29.12.2011, 07:08 Uhr

ERP als Gruppentherapie

Gegen manches IT-Leiden hilft oft nur eine Gruppentherapie – insbesondere dann, wenn sich ein Unternehmen alleine die Medizin nicht leisten kann. Dass und wie das funktioniert, zeigen drei Beispiele aus der Praxis.
ERP im Warenlager: weniger Kapital lagern, mehr Waren umschlagen
Wenn sich ehemalige Wettbewerber zusammentun, um eine ERP-Lösung gemeinsam zu nutzen, muss der Leidensdruck schon beträchtlich sein. Noch grösser und im Endergebnis fatal wäre der Schmerz allerdings, wenn ein KMU – nur, weil es sich kein professionelles IT-System leisten kann – gegenüber den Branchenriesen nicht bestehen könnte. Im Unternehmensverbund wird jedoch möglich, was einzelne KMU finanziell und vom Aufwand her überfordern würde. Die HUG Baustoffe AG aus Nänikon im Kanton Zürich beispielsweise kooperiert mit drei anderen Unternehmen aus derselben Branche. Die gemeinsame ERP-Software läuft auf dem hauseigenen Rechenzentrum, die Partner greifen mit all ihren Niederlassungen via Stand­leitung und Terminalserver darauf zu. Seit dem ungewöhnlichen IT-Zusammenschluss dürfte sich der Blutdruck bei den Finanzverantwort­lichen zum Positiven entwickelt haben, denn der Total Cost of Ownership (TCO) sank für alle Beteiligten erheblich, und auch das Projekt­risiko der IT-Einführung war deutlich geringer. Ein interessanter Aspekt dieser Art von Gruppenarbeit ist die Kooperation bei den Produkt- und Preislistendaten, da der Produktstamm bei den vier Baustoffhändlern identisch ist. Die Mitarbeiter der HUG Baustoffe haben inzwischen so viel Erfahrung in der Aufbereitung umfangreicher Artikeldaten, dass sie sogar dem Verband des Schweizerischen Baumaterial-Handels (VSBH) ihre Produktdaten zur Verfügung stellen können. Die beispielhafte Zusammenarbeit lässt andere Einzelkämpferunternehmen aus der Branche aufhorchen. Es besteht lebhaftes Interesse, das IT-Gruppenerlebnis zu teilen. Dominik Rieder, CFO bei HUG, bekommt immer wieder entsprechende Anfragen und denkt über erweiterte Gruppenlösungen nach: «Gut möglich, dass wir beim Eintritt weiterer Partner in die Kooperation zukünftig ein externes Rechenzentrum als Outsourcing-Partner in Anspruch nehmen», meint er. Im Moment nutzen über 200 Anwender an 13 Stand­orten die gemeinsame ERP-Software. Neben der HUG Baustoffe AG sind noch die Baumat AG, die KohlerSabag AG und die HUG Baukeramik AG an den Verbund angeschlossen. Auf die eigenen Kundendaten haben selbstverständlich nur die jeweiligen Firmen Zugriff. Nächste Seite: Vorteile für Grossgruppen Vorteile für Grossgruppen Mit der Idee, die ERP-Software gemeinsam zu nutzen, steht die Baustoffbranche aber nicht alleine da. Für die Otto Bechem & Co. KG, ein Grosshandelsunternehmen der Sanitär-, Heizungs- und Klimabranche (SHK), war diese «Gruppentherapie» der schnellste und sicherste Weg zum Erfolg: «Das neue IT-System wird erst durch die Kooperation bezahlbar», sagt Bechem-Geschäftsführer Hans Jüde. «Schon die Pflichtenhefterstellung und das Auswahlverfahren hätten einzeln agierende KMU überfordert», ist er überzeugt. Das Unternehmen mit Hauptsitz in Essen ist gerade einer recht imposanten ERP-Partnerschaft beigetreten: In Deutschland haben sich drei Unternehmensverbünde aus der SHK-Branche mit sechs, acht und elf Mitgliedsfirmen zusammengetan, um eine ERP-Software zu implementieren, die perfekt zu ihren spezifischen Anforderungen passt. Wenn das Projekt abgeschlossen sein wird, werden in den 25 Grosshandelsunternehmen rund 2500 Anwender mit derselben ERP-Branchenlösung arbeiten. Besonders reizvoll am neu gewonnenen Gruppen­feeling ist auch hier die Vernetzung der Lager der beteiligten Firmen, denn die Artikelvielfalt in der Haustechnik erfordert eine besonders intelligente Logistik. Sogar Zentral- und Verbandslager sollen noch angebunden werden. Die Erweiterung der Lieferfähigkeit wird sicher nicht nur die ERP-Grossgruppe stärken, sondern auch neue Kundengruppen erschlies­sen. Für sichere Margen bei den SHK-Kooperationspartnern sorgen in der ERP-Software ein ausgefeiltes Preissystem mit Rabattleisten und Nettopreislisten sowie eine mehrstufige Einkaufskalkulation mit Berechtigungssystem. Nächste Seite: ERP verbessert die Zirkulation ERP verbessert die Zirkulation Synergieeffekte wie diese machen sich in der Logistikbranche, die von der Effizienz der Abläufe lebt, ganz besonders bezahlt. Einem echten Vollblutlogistiker bricht jedes Mal das Herz, wenn er einen LKW auf Leerfahrt schicken muss. So geschehen beim Stahlhandelsunternehmen Roland Stahl aus Bremen, das bisher versuchte, seine Fahrzeuge mithilfe von Excel-Listen bestmöglich auszulasten. Seitdem der Stahlhändler – gemeinsam mit zwei anderen Tochterunternehmen derselben Firmenmutter – eine voll integrierte ERP-Software nutzt, zu der auch eine Tourenplanung gehört, gelingt der Versuch fast immer, auch beim internen Werksverkehr. Mindestens einmal pro Woche wird neues Material aus der Produktion des Mutterunternehmens Andernach & Bleck in Hagen abgeholt. Jetzt kann Roland Stahl auch die bisher leeren Hinfahrten zum Material­transport nutzen. Für die ERP-Kooperation, zu der auch noch August Schmidt in Pulheim bei Köln und Heine & Bleck in Hermsdorf bei Leipzig gehören, ergeben sich für den Warenaustausch untereinander erfreuliche Gruppeneffekte: Die drei Partner können jetzt mit ihren wöchentlichen LKW-Fahrten zur Produktion auch Nachfragespitzen der Partnerunternehmen ausgleichen. Jede Firma hat zwischen 3000 und 4000 Tonnen Stahl auf Lager. Im ERP-Verbund können diese Waren besser zirkulieren. Bereits vor der gemeinsamen ERP-Einführung haben die drei Firmen ihre bevorstehende Gruppenbildung zum Anlass genommen, ihre unterschiedlichen, historisch gewachsenen Prozesse zu vereinheitlichen. Key User aus allen drei Firmen haben beispielsweise ein einheit­liches Artikelnummernsystem definiert, um später konsistente Auswertungen und Vergleiche durchführen zu können. Neu-Entwicklungen für eine der drei Firmen können so auch bei den anderen schnell umgesetzt werden. Für das neue Hochregallager von August Schmidt entwickelte der Software-Hersteller zum Beispiel eine Schnittstelle für das Kasto-Hochregallager-System, die nun auch bei Roland Stahl in Bremen im Einsatz ist. Analyse-Tool Vitaminspritze fürs Lager Handelsunternehmen atmen mit ihrem Lager. Wenn der Warenzu- oder -abfluss ins Stocken gerät, bekommt der ganze Betrieb blaue Lippen. Deswegen steht die Lagerverwaltung des Unternehmens oft unter besonders inten­siver Beobachtung der Geschäftsleitung. Bei HUG war seit 2003 die ERP-Software SQL-Business, der Vorgänger von eNVenta ERP, im Einsatz. Damals lag der Wert des Lagerbestands bei 8 Mio. Franken. Doch inzwischen haben sich die Rahmenbedingungen entscheidend geändert: Das Handelsunternehmen macht heute 142 Mio. Franken Umsatz. Das entspricht einer Steigerung von über 40 Prozent innerhalb weniger Jahre. Ausserdem gibt es jetzt mit fünf Niederlassungen im Grossraum Zürich einen Standort mehr. Die Zeit war reif für eine neue Software-Lösung. So entwickelte der eNVenta-Partner leanux.ch, der die neue ERP-Software implementierte, gleich noch ein branchenspezifisches Lageranalyseverfahren. Da der Hersteller auf Wunsch auch die Entwicklungsumgebung Framework Studio mitliefert, mit der er die Business-Lösung ent­wickelt hat, sind Zusatzentwicklungen für Partner oder IT-Abteilungen recht einfach umzusetzen. Durch das neue Lageranalyseverfahren konnte die Beschaffung massiv optimiert und die Kapitalbindung im Lager um 30 Prozent gesenkt werden. Zum Autor: François Berger ist CEO der eNVenta ERP Schweiz AG   Harald Schodl


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