Best Practice 30.08.2021, 07:50 Uhr

BIM goes Augmented Reality

Das Building Information Modeling (BIM) spielt eine wichtige Rolle für den Bau. Die 3D-Daten des digitalen Zwillings lassen sich mit Augmented Reality auf der Baustelle visualisieren – bequem, überall und für alle.

3D-BIM-Modelle in der Realität erleben
(Quelle: Ergon)
Die Universitäre Altersmedizin Felix Platter ist das zweitgrösste Spital in Basel und ein wichtiges Zentrum der stationären und ambulanten Altersmedizin. Seit 2018 befindet es sich in einem neuen Gebäude, das auch in baulicher Hinsicht ein Alleinstellungsmerkmal hat: Es war eines der ersten Projekte in der Schweiz, bei dem das BIM konsequent eingesetzt worden ist. BIM ist ein digitales Modell, in dem alle Informationen zu einem Bauwerk hinterlegt sind. Die gesamte Kette aus Projektierung, Planung, Ausführung und Dokumentation spiegelt sich in diesem Modell wider. Damit existiert neben dem phy­sischen Gebäude ein digitaler Zwilling.
Die Methodik hat im Fall des Felix-Platter-Spitals «wesentlich dazu beigetragen, das Gebäude im geplanten Kosten- und Zeitrahmen mit nur vier Jahren Bauzeit fertigzustellen», so das Beratungs-, Planungs- und Projektmanagementunternehmen Drees & Sommer sowie die ausführenden Architekten wörner traxler richter mit Holzer Kobler Architekturen. Dank BIM lassen sich nicht nur sämtliche Subunternehmen in einem Bauwerk visualisieren, der Ansatz liefert auch Informationen zum Projektverlauf, zu den Kosten und zum jeweiligen Baufortschritt.

BIM als Game Changer

Das Potenzial von BIM ist enorm. Gerade in der Baubranche, gilt diese doch als vergleichsweise wenig digitalisiert. Der Ansatz wird sich weiter durchsetzen und zum Standard werden. Allerdings ist BIM bislang primär eine Lösung für das Büro – Architekt:innen und Bauingenieur:innen sind die unmittelbaren Nutzniesser:innen. Dagegen profitieren die Fachkräfte vor Ort auf der Baustelle, vor allem die ausführenden Subunternehmen, nicht von den digitalen 3D-Modellen. Denn diese erzeugen erhebliche Daten­mengen, für deren Verarbeitung und Visualisierung einiges an Rechenleistung erforderlich ist.
Dieser Medienbruch bringt Nachteile mit sich: Es gibt die Simulation im Büro und die Realität auf der Baustelle. Für einen schnellen Baufortschritt liegen die Zeitfenster für die Ausführung der verschiedenen Akteur:innen dicht an dicht. Natürlich verfügen die Subunternehmen über 2D-Pläne, um ihre Arbeiten ausführen zu können. Aber der Teufel steckt eben oft im Detail – und wenn dann notwendige Informationen vor Ort fehlen, schleichen sich rasch Fehler ein oder es kommt zu Verzögerungen. Eine Studie der ETH Zürich hat dokumentiert, dass allein die Bearbeitung von Baumängeln an Neubauten in der Schweiz jährlich 8 Prozent der Bauleistung – oder rund 1,6 Milliarden Franken an Kosten – verursacht.

AR unmittelbar auf der Baustelle

Um aber die volle Stärke des Datenmodells auf der Baustelle ausnutzen zu können – nämlich die Möglichkeit zum visuellen Abgleich des physischen Bauwerks mit seinem digitalen Zwilling –, kommt AR ins Spiel.
Digital auf der Baustelle: Branchenspezifische Kollaborationsplattformen sorgen für mehr Effizienz
Quelle: Ergon
Durch AR ist es möglich, den Fortschritt auf einer Baustelle unmittelbar mit den Vorgaben des 3D-Modells abzugleichen. Und dank BIM liegen die erforderlichen 3D-Daten auch bereits vor. Die visuelle Information macht Fehler leichter erkennbar. Ob eine Tür einen rechten oder linken Anschlag hat, kann man wortreich beschreiben – oder unmittelbar in einer AR-Visualisierung der betreffenden Tür optisch darstellen. Selbstverständlich müssen Baumängel weiterhin – allein schon aufgrund vertraglicher Vorgaben – schriftlich dokumentiert werden, aber die Zusatzinformation durch AR hilft dabei, Fehler effizienter zu bearbeiten. Für das Qualitäts- und Pendenzenmanagement gibt es branchenspezifische Kollaborationsplattformen. Durch solche Technologien lassen sich Pendenzen unmittelbar an den betroffenen Subunternehmer weiterleiten.
Doch AR bringt auch neue Herausforderungen mit sich. So haben heutige AR-Umgebungen oft noch den Charakter eines Prototyps, weil für ein zuverlässiges Funktionieren eine stark kontrollierte Umgebung erforderlich ist. Gerade die Baubranche benötigt aber robuste Anwendungen: Die dortigen Umgebungsbedingungen sind rau und können sich rasch verändern. Damit AR auf der Baustelle akzeptiert wird, muss eine solche Anwendung auch ohne grosse Vorbereitung ständig verfügbar sein und ein intuitives, vertrautes Bedienkonzept aufweisen. Eine AR-Brille etwa erfordert eine Gestensteuerung, welche die Nutzer:innen zunächst erlernen müssten. Zudem ist es recht unwahrscheinlich, dass sich in dieser kostenbewussten Branche AR-Brillen in absehbarer Zeit auf breiter Front in den Subunternehmen durchsetzen. AR-Brillen werden auf der Baustelle bis auf Weiteres bestimmten Nutzer:innengruppen vorbehalten bleiben, etwa der Bauaufsicht. Mehr nicht.

Beginn des Spatial Computing

Mit dem Smartphone jedoch hat heute quasi jede:r ein Endgerät in der Tasche, mit dem sich AR-Informationen darstellen lassen. Mehr noch – jede:r ist mit der Bedienung vertraut. Smartphones schaffen einen demokratischen Zugang zu BIM-Informationen. Es ist ein Schritt ins Spatial Computing: Die digitalen Inhalte stehen in Relation zum Raum und zu physischen Objekten. Dies ermöglicht innovative interaktive Bedienkonzepte, sodass neue Lösungen unmittelbar in den Alltag eingebunden sind.
Auf dem Weg der Umsetzung gibt es noch eine weitere Hürde zu nehmen. Eine solche App muss vor der Nutzung zwei Fragen beantworten können: Wo bin ich? Was sehe ich? Sonst lassen sich Augmented und Physical Reality nicht deckungsgleich darstellen. Auf einer Baustelle ist eine automatische Positionsbestimmung nicht trivial.
GPS-Signale lassen sich nicht zuverlässig empfangen, WLAN ist noch nicht verfügbar. Hier können Sensornetze helfen, bleiben aber aufwendig im Unterhalt und unbefriedigend in der Verlässlichkeit: Sie können umplatziert, beschädigt oder entwendet werden.
Vielversprechender sind Verfahren, die für eine Orts­bestimmung keine Infrastruktur benötigen. Aus mathematischer Sicht sind Raumecken hierfür ein wirkungsvoller Ansatz, denn sie bestimmen einen Punkt eindeutig durch den Schnitt dreier Ebenen – der Wände. Die AR-Anwender:innen müssen diesen Schnittpunkt nur noch zur eigenen Position im Raum in Bezug setzen: Markiert ein:e AR-Nutzer:in auf dem Touchscreen im 2D-Plan grob die derzeitige Position, so ist die App initialisiert. Solche Lokalisierungen sind heute innerhalb von 10 bis 15 Sekunden möglich. Die für die Baustelle erforderlichen BIM-Daten lädt sich der:die Nutzer:in zuvor im Büro aufs Smartphone. Vor Ort funktioniert die App dann offline.

Bau nur einer von vielen Use Cases

Bei Büroimmobilien oder bei Industriegebäuden ermöglicht AR, mit den 3D-Daten bereits die Innengestaltung zu visualisieren. In einem Bürogebäude lassen sich so zum Beispiel die Inneneinrichtung planen, wie Besprechungsräume und sogar Schreibtische angeordnet sind. Auch hier erleichtert der direkte Abgleich der digitalen Daten mit dem physischen Raum, frühzeitig zum Beispiel enge Durchgänge zu erkennen.
Noch deutlicher sind die Vorteile in einem Industrie­gebäude, denn dort sind Hochregale oder Maschinen meist nur unter extrem grossem Aufwand nachträglich zu verschieben. Durch die AR-Visualisierung fällt es deutlich leichter, bereits in der Entwurfsphase zu prüfen, wo es zum Beispiel zu Kollisionen kommen kann. Dann ist es noch kein Problem, etwa eine Wand leicht zu verschieben.
Die Möglichkeiten einer Kombination von BIM und AR enden nicht mit der Fertigstellung des Gebäudes, sondern erstrecken sich über dessen gesamten Lebenszyklus. So kann zum Beispiel das Facility Management davon profitieren. Muss in einem Supermarkt etwa ein Kühlregal gewartet werden, zeigen die BIM-Daten den Techniker:innen, wo die Anschlüsse liegen und wie die Zuleitungen verlaufen. Selbst eine Firma, die nicht am Bau beteiligt war, kann dadurch die Wartung übernehmen.
Auch der Fachbau profitiert, etwa im Bereich Heizung, Klima und Lüftung. Solche Anlagen liegen unter Putz, sind komplex und müssen jahrzehntelang funktionieren. Sie erfordern regelmässige Kontrollen. Anhand von Realdaten der Anlagen, die in grösseren Bauwerken kontinuierlich erfasst und gespeichert werden, lassen sich diese Kontrollen stärker visuell unterstützen, weil die Daten mittels AR leichter den einzelnen Komponenten der Anlage zuzuordnen sind. In Gebäuden der Retail-Branche zum Beispiel lässt sich mittels AR-Visualisierung auch überprüfen, ob bestimmte Vorgaben zu Feuerschutz und Fluchtwegen erfüllt sind. Ein Soll- Ist-Abgleich mit einer AR-App zeigt, wo kritische Stellen entstanden sind.
AR für BIM schafft neuen Mehrwert, der sich in Effi­zienz, Flexibilität, Kostenreduktion und Qualität niederschlägt. Bauteile und Komponenten werden identifizier- und referenzierbar im Kontext des physischen Raums: Die 3D-Daten ermöglichen nicht nur ein Architekturmodell, sondern die Bereitstellung von Informationen an dem Ort, an dem sie benötigt werden. Dieses Prinzip birgt grosses Potenzial. Kann es künftig Neubauprojekte geben ohne diese Technologien? Fast unvorstellbar.
Der Autor
Daniel Neubig
Ergon
Daniel Neubig ist Senior Software Engineer und AR Technical Lead bei Ergon Informatik. www.ergon.ch



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