Prof. Dr. Beatrice Paoli, FFHS
10.10.2025, 09:01 Uhr
Forschung duldet keine langen Pausen
Warum wagen so wenige Frauen den Schritt in die IT? Beatrice Paoli, Professorin für Data Science an der FFHS, erklärt, welche gesellschaftlichen Hürden bestehen – und warum flexible Modelle und neue Vorbilder entscheidend für den Wandel sind.
Beatrice Paoli kennt sich in «männerdominierten» Branchen aus. Sie hat Biophysik studiert, in Naturwissenschaften promoviert und arbeitet heute als Professorin für Data Science und Digitalisierung an der Fernfachhochschule Schweiz (FFHS). Hier sagt sie, was sich ändern müsste, damit mehr Frauen den Schritt in die IT wagen.
Computerworld (CW): Frau Paoli, Sie leiten das Laboratory for Web Science an der FFHS. Was genau umfasst dieses?
Beatrice Paoli: Wir sind eine Gruppe von Forschenden mit unterschiedlichen Ausprägungen im Bereich Data Science. Vereinfacht gesagt, zielt unsere Disziplin darauf ab, aus komplexen, oft unstrukturierten Daten verwertbare Informationen zu gewinnen und dadurch datengetriebene Entscheidungen zu ermöglichen – sei es durch prädiktive Modelle, explorative Analysen oder automatisierte Prozesse. Dabei betreiben wir keine Grundlagenforschung, sondern arbeiten sehr praxisorientiert. Das heisst, dass wir eine enge Zusammenarbeit mit der Industrie und unterschiedlichen Forschungspartnern anstreben, um gemeinsam Innovations- und Technologietransfer zu ermöglichen.
CW: Sind Sie als Leiterin ebenfalls in der Forschung tätig?
Paoli: Momentan arbeite ich tatsächlich weniger im technischen Bereich. Ich übernehme viele administrative Aufgaben und bin für die Akquise neuer Projekte zuständig. Als Fachbereichsleiterin bin ich auch in der Lehre tätig und verantwortlich für den Fachbereich Data Science in der Grund- und Weiterbildung. Unser Gebiet ändert sich sehr schnell und häufig. Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Angebote laufend anpassen und modernisieren.
“Es ist wichtig, dass wir uns als Gesellschaft von traditionellen Rollenbildern lösen und uns für moderne «Role Models» starkmachen.„
Beatrice Paoli
CW: Wie würden Sie Ihr aktuelles Arbeitsumfeld beschreiben?
Paoli: Wir sind ein kleines Team von sechs Personen: drei Frauen, drei Männer. Ich schätze sehr, dass wir uns persönlich gut kennen, uns vertrauen und uns gegenseitig unterstützen. Wenn jemand einmal nicht so viel leisten kann – aus welchem Grund auch immer –, übernehmen die anderen etwas mehr.
CW: Dass Ihr Team gleich viele Frauen wie Männer hat, ist in der Branche eher ungewöhnlich – oder täuscht dieser Eindruck?
Paoli: Nein, es ist tatsächlich so: Die Informatik ist männerdominiert. In den Klassen, die ich unterrichte, sitzen jeweils zehn bis zwölf Personen, davon höchstens eine Frau. Auch die Dozierenden sind meistens männlich.
CW: Gerade in der Auswahl des Personals könnten Sie aber doch Einfluss nehmen…
Paoli: Nicht unbedingt, denn ich bin abhängig von den Bewerbungen, die wir erhalten. Die überwiegende Mehrheit davon stammt nach wie vor von Männern.

In jeder Hinsicht bestens vernetzt: die Fernfachhochschule Schweiz (FFHS) mit Standort in Zürich.
Quelle: FFHS
CW: Was denken Sie, warum ist der Frauenanteil nach wie vor so gering?
Paoli: Darüber könnte ich stundenlang philosophieren (lacht). Mir ist wichtig zu betonen, dass es nicht um Fähigkeiten geht. Viele Gründe sind gesellschaftlicher Natur. Einerseits gibt es immer noch diese klassischen Rollenbilder, die kleine Kinder schon im Primarschulalter prägen. Mädchen möchten später Lehrerinnen und Tierärztinnen werden, Jungen eher Ingenieure und Piloten. Andererseits gibt es auch später bei der Berufs- und Studienwahl eine Tendenz, dass Frauen an eine eventuelle spätere Mutterschaft denken. Sie wählen deshalb eher Berufe, in denen die Vereinbarkeit von Job und Familie einfacher ist und bei denen längere Ausfälle sowie Teilzeitarbeit weniger Konsequenzen haben. In der Forschung kannst du nicht Jahre lang pausieren, ohne den Anschluss zu verpassen. Und IT-Jobs mit einem Anstellungsgrad von unter 80 % gibt es kaum.
CW: Und was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern?
Paoli: Eine Lösung wären flexiblere Anstellungsbedingungen mit Homeoffice-Möglichkeit und Teilzeitpensen. Das gilt sowohl für die Forschung als auch für die Industrie/Technik. Bei uns im LWS schreiben wir Forschungsstellen immer mit 60-100 % aus und hoffen, dass das auch Frauen ermutigt, sich zu bewerben. Darüber hinaus fehlen nach wie vor weibliche Vorbilder, besonders in Führungspositionen. Es ist wichtig, dass es wir uns als Gesellschaft von traditionellen Rollenbildern lösen und uns für moderne «Role Models» starkmachen. Auf privater Ebene sind auch die Männer in der Pflicht: Sie müssen proaktiver werden und sich mehr in Familie und Haushalt einbringen – beispielweise mit einer Reduktion des Arbeitspensums. In meinem Umfeld sehe ich nach wie vor, dass bei vielen Elternpaaren häufig nur die Frau ihr Pensum reduziert und eine Pensenreduktion für den Mann nicht infrage kommt – selbst dann, wenn die Frau gut verdient und es ökonomisch sinnvoll wäre, weiterzuarbeiten.
“Auf privater Ebene sind auch die Männer in der Pflicht: Sie müssen proaktiver werden und sich mehr in Familie und Haushalt einbringen.„
Beatrice Paoli
Das LWS – innovative Lösungen für Start-ups und Industrie
Was haben die Keimung von Kartoffeln und Erdrutschwarnsysteme gemeinsam? Beides sind Themen, mit denen sich die Forschenden unter der Leitung von Prof. Dr. Beatrice Paoli am Laboratory for Web Science (LWS) der Fernfachhochschule Schweiz beschäftigen.
Data Science und Künstliche Intelligenz sind die Schwerpunkte der Forschungstätigkeit der sechs interdisziplinären Forschenden am LWS. Mit ihren Hintergründen in Physik, Computer Science oder Wirtschaftsinformatik versuchen sie durch enge Zusammenarbeit mit Industriepartnern, innovative Lösungen zu kreieren, die in der Praxis einen messbaren Nutzen haben.
Bei den genannten und weiteren Forschungsprojekten geht es nicht immer nur darum, eigene, komplett neue Algorithmen zu entwickeln, sondern auf bestehenden open-source-Algorithmen aufzubauen, um spezifische Lösungen zu finden. Unabhängig vom verwendeten Modell ist die Datenaufbereitung bei jedem Projekt das Wichtigste.
Ziel des LWS ist es, Unternehmen bei der Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen durch Kooperationen und Forschungspartner zu unterstützen. «Wir betreiben keine Grundlagenforschung, sondern angewandte Forschung in Zusammenarbeit mit Unternehmen oder Start-ups aus der Industrie. Vor dem Projektstart stellen wir sicher, dass es eine solche Lösung in der Schweiz noch nicht gibt. Unser Anspruch ist, in jedem Projekt innovativ zu sein», erklärt Leiterin Paoli.
CW: Sie selbst haben Biophysik studiert und in Naturwissenschaften promoviert. Was hat Ihre Berufswahl beeinflusst?
Paoli: Naturwissenschaften und Technik haben mich tatsächlich schon immer interessiert. Ich war aber nicht speziell begabt, sondern vor allem fleissig. Ich hätte mir damals auch ein Philosophiestudium vorstellen können, aber mein Vater riet mir, etwas mit besseren Berufsaussichten zu wählen.

Das LWS unterstützt Unternehmen bei der Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen.
Quelle: FFHS
CW: Wie haben Sie Ihre Studienzeit inmitten von männlichen Kommilitonen erlebt?
Paoli: Ich erzähle gerne die Anekdote mit einem ehemaligen Schulkollegen, der zu mir sagte, dass ich das Physikstudium nicht schaffen würde. Aber: Ich habe ein Jahr nach ihm angefangen und das Studium vor ihm beendet. (lacht) Solche Aussagen weckten eher meinen Ehrgeiz.
CW: Wenn Sie auf Ihre berufliche Karriere schauen: Inwiefern spielte und spielt Ihr Geschlecht eine Rolle?
Paoli: Für mich persönlich spielte es keine Rolle. Ich machte, was ich machen wollte, und liess mich nicht unterkriegen. Es war nicht schwieriger für mich, Karriere zu machen. Dass ich 2015 die Leitung des Laboratory for Web Science der FFHS übernehmen konnte, war auch eine Glückssache. Mein damaliger Chef hatte gekündigt, und man bot mir die Stelle an, obwohl ich gerade noch im Mutterschutz war. Ich war unsicher, ob ich mir das zutraue, aber mein Vorgesetzter ermutigte mich, es zu versuchen. Manchmal muss man ins kalte Wasser springen.
Vielen Dank, Beatrice Paoli, für das interessante Gespräch.
Zur Person
Prof. Dr. Beatrice Paoli
ist Leiterin des Laboratory for Web Science und Professorin für angewandte Data Science und Digitalisierung an der Fernfachhochschule Schweiz (FFHS). Die gebürtige Italienerin hat in Rom Biophysik studiert und an der Universität Zürich in Naturwissenschaften promoviert. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter.