30.03.2011, 09:17 Uhr

Goodbye Switzerland

Das Klima ist rauer geworden: Die Schweiz braucht hoch qualifizierte Ausländer, aber müssen es gleich so viele sein? Das Dilemma: Fühlen sich die Fachkräfte nicht mehr willkommen und kehren dem Land den Rücken zu, hat die Wirtschaft ein Problem.
Die Schweiz als Abwanderungsland, Foto: © kallejipp / Photocase.com
Gehen der Schweiz die hoch qualifizierten Arbeitskräfte flöten? Das Land leidet seit Jahren unter Fachkräftemangel, und jetzt wandern die gefragten Experten auch noch aus. «Schweiz fr Deutsche weniger interessant», titelte der Zürcher Tages-Anzeiger am 24. August 2010. Zwar wächst die Bevölkerung der Schweiz weiterhin, doch deutlich geringer als noch in den vergangenen Jahren. Der Trend: Die Zuwanderung nimmt ab, die Abwanderung zu. 2009 wanderten insgesamt 160000 Personen ein, teilte das Bundesamt für Statistik (BfS) mit. Das sind rund 13 Prozent weniger als im Vorjahr. 59000 AusländerInnen und 27000 SchweizerInnen kehrten dem Land dagegen den Rücken zu. Der sogenannte Wanderungssaldo ? die Differenz zwischen Abwanderung und Zuwanderung ? ging 2009 im Vergleich zum Vorjahr um 24 Prozent zurück. Der Artikel im Tages-Anzeiger traf ins Schwarze und provozierte teils heftige Reak­tionen, wie in zahlreichen Kommentaren nach­zulesen ist. Sollen sie doch gehen, die Ausländer, wir haben sowieso zu viele davon, war da zu lesen. Die Zuwanderung sei auch nach dem Rückgang immer noch um 80 Prozent höher als vor Einführung der Personenfreizügigkeit, da könne von Aufatmen keine Rede sein, gibt Tagi-Leser Heinz Frey seinem Unmut Luft. Es sei eine Katastrophe, wie unser Land im Schnellzugstempo seine Identität, Kultur und Lebensqualität verliere, beklagt Henri Wulschläger. Und Mike Albrecht ergänzt: Die Schweizer würden einfach aus Wohnraum und Arbeitsmarkt verdrängt.

Das Boot ist voll

Angst vor Überfremdung und dem Verlust des Arbeitsplatzes scheinen bei vielen Schweizern die Diskussion zu dominieren. Das Boot sei voll, so der vor allem unter Rechten gepflegte Konsens. Report München etwa berichtete über die Journalistin Katrin Wilde, die auf Radio Energy Zürich die Morgenshow moderierte. Wilde erhielt innerhalb dreier Monate 600 Leserbriefe, darunter: «Ihr Deutschen seid eine Epidemie» oder «Schade, dass die Gasöfen in Deutschland abgestellt worden sind, denn da gehören Sie hin.» Da kommt man schon ins Nachdenken. Tagi-Leser André Klöti fragt sich: «Sind wir CH-Bürger wirklich gastfreundlich?» Einige Ex-Migranten wie der Berliner Rainer Huppke haben angesichts solch rassistischer Töne die Faxen dicke und hauen einfach wieder ab: «2008 zogen wir nach Zürich und wollten auch bleiben, aber 2010 sind wir wieder zurück nach Berlin gegangen, wo wir uns einfach wohler fühlen.» Die Schweiz sei schön, doch sei nicht alles Gold, was glänzt, bringt Huppke seine Zeit in der Schweiz auf den Punkt (vgl. Tagi-Kommentare oben). Auf der nächsten Seite: «Ausländerhass in der Schweiz?»

Ausländerhass in der Schweiz?

Medienhype, aufgebauschte Ausnahmen oder gesellschaftliche Realität, das vermischt sich bisweilen. Die Schweiz sei angewiesen auf ausländische Fach- und Führungskräfte, betont Rahel Ineichen-Stutz vom Personalvermittler Egon Zehnder International. 60 Prozent der SMI-Firmen (Swiss Market Index) seien ? auf Geschäftsführerebene ? mit Ausländern besetzt. Eine Abnahme des Zuzugs vom Ausland in die Schweiz hat Ineichen-Stutz bislang nicht beobachtet: Der Trend bleibt stabil. Wenn es eine ausländerfeindliche Stimmung in der Schweiz gebe, so Ineichen-Stutz, dann auf einer Ebene, die wirtschaftlich nicht relevant sei. Sie könne nicht bestätigen, dass Leute bewusst wieder abwandern.
Der Umgangston sei reisserischer geworden, gibt Dominik Brülisauer, «Associate Principal» beim Personalvermittler Heidrick & Struggles in Zürich, offen zu. Er werde auf diese Thematiken angesprochen, aber die Schweiz sei dadurch nicht weniger interessant geworden. «Auf die Entscheidung unserer Kandidaten hat das keinen Einfluss», betont Brülisauer gegenüber Computerworld. Animositäten zwischen den Nationalitäten seien bis zu einem gewissen Grad unvermeidbar, aber Führungskräfte mit internationalen Karrieren seien darauf vorbereitet. Ausserdem ist es «in meiner Position einfach nicht möglich, alle Stellen mit Schweizern zu füllen», wirft Brülisauer in die Waagschale. «Man darf solche Themen auch nicht zu hoch aufhängen», sagt Wolfgang Schmidt-Soelch, Managing Partner Central Europa bei Heidrick & Struggles. Zwar habe sich die politische Kultur, der politische Ton unter den Parteien verschärft, aber am allgemeinen Umgang habe sich relativ wenig geändert. Ausserdem sei der Anteil Hochqualifizierter in der Schweiz höher als etwa in den Flächenländern Frankreich und Deutschland, was auch an der überproportional hohen Dichte internationaler Unternehmen liegt. Das mache die Integration einfacher, meint Schmidt-Soelch, der (selbst ein Deutscher) seit zehn Jahren in der Schweiz lebt und sich gut integriert fühlt. Auf der nächsten Seite«Schweizer: freundlich & hilfsbereit»

Schweizer: freundlich & hilfsbereit

Sehr positive Erfahrungen hat auch die TagesAnzeiger-Leserin Esiuleiram (Pseudonym) gemacht. «Bin ich total blind, taub und gefühllos, oder lebe ich in einer anderen Schweiz», fragt sie im Blog der Zeitung: «Ich lebe in einem winzigen Dorf in der Schweiz, behalte meine deutsche Identität und bin hier so integriert, wie man es als 'kariertes Eichhörnchen' nur sein kann.» Die Schweizer begegneten ihr in der Regel freundlich, zuvorkommend und hilfsbereit. Respekt und Achtung vor dem Standpunkt des anderen seien dafür jedoch notwendige Voraussetzungen, betont sie.
Aber reicht das aus, wenn die Züge immer voller und die Räume immer enger werden? Die Schweizer Bevölkerung werde in den nächsten Jahren auf 9 Millionen Köpfe anwachsen, meinte Christoffel Brändli von der SVP in Graubünden gegenüber NZZ Online, und beruft sich dabei auf das Bundesamt für Statistik. Fakt ist: Zurzeit leben 1,68 Millionen Ausländer in der Schweiz, ihr Anteil ist mit 21,6 Prozent europaweit einer der höchsten. Jede vierte erwerbs­tätige Person in der Schweiz hat heute einen ausländischen Pass. «Das Problem ist die Infrastruktur, die auf diesen Zuzug nicht vorbereitet ist», warnt Schmidt-Soelch und nennt als Beispiele den Fernverkehr und den angespannten Wohnungsmarkt. Zwar sinkt der Hypozins, aber die Aufschläge bei Mieterwechseln legen zu ? in den letzten zehn Jahren um das Dreifache. Besonders stark werden Neu- und Wechselmieter in den Ballungsräumen geschröpft, wo akuter Wohnungsmangel herrscht. Im Kanton Genf beträgt die durchschnittliche Erhöhung bei Mieterwechsel 16,2 Prozent, in der Stadt Zürich 9,4 Prozent, im Allgemeinen ohne dass die Wohnung total saniert wurde. Auf der nächsten Seite: «Mietaufschlag 50 Prozent»

Mietaufschlag 50 Prozent

David Vonplon vom Tagi («Warum die Mieten trotzdem steigen», 2.12.2010) berichtet von der Hausbesitzerin Swisslife, die im Zürcher Lang­strassen-Quartier für eine kleine, ringhörige Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung 1800 Franken verlangt. Die langjährige Vormieterin kam mit 1150 Franken davon. Swisslife erhöhte um mehr als die Hälfte, ohne die Wohnung zu renovieren. «Früher verfolgten private Vermieter eine konservative Strategie», sagt Walter Angst vom Zürcher Mieterverband, «bei einem Mieterwechsel schlugen sie bei Bedarf 50 oder 100 Franken drauf.» Heute aber werde, auch durch Homegate.ch und andere Onlinedienste gefördert, eher versucht, die maximal mögliche Marktmiete herauszuschlagen. Alleinstehende Top-Verdiener haben keine Probleme damit, Nor­malverdiener und Familien mit Kindern schon. Für SVP-Parteipräsident Roger Liebi kommt das alles nicht überraschend. In acht Jahren sind in Zürich etwa 10000 Wohnungen neu gebaut worden. Es sei doch klar, dass dann 20000 Zuwanderer in nur drei bis vier Jahren zu höheren Mieten führten, sagt Liebi (vgl. TagesAnzeiger vom 2.12.2010, «Die Wohnungsnot und die Bürgerlichen»). Die ehernen Marktgesetze von Angebot und Nachfrage lassen sich nicht so einfach aushebeln. Und wenn ein Schweizer aus dem Zürcher Seefeld vertrieben werde, denke er ganz bestimmt an die Personenfreizügigkeit, ergänzt Liebi. Mit anderen Worten: Die Ausländer tragen die Schuld an der Schweizer Malaise. Dabei ist die Mehrheit der ausländischen Arbeitnehmer, die in die Schweiz auswandern, integrationswillig, gut qualifiziert und hoch motiviert. Sie lieben das Land und die Wirtschaft profitiert. Aber gerade dieser Umstand scheint für viele Schweizer ein Problem zu sein. Kathrin Morf vom Zürcher Unterländer fragte Nationalrat Hans Fehr, ob nach den Italienern und Osteuropäern denn nun die Deutschen für den SVP-Stimmenfang herhalten müssten. Das sei dummes Zeug, antwortete Fehr. Wer das behaupte, solle wieder mal auf die Strasse gehen und mit den Leuten reden. Dann werde er sehen, dass das Unbehagen gegenüber den Deutschen keine SVP-Erfindung, sondern in der Bevölkerung verbreitet sei. Schweizer fühlen sich überfremdet, in ihrer Identität bedroht und fürchten, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt zurückgedrängt zu werden. Je nach politischer Couleur favorisieren Schweizer Parteien eine von zwei möglichen Lösungen: Die Schweiz muss mehr Wohnraum schaffen und gleichzeitig massiv in ihre Infrastruktur investieren, um dadurch den Druck aus dem Kessel zu nehmen, oder aber die Zuwanderung besser steuern, wie es der Ständerat will. Dazu müsste allerdings die Personenfreizügigkeit mit der EU neu verhandelt werden. Auf der nächsten Seite:«Wirtschaftliche Katastrophe»

Wirtschaftliche Katastrophe

Zürichs SP-Sozialvorsteher Martin Waser plädiert eindeutig für Investitionen. Geld ist reichlich vorhanden. «Wenn die Schweiz die Schotten dichtmachen und die bilateralen Verträge kündigen würde, wie manche Stimmen fordern, käme es zu einer wirtschaftlichen Katastrophe», befürchtet Waser. IT-Unternehmen zum Beispiel, die auf ausländische Spezialisten angewiesen sind, würden innert weniger Jahre abwandern. Nationalrat Fehr dagegen redet der «Das Boot ist voll»-Metapher das Wort. Unser Land hat nur ein begrenztes Fassungsvermögen, die Schweiz ist kein Einwanderungsparadies, so seine Begründung. Um die von SP-Mann Waser prophezeite Fachkräftekatastrophe zu umgehen, müsste die Schweiz allerdings mehr ausbilden, und das kostet. Wesentlich preiswerter und bequemer ist es dagegen, fertig ausgebildetes Personal ins Land zu holen. Das Schweizer Dilemma: Schon kleinen Kindern bringt man bei, dass es den Fünfer und das Weggli nicht gleichzeitig gibt.

Deutsche Dreiviertel-Regel

Gut möglich, dass sich das Schweizer «Ausländerproblem» mit der Zeit auch ganz von selbst in Luft auflöst. «Den Höhepunkt der deutschen Einwanderung hat die Schweiz gesehen», mutmasst Joachim Schippers im Blog des Tages-Anzeigers. Die ökonomischen Daten Deutschlands sehen sehr gut aus, die Steuerbelastung der Arbeitnehmer sei gesunken und mittlerweile wieder konkurrenzfähig. Ohnehin sei eine dauerhafte Auswanderung ein sehr seltenes Phänomen, konstatieren An­dreas Ette und Lenore Sauer vom deutschen Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in einer aktuellen Studie zur Migration Hochqualifizierter (Ette/Sauer 2010). Im Durchschnitt halten sich etwa drei Viertel aller international mobilen Deutschen nur temporär im Ausland auf und kehren wieder in ihr Heimatland zurück. Kann die Schweiz also doch aufatmen? Vielleicht, denn zwei Ausnahmen widersprechen der Dreiviertel-Regel: Führungskräfte und Auswanderer mit niedrigerem Bildungsabschluss. Beide Gruppen bleiben deutlich länger.



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