CIO-Interview 21.07.2017, 10:45 Uhr

«Dass es nicht einfach und auch stressig ist, gehört zum Job»

Die IT der Schweizerischen Arbeitslosenkasse hat vor allem mit gescheiterten Projekten und einem Korruptionsfall Schlagzeilen gemacht. Christian Hürlimann, seit bald zwei Jahren CIO, erklärt, wie er das havarierte Schiff wieder hochseetauglich machen will.
Christian Hürlimann ist seit 2015 CIO im Bereich Arbeitsmarkt/Arbeitslosenversicherung des SECO
(Quelle: Markus Senn)
Computerworld: Als Sie bei der Arbeitslosenversicherung als CIO eingestiegen sind, muss sich das doch so ähnlich angefühlt haben, wie wenn Sie vom Kapitän der Costa Concordia das Ruder hätten übernehmen müssen?
Christian Hürlimann: Nein, im Gegenteil. Für mich war die Situation sehr angenehm. Nach dem Korruptionsfall im Jahr 2014 war intern die Verunsicherung allerdings erst sehr gross. Wie Sie wissen, wurde ein Ressortleiter aus seiner Funktion enthoben und der CEO trat in den Ausstand. Schwierig war die Situation vor allem, weil man zunächst nicht wusste, mit wem noch legal geschäftet wurde und mit wem nicht. Mein Vorgänger hielt den Betrieb mit seiner Mannschaft für unsere 6000 User im Anschluss jedoch stets aufrecht. In Anbetracht der Umstände war das eine absolute Top-Leistung.
CW: Welche Situation haben Sie vorgefunden?
Hürlimann: Rückblickend hatten und haben wir einen Projekt- und Entwicklungsstau. Der Change-Teil der IT stand nach diesem Vorfall praktisch still. In der Informatikabteilung machte man das Minimum und setzte den Schwerpunkt darauf, den Betrieb am Leben zu erhalten.
CW: Wie ist dann Ihr Amtsantritt verlaufen?
Hürlimann: Sehr komfortabel. Dank des externen CIOs, der die Abteilung vor mir ad interim während rund neun Monaten geleitet hatte, war die Situation deutlich ruhiger als zuvor. Wir hatten danach eine gemeinsame Übergangszeit und nach einem Monat konnte ich das Schiff von meinem Vorgänger übernehmen. Zwei Monate lang war er noch in einem reduzierten Pensum verfügbar und führte etwa die Mitarbeitergespräche, weil ich das Team zu diesem Zeitpunkt schlichtweg noch nicht gut genug kannte.
CW: In welchen Bereichen wurden Sie da am meisten gefordert?
Hürlimann: Die grosse Herausforderung war zu definieren, wo die Reise hinführt, den Kurs anzupassen und sicher­zustellen, dass das Schiff Fahrt aufnimmt. Sehr positiv fand ich dabei, dass alle sehnsüchtig auf jemanden gewartet haben, der mit ihnen eine richtige Vision entwickelt und die Projekte angeht, auf welche die Anwender schon lange gewartet haben.
CW: Sind Sie also geholt worden, um zu reorganisieren und zu restrukturieren?
Hürlimann: Nein, eine Reorganisation wurde bereits 2014 angedacht und konzeptioniert. Auf Anfang März 2015 ging diese live und wurde umgesetzt – etwa zu dieser Zeit wurde meine Stelle ausgeschrieben.
CW: Wie hat Ihr Team Ihre Pläne aufgenommen?
Hürlimann: Die Stimmung war zu meinem Erstaunen überwiegend positiv. Beim Reorganisieren teilt sich die Belegschaft ja meistens in drei Gruppen auf: die Stoischen, die Begeisterten und die weniger Begeisterten. Das ist verständlich. Nicht jeder, der zehn Jahre lang in derselben Organisation unterwegs war, tut sich mit Veränderungen leicht. Die grösste Herausforderung war deshalb, die ein­geprägte Kultur zu verändern. In der alten Organisationgehörte die IT zu einem grossen Teil zu den jeweiligen Business-Einheiten. Entsprechend gross waren die Freiheitsgrade in den verschiedenen IT-Domänen. Sie waren für die Beschaffung, den Einkauf oder auch das Architektur­management selbst verantwortlich. Es fehlte an Standardisierung und an einer übergeordneten Struktur. Jetzt bauen wir eine Governance auf und führen ein IT-Sicherheitskonzept ein. Einerseits begrüsst man das, weil nun Unterstützung vorhanden ist, andererseits tauchen natürlich auch Fragen auf, weil man die Entscheidungen nachvollziehen will und bisherige Freiheitsgrade reduziert werden.

Der Gang durch das «Tal der Tränen»

CW: Inwiefern haben Ihnen da die Erfahrungen aus der Privatwirtschaft genützt?
Hürlimann: Es geht dabei gar nicht unbedingt um den Unterschied zwischen Bund und Privatwirtschaft – dieser Vergleich wird aus meiner Sicht sowieso etwas überstrapaziert. Entscheidend ist vielmehr die Unternehmensgrösse. Ab­gesehen davon läuft eine Restrukturierung, etwa bei einem börsenkotierten Unternehmen, nach genau dem gleichen Zyklus ab. Im Zuge des Veränderungsprozesses muss man erst einmal durch das «Tal der Tränen», dann geht es aufwärts. Das versuchte ich meinen Mitarbeitern während dieser Zeit stets weiterzugeben. Einige Angestellte finden dabei schneller wieder den Tritt, bei anderen dauert es etwas länger. Da liegt es dann an mir, etwas nachzuhelfen. Aber das gehört dazu.
Vor seinem Wechsel zum SECO war Hürlimann bei der BKW Energie tätig
Quelle: Markus Senn
CW: Mal abgesehen von der Reorganisation, gibt es dennoch Unterschiede zwischen Privatwirtschaft und Bund? Gerade in Bezug auf die Beschaffung werden Sie wohl nicht dieselben Freiheiten haben.
Hürlimann: Da ist die Arbeitslosenversicherung, als nationale Monopolversicherung, ein Spezialfall. Wir führen eine eigene Rechnung für die gesamte schweizweite Versicherung, haben aber keine Rechtspersönlichkeit. Darum sind wir organisatorisch beim Staatssekretariat für Wirtschaft angegliedert. Geführt werden wir hingegen nicht vom Bund, sondern von einer ausserparlamentarischen Aufsichtskommission – vergleichbar mit einem Verwaltungsrat –, die uns das Budget und die strategische Ausrichtung vorgibt.
CW: Sie können aber selber entscheiden, wie und wo Sie Geld ausgeben wollen?
Hürlimann: Weil wir öffentliche Gelder ausgeben, unterliegen wir immer noch den Vorgaben des öffentlichen Beschaffungswesens. Und mein Chef hinterfragt die geplanten Ausgaben in meinem Bereich jeweils sehr kritisch, da haben wir aus der Vergangenheit gelernt. Mein Budget und einzelne Projekte werden ansonsten von der Aufsichts­kommission freigegeben.
CW: Wie sieht es mit der Projektfinanzierung aus?
Hürlimann: Projektgeschäfte laufen alle über die Aufsichtskommission. Bevor ein Projekt realisiert wird, muss die Aufsichtskommission ihre Freigabe erteilen. Für die Mitarbeiter ist das neu. Ich finde es wichtig, dass die strategischen Stakeholder wissen, wofür Geld ausgegeben wird. Unser Gesamtbudget in der Informatik beträgt schliesslich rund 45 Millionen Franken. Dafür müssen ein paar Zehntausend Arbeitnehmer arbeiten gehen, um das mit ihren Lohnprozenten zu finanzieren. Ich will ihnen am Ende in die Augen schauen und sagen können, dass wir ihre Beiträge sinnvoll und wirtschaftlich einsetzen.
CW: Experimentieren können Sie aber wahrscheinlich nicht. Ein privates Unternehmen gliedert eine kleine Truppe aus oder investiert in Start-ups und schreibt ab, falls etwas schiefgeht. Bei Ihnen wäre das schwierig.
Hürlimann: Das ist auch nicht unbedingt unsere Aufgabe, weil wir uns nicht in einem Konkurrenzmarkt bewegen. Deshalb hat bei uns beispielsweise auch die bi-modale IT einen tieferen Stellenwert als bei einer Firma, die konkrete Services entwickeln will. Wir dürfen private Anbieter, etwa bei der Stellenvermittlung, nicht konkurrenzieren. In un­serem neuen strategischen Auftrag haben wir allerdings integriert, dass wir künftig nicht nur interner Dienstleister sein wollen, sondern zum Mitgestalter werden, der das Gesamtsystem, etwa auf Prozessebene, effizienter macht. Man erwartet von uns nicht, dass wir die Arbeitspolitik bestimmen, aber, dass wir uns überlegen, wie wir innovativer werden und damit die Arbeitsvermittlung und Arbeits­losenversicherung effizienter weiterentwickeln können.
CW: Inwiefern?
Hürlimann: Priorität haben bei uns aktuell die Erneuerung des Auszahlungssystems, der Ausbau der eGovernment-Services und ein weiteres Grosssystem, bei dem techno­logischer Erneuerungsbedarf besteht. Im Bereich des eGovernments haben die Services oberste Priorität, die zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative und des Inländer-Arbeitslosenvorrangs nötig sein werden. Zurzeit wird die Verordnung ausgearbeitet, Anfang 2018 wird der Bundesrat diese in Kraft setzen – da müssen wir liefern können. Auch in Bezug auf die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ist es absolut essenziell, dass wir uns Lösungen überlegen, wie wir die Jungen besser ansprechen und motivieren können. Aber auch das steht vor dem Hintergrund eines sinnvollen Einsatzes unserer Mittel.

Das Projekt «ASAL futur»

CW: Ein Millionenprojekt, von dem man in der Vergangenheit auch immer wieder zu hören bekam, war die Er­neuerung des besagten Auszahlungssystems ASAL. 2015 wurde das sogenannte «ASAL neu» abgebrochen, nun folgt «ASAL futur». Was machen Sie diesmal anders?
Hürlimann: Wir haben die Lehren aus «ASAL neu» gezogen und darauf geachtet, dass wir u. a. das gesamte Projekt­management grundsätzlich anders und besser aufsetzen.
CW: Was waren denn die Key-Learnings aus dem ab­gebrochenen Projekt?
Hürlimann: Die Projektsteuerung war sicherlich unterdurchschnittlich ausgeprägt. Wir hatten heute schon mehr Meetings mit dem Projektausschuss, als während der gesamten Projektdauer von «ASAL neu» zusammengezählt. Wichtig ist auch, dass diesmal alle Stakeholder von Beginn an miteinbezogen werden. Wir haben ein Team aus Mitarbeitenden der diversen Arbeitslosenkassen, das teils vier Tage in der Woche bei uns ist und Requirements aufnimmt sowie Lösungen diskutiert. Dieser Einbezug ist absolut zent­ral. Auch war man aus Ressourcensicht aufseiten des Auftraggebers unterausstaffiert – sowohl in Bezug auf Menge als auch auf Kapabilität. Schlussendlich wurde dem Projekt viel zu wenig Stellenwert beigemessen und die Planung war eine Schönwetterplanung.
CW: Konnte man da im Projektmanagement nicht mit agilen Methoden vorgängig eruieren, ob das Projekt irgendwo ins Stocken kommen könnte?
Hürlimann: Man merkte relativ schnell, wo es klemmte. Aber die Projektsteuerung war beim Ausschuss einfach zu wenig etabliert. Dann fiel das Projekt ausgerechnet noch in die Übergangszeit nach dem Korruptionsfall. Alles in allem haben die Probleme im Projekt auch mit einer Ver­kettung unglücklicher Umstände zu tun.
CW: Wie haben Sie die Erkenntnisse aus dem gescheiterten Projekt nun umgesetzt?
Hürlimann: Mindestens alle zwei Monate veranstalten wir in Bern einen Ausschuss, an dem wir informieren und kritische Themen besprechen. Da sind ausser mir jeweils der CEO, die Projektleitung und Kassenleiter aus der ganzen Schweiz anwesend. Auch haben wir die nötigen Ressourcen überschlagen und uns überlegt, welche Rollen wir unbedingt mit internen Personen besetzen müssen und welche nicht. Dafür haben wir sechs befristete Stellen geschaffen und sind nun daran, Leute zu rekrutieren – dazu ge­hören etwa die zuständigen Personen für die Einführung und Migration oder das Testing. Das Projekt wird zudem mit Personen angepackt, die bereits an einer vergleichbaren Aufgabe mitgearbeitet haben. Jetzt ist nicht mehr der Zeitpunkt, um Lehrgeld zu bezahlen.
CW: Wie überzeugen Sie potenzielle neue Mitarbeiter, ausgerechnet bei Ihnen mitzuarbeiten?
Hürlimann: In der Karriere eines IT-Menschen gibt es wohl nicht allzu viele Möglichkeiten, um sich an Projekten dieser Grössenordnung zu beteiligen. Hinzu kommt ein Umfeld, wo man – aus IT-Sicht – relativ viel auf der grünen Wiese aufbauen kann. Das ist schon fast eine einmalige Chance. Und schliesslich dient es auch noch einem guten Zweck. Man leistet damit einen gesellschaftlichen Beitrag. Mich zumindest spornt das zusätzlich an.
Zur Person
Christian Hürlimann
kann in der IT auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Nach dem BWL-Studium an der Universität Bern startete er als Junior Projektleiter bei der Bedag Informatik AG und stieg bis zum Leiter des Geschäftsfelds Synergie­lösungen auf. Nach knapp elf Dienstjahren wechselte Hürlimann 2006 zur BKW Energie AG. Dort war er zuletzt stellvertretender CIO und Leiter des Solution Centers «Application Landscape Optimization». Seit Oktober 2015 ist er CIO/Leiter Informatik beim SECO für den Bereich Arbeitsmarkt/Arbeitslosenversicherung und Mitglied der Geschäftsleitung der Ausgleichsstelle der ALV.


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