilnehmenden wurde ausserdem befragt, welche für sie die drei grössten IT-Herausforderungen bei der Umsetzung von Digitalisierungsinitiativen sind. Als grösste Hürden kristallisierten sich hier die Gewährleistung der IT-Sicherheit, eine hohe existierende oder befürchtete Komplexität sowie auch der Mangel an IT-Personal heraus.
Was also tun, wenn es beispielsweise an den nötigen Arbeitskräften fehlt, um die anstehenden Digitalisierungsprojekte voranzubringen und umzusetzen? Die grösste Tranche der Antwortgebenden (40 %) setzt auf die Unterstützung von IT-Dienstleistern. Knapp ein Fünftel zieht Business-Beratungen oder Consultants hinzu.

Vielversprechende Ökosysteme

Hauptgründe für die Kooperation mit Jungunternehmen
Quelle: ICT Analytics
Eine andere Variante: auf Start-ups setzen. Im Rahmen unserer im Frühjahr publizierten Swiss-IT-Studie befragten wir Schweizer IT-Entscheider, ob ihr Unternehmen bereits mit Jungunternehmen zusammenarbeitet. Das trifft vorerst auf ein Drittel unseres Panels zu. Die Mehrheit setzt nach wie vor auf etabliertere Geschäftspartner. Für jene, die bereits Kontakte zur Start-up-Welt geknüpft haben, liegen die Vorteile auf der Hand: Sie entschieden sich hauptsächlich dafür, um die eigene Innovationsfähigkeit zu steigern, die Digitalisierung voranzutreiben, Zugang zu neuen Technologien zu erhalten oder um eigene Produkte sowie Dienstleistungen weiterzuentwickeln.
Vor allem grössere Unternehmen und Konzerne haben sich in den vergangenen Jahren verstärkt mit Jungunternehmen, insbesondere mit deren Finanzierungsfragen, auseinandergesetzt und die Kooperationen institutionalisiert. Teilweise sind dabei ganze Ökosysteme entstanden – wie zum Beispiel der Technologieinkubator F10 der Börsen­betreiberin SIX oder der Insurtech-Hub House of Insurtech Switzerland des Versicherungskonzerns Generali. Dass sich die Zusammenarbeit zwischen innovativen Start-ups aber auch für regional ausgerichtete Unternehmen lohnt, zeigt die Hypothekarbank «Hypi» Lenzburg exemplarisch. 

Unterschiedliche Ansätze

Laut CEO Marianne Wildi pflegt die Hypi solche Partnerschaften auf unterschiedliche Art und Weise. Einerseits hat sie mit der Berner Kantonalbank eine gemeinsame Tochtergesellschaft gegründet: die Innofactory. Für diese wurde eine virtuelle Bank mit einer offenen Umgebung und einem Kernbankensystem in der Cloud bereitgestellt. «Wenn Fintechs mit einem spannenden Tool zu uns kommen, können sie dieses dort spielerisch ausprobieren, ohne dass gleich mit Kundendaten der echten Bank herumhantiert wird», sagt Wildi.
“Beim Innovieren geht es nicht darum, das neue Einhorn zu finden, sondern darum, mit möglichst wenig Aufwand viel auszuprobieren„
Marianne Wildi, Hypothekarbank Lenzburg
Denn ihr zufolge geht es darum, möglichst schnell zu einem Proof of Concept oder einem MVP (Minimum Viable Product) zu kommen und zu schauen, ob eine Idee taugt oder nicht. «Beim Innovieren geht es nicht darum, das nächste Einhorn zu entdecken, sondern darum, mit möglichst geringem Aufwand viel auszuprobieren.» Umgesetzt wurde dies beispielsweise mit Projekten wie der Mixed-Reality-Lösung Lusee.
Beteiligt ist die Hypi auch am Swiss Immo Lab, zusammen mit Avobis, der Gebäudeversicherung Bern und der Berner Kantonalbank. Das Konsortium bildete einen Fonds, um Early-Stage-Start-ups im Immobilienbereich zu fördern.

Kein Tüfteln im stillen Kämmerlein

Engagiert als CEO im Hypi-eigenen Tech-Start-up Lusee ist Andreas Kunzmann. Ihm zufolge seien gerade bei der Innofactory anfangs insbesondere andere Finanz­institute zur Mitarbeit eingeladen worden. Und auch das Swiss Immo Lab ist derzeit noch offen für neue Partner.
Je nach Bank sei man da aber auf Widerstand gestossen. Denn wenn gemeinsam Ideen entwickelt werden, sind am Ende alle gleich, so die Befürchtung. Kunzmann sieht das anders: «Letztlich machen sowieso die Implementation und die Menschen den Unterschied. Es geht doch darum, dass die Bankenwelt grundsätzlich innovativer wird, weil nun neue Player ins Spiel kommen.» Gemeint sind Neobanken, die Services für Endkunden anbieten, die bislang von den traditionellen Finanzhäusern erbracht wurden. «Dafür müssen wir uns mit neuen, innovativen Ideen wappnen. Und das gelingt am besten, wenn mehrere Banken zusammenarbeiten», zeigt sich Kunzmann überzeugt.
Bei der Hypi erkannte man aber auch die Chance, ein neues Geschäfts­modell aufzubauen. So wurde die Regionalbank etwa für Fintechs, die einen Dienst anbieten wollen, für den eine Banklizenz nötig ist, zum Serviceprovider. Bekanntes Beispiel: die Smartphone-App Neon. Es gehe also in der Zusammenarbeit mit Start-ups auch darum, in neue Geschäfts­felder vorzustossen, sagt Kunzmann.
“Wir dürfen uns nicht auf den Lorbeeren ausruhen, sondern müssen laufend in die Zukunft schauen„
Andreas Kunzmann, Hypothekarbank Lenzburg
Denn das Problem sei bekannt: negativer Zins, immer dünnere Zinsmargen auf den Hypothekengeschäften etc. Das klassische Bankgeschäft ist unter Druck. Darum halte die Hypi – parallel zum klassischen Geschäft, das nach wie vor der Hauptträger sei – nach möglichen neuen Tätigkeitsfeldern Ausschau. «Wir dürfen uns schliesslich nicht auf den Lorbeeren ausruhen, sondern müssen laufend in die Zukunft schauen», so Kunzmann in seiner zweiten Rolle als Hypi-Verwaltungsrat.

Ohne Aufträge keine Überlebenschance

Auf der anderen Seite stehen die Jungunternehmen, die besonders auf das Geld der «Old Economy» angewiesen sind. Naturgemäss entstehen Start-ups aus Ideen und Potenzialen. Wer mit seinem Jungunternehmen keine Probleme löst oder neue Bedürfnisse schafft, der wird am Markt nicht lange überleben. Doch aller Anfang ist schwer, auch mit guten Geschäftsmodellen.
Beim Start-up Timly verfolgte man deshalb von Anfang an das Ziel, die Software möglichst nah an den Problemen der Kunden zu entwickeln. «Da wir als Personalmanagement-Tool für Bauunternehmen gestartet sind, war es wichtig, in der Findungsphase einen Partner aus der Bauindustrie zu haben. So sind wir mit der Lang-Gruppe aus dem deutschen Bodenheim in Kontakt getreten, mit der wir uns über konkrete Probleme in den Alltagsprozessen austauschen konnten», berichtet Johannes Pfeiffer, der bei Timly das Marketing verant­-wortet und zuvor in Berlin selbst Firmen gründete. So sei aus dem initialen cloudbasierten Dokumentationsansatz für Arbeitskräfte-Qualifizierungen und -Zertifizierungen schnell eine holistische Lösung für die Werkzeug- und Geräteverwaltung von Bauunternehmen geworden.
“Sobald wir die ersten grossen Namen als Kunden gewonnen hatten, wurde vieles einfacher„
Johannes Pfeiffer, Timly
Trotzdem sei es zu Beginn für das Start-up schwer ge­wesen, Kunden innerhalb von 30 Sekunden am Telefon für eine neue Software zu begeistern, von der sie noch nie gehört haben, sagt Pfeiffer. Cold-Calls und E-Mails hätten dabei auch nur bedingt weitergeholfen. «Viele Unternehmen verstehen nicht mal, dass sie ein Problem haben.» Timly sei dann insbesondere durch das eigene Netzwerk und Weiterempfehlungen stetig gewachsen. «Sobald wir die ersten grossen Namen als Kunden gewonnen hatten, wurde vieles einfacher», so Pfeiffer.
Für den Marketingchef und Gründer steht deshalb ausser Frage, dass – besonders im B2B-Bereich – ein klarer Mehrwert für die Kunden geschaffen werden muss, um Aufträge an Land zu ziehen. «Spart der Kunde am Ende des Tages nachweislich Zeit und Geld, dann ist es schwer für ihn, Nein zu sagen», zeigt sich Pfeiffer überzeugt. Gerade hierbei würden Start-ups oftmals scheitern, da sie entweder keinen klaren Use Case schaffen oder der Mehrwert nicht konkret spürbar ist, fügt er hinzu.

Die typischen Vorbehalte

Dass auch bei unserer Umfrage nach wie vor zwei Drittel der Teilnehmenden angaben, nicht auf Kooperationen mit Start-ups zu setzen, offenbart eine gewisse Zurückhaltung. Nicht selten halten typische Vorbehalte Unternehmen davon ab, erste Annäherungsversuche zu starten. Diese versuchte Sandra Tobler, Mitgründerin und CEO des Cybersecurity-Start-ups Futurae, kürzlich an einem Event der Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften SATW zum Thema «Stärkung der Cyber-Souveränität durch Schweizer Start-ups» zu widerlegen.
Sie widmete sich zuerst der Frage, ob es Start-ups auch wirklich schaffen, pünktlich zu liefern, ohne den Budget­rahmen zu sprengen. Hier argumentierte die Gründerin, dass grundsätzlich viele IT-Projekte scheitern würden. «Ist es also wahrscheinlicher, dass ein Start-up gleich zu Beginn ein Projekt in den Sand setzt?», fragte sie und entgegnete, «wohl kaum.» Denn besonders in der Anfangsphase würden Start-ups nur über limitierte Ressourcen verfügen. Die Projekte, die sie angehen, müssen also sitzen.
Auch die Befürchtung, dass die Jungunternehmen die ersten fünf Jahre nicht überleben, stelle sich häufig als falsch heraus. Zu­mindest bei Ausgründungen der ETH Zürich sind es ganze 92,9 Prozent, welche die magische Grenze von fünf Jahren überdauerten. Das zeigte die letzte Performance-Studie zu ETH-Spin-offs. Tobler gibt hier zu bedenken, dass von Zeit zu Zeit auch grosse Tech-Firmen Produkte einstellen.

Newcomer statt Grosskonzerne

Apropos Tech-Riesen: Warum denn nicht gleich mit denen zusammenarbeiten statt mit Jungunternehmen? Darauf antwortete die Futurae-Chefin, dass – insbesondere im Cybersecurity-Bereich – das spannendste Know-how bei Start-ups zu finden sei. «Diese Leute sind Spezialisten und regelrecht davon besessen, ein bestimmtes Problem zu lösen.» Hier sieht sie jedoch noch einen weiteren Vorteil. Geht eine Jungfirma, mit der zusammengearbeitet wurde, aus irgendeinem Grund Konkurs, dann bestehe vielleicht sogar die Möglichkeit, Talente zu übernehmen, sagt Tobler.
“Wenn die zuständigen Mitarbeitenden das Unternehmen verlassen, bleibt man auf Legacy-Produkten sitzen, mit denen niemand etwas anzufangen weiss„
Sandra Tobler, Futurae
Wenig Verständnis hat sie schliesslich für jene, die alles selbst machen wollen. «Es ist illusorisch zu glauben, dass man etwas Funktionierendes bauen und dann ein Häkchen hinter das Projekt setzen kann.» Besonders im Feld der Cybersicherheit, das sich dermassen schnell weiterentwickle. Ein Risiko sieht sie auch im Verlust des Know-hows. «Wenn die zuständigen Mitarbeitenden das Unternehmen verlassen, bleibt man auf Legacy-Produkten sitzen, mit denen niemand etwas anzufangen weiss», argumentiert Tobler.

Scouting im Inland

Wer also auf der Suche nach agilen, innovativen und engagierten Partnern ist, der wird nicht nur bei reiferen IT-Dienstleistern fündig. Und die gängigen Start-up-Mythen scheinen sich meist auch nicht zu bewahrheiten. Tobler von Futurae weibelte ausserdem dafür, dass sich Schweizer Unternehmen, die auf der Suche nach den neusten Technologien sind, nicht nur in der Bay Area oder anderswo im Ausland umschauen sollten, sondern auch im Inland. «Alles, was aus Stanford kommt, wird beachtet und jeder ist stolz darauf, schon früh mit diesen Unternehmen arbeiten zu können», sagt sie. «Sowas gibt es bei uns nicht.»
Wer weiss? Vielleicht können auch die vielen innovativen Schweizer KMU dabei helfen, dass Start-ups hierzulande auf dem Markt schneller Fuss fassen. Für Jungunternehmen könnten sie nicht nur Kunden, sondern auch Lieferanten oder Entwicklungspartner sein. Denn der Wettbewerbs- und Innovationsdruck besteht bei Mittelständlern ebenfalls, wie Pfeiffer von Timly bemerkt. Auch sie müssten nach neuen Wegen suchen, um zu wachsen, sich Marktanteile zu sichern und Kosten zu senken. Man dürfe dabei nicht vergessen: Beinahe jedes etablierte Unternehmen sei einmal ein Start-up gewesen. Die Schwierigkeit liege für sie nun darin, diese Mentalität und flache Hierarchien beizubehalten, um dynamisch zu bleiben. «Es ergibt daher Sinn, dass mittelständische Unternehmen einen Draht zur Start-up-Szene hegen», sagt der Marketingchef. «Denn wer nicht dynamisch bleibt, der wird am Markt schnell gefressen.»
Jedenfalls zeigt unsere «Focus by ICT Analytics»-Studie, dass sich die Zusammenarbeit mit Start-ups für viele Firmen gelohnt hat. Für mehr als zwei Drittel von ihnen ist die weitere Zusammenarbeit mit den Newcomern in Zukunft entweder wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich.



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