19.11.2014, 15:19 Uhr

Warum Anrufen total uncool ist und mächtig nervt

Das Ende des Telefonierens naht. Sowohl in Beruf und im Privatleben spielt die fernmündliche Kommunikation immer weniger eine Rolle. Schon werden Arbeitsplätze ohne Telefon eingerichtet.
Jeder kennt das: E-Mail an den Kollegen abgeschickt. Nur eine kleine Anfrage. Senden. Fertig. Die Angelegenheit ist vom Tisch. Doch dann klingelt das Telefon. Der Kollege ist am Apparat. Die Mail hat er gesehen. Aber sie reicht ihm nicht. «Guten Tag, ich wollte nur schnell ...», grüsst er. Was dann folgt, dauert jedoch lange: Er erläutert, holt aus, kommt auf Sachen, die längst erledigt sind, plaudert. Dann fängt er noch von den bevorstehenden Ferien an. «Hör zu, Kollege, ich muss jetzt», sagt der Angerufene und würgt das Gespräch kurzerhand ab.
Als der Hörer aufgelegt ist, kommt ein erleichtertes «Uff» über die Lippen des Angerufenen. Das Telefonat hat gestört, sein Inhalt war völlig belanglos, überflüssig, verschwendete Zeit. Was mit einem Satz per E-Mail zu erledigen gewesen wäre, dehnte sich auf geschlagene 13 Minuten aus. Eine kleine Begebenheit, die sich heute immer wieder in den Büros abspielt: Telefonklingeln, kleiner Adrenalinstoss, dann der Gedanke: «Nicht jetzt!» Fünf andere Sachen warten darauf, bearbeitet, durchdacht und zu Ende gebracht zu werden. Anrufe stören. Nächste Seite: Weniger Telefonate im Geschäftsalltag als vor 10 Jahren In vielen Büros hat sich deshalb in letzter Zeit ein neues Verhalten durchgesetzt: Man will nicht mehr überraschend hereinplatzen, auch nicht fernmündlich. «Es wird weniger telefoniert als noch vor zehn Jahren», konstatiert Martin Eppler, Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Medien- und Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen. Anrufe wie im genannten Beispiel zeigen: «Solche Unterbrechungen können ein grosser Produktivitätskiller sein.»

Keine-Zeit-Arbeitswelt

Die Keine-Zeit-Arbeitswelt ist deshalb längst auf schriftliche Verständigung gewechselt. Textbotschaften sind schnell, weitgehend frei von Emotionen, verbrauchen weniger Zeit und stören nicht, wenn sie ankommen. Elektronische Kanäle wie E-Mail sind in vielen Büros der Kontaktkanal Nummer eins, der Kollege hätte es wissen müssen.
Am deutlichsten erkennbar ist das bei den Führungskräften von morgen. Ihr Medium Nummer eins ist die elektronische Post. Als zweitwichtigster Kanal werden Social Media wie Xing, Twitter und LinkedIn oder interne Tools wie Yammer und Jive eingesetzt. An dritter Stelle in der Hierarchie der Kommunikationsmittel stehen Messaging-Tools wie Whatsapp. Das Telefon, einst aus dem Geschäftsalltag nicht wegzudenken, rangiert nur noch auf Platz vier, ermittelte eine Studie des Dienstleisters Dimension Data unter jüngeren Berufstätigen. Die neue Regel lautet: Anrufen nur, wenn es sonst nicht geht. «Die Generation Y sagt ,Adieu' zum klassischen Telefonanruf», erläutert Andrew McNair, verantwortlich für die Studie, den grossen Trend. Nächste Seite: Mit iPhones telefoniert man nicht

Mit iPhones telefoniert man nicht

Darüber hat sich auch Jacqueline Steffen Gewissheit verschafft. Sie ist Inhaberin von Steffen Coaching in Erlenbach und professionelle Telefontrainerin. Ihr Sohn eröffnete ihr kürzlich den Einblick in das Kommunikationsverhalten von morgen. Sie fragte den Filius, wen er anrufe, wenn er sein iPhone benutzt. «Eigentlich telefoniere ich nur noch mit euch, den Eltern», habe der 13-Jährige entgegnet. Für ihn ist das Gerät ein tragbarer, jederzeit verfügbarer Zugang zur digitalen Kommunikation - nur eben nicht für mündlich geführte Gespräche. Dieser neue Standard, sagt die Studie von Dimension Data, hat längst auch die Älteren erreicht: «Auch die Gen X (geboren 1964 und jünger, Anm. d. Red.) verhält sich kaum anders als die Gen Y.» Indizien dafür gibt es überall. In vielen Büros klingelt das Telefon immer seltener. In Grossbritannien meldet es sich oft nur noch ein- oder zweimal am Tag. In den USA gehen manche Unternehmen schon dazu über, neue Schreibtische gar nicht mehr mit einem Telefonapparat auszustatten, wie das New-Economy-Magazin «Wired» meldet. Ein Blick in die Berliner Coworking-Szene bestätigt den Trend. An den zahllosen Mietschreibtischen etwa im Betahaus oder bei Mobilesuite sitzen Web-Programmierer, IT-Tüftler und Startup-Unternehmer - und sie alle arbeiten meist still. Niemand telefoniert. Das Smartphone liegt zwar griffbereit neben dem Laptop, aber dort kommen allenfalls Textnachrichten an. Die Zahl der klassischen Sprachtelefonate pro Tag geht gegen null.
Klar, Gründer und Kleinunternehmer tun heute schon das, was andere erst morgen tun. Das gute alte Telefon ist noch längst nicht überall verstummt. In Traditionsbranchen wie dem Handwerk oder in Firmen, die viele Mitarbeiter im Blaumann beschäftigen, wird noch viel telefoniert. «Wer ein Problem mit einer Maschine oder an seinem Computer klären will, ruft im Zweifel den Service an», sagt Marcus Meloni, CEO der Avocis AG, die zahlreiche Call-Center betreibt. E-Mail sei hier nicht das Mittel der Wahl, für erklärungsbedürftige Sachverhalte ist der Kanal zu umständlich. Aber am generellen Trend ändert das nichts. Die Zahl der Telefongespräche erreichte im Jahr 2007 ihren Höhepunkt und sinkt seither, ermittelte eine Studie des Marktforschers Nielsen bei Mobilfunknutzern - und die Gespräche werden immer kürzer. «Mein Zug ist aus dem Fahrplan geraten. Ich komme zehn Minuten später zum Meeting» - für Botschaften wie diese wählt der Büromensch immer noch am liebsten das Telefon. Ansonsten aber gilt für Anrufe im Geschäftsleben dieselbe Regel, die für Besuche schon immer galt: Kontakt gerne, aber nur mit Anmeldung. «Wenn heute im Büro telefoniert wird, geht dem oft eine Verabredung voraus», stellt der St. Galler Kommunikationsexperte Eppler fest. Da werden erst einmal Mails des Typs «Können wir telefonieren?» oder «Wann hast du Zeit für einen Anruf?» durch den digitalen Äther gejagt. Man textet hin und her, einigt sich: Telko nächsten Donnerstag, 10.30 Uhr, eine Viertelstunde. Dieses Format ist verbreitet und wird weiter zunehmen, oft in Verbindung mit Telefonkonferenzen. Nächste Seite:  «Anrufen ist uncool» Denn durch neue Services wie meetgreen.de, myTelco.de oder meeble.de wird es immer leichter, viele Personen zur Konferenz zusammenzuschalten. Aussterben werden dagegen die belanglosen Plaudereien aus unserem Beispiel. Überraschende Anrufe sind in vielen Büros nicht erwünscht. Die Telekom etwa betreibt in Berlin einen Inkubator namens Hubraum, der mehrere IT-Startups des Konzerns beherbergt. «Anrufen ist uncool», lautet die Botschaft, die die Tochterfirma des grössten Telefonunternehmens im Lande aussendet: Eine Telefonnummer von Hubraum findet sich auf der Homepage nicht. Der Rückgang der Telefonate gefällt nicht allen, Call-Center oder Telefontrainer beispielsweise sind ernsthaft betroffen. Denn Verkäufe per Anruf sind in der neuen Kommunikationswelt ein No-Go. Privathaushalte anzurufen, um etwas zu verkaufen, sowieso. Im Geschäft sieht es kaum anders aus: «Sales-Anrufe in Büros, diese Praxis gerät immer mehr in die Ecke des Unseriösen», beobachtet Call-Center-Betreiber Meloni. Deshalb spielt dieser Kontaktkanal in seinem Geschäft kaum noch eine Rolle: «Das wird aussterben.» Fast alle Telefonagenten bei Avocis arbeiten nur noch «inbound», wie es in der Fachsprache heisst: Sie sind bereit, um Anrufe, etwa von Kunden, entgegenzunehmen.

Als das Telefonat die Visitenkarte war

Auch bei den Telefontrainern stehen die Zeichen auf Umbruch. Die Profession hatte ihre grosse Zeit, als das Telefon Kontaktkanal Nummer eins war - bequemer als Fax, schneller als der Brief. Da galt, was Ernst Z`Graggen, Telefontrainer und Inhaber des Dienstleisters Telefonpower.ch, so beschrieb: «Das Telefon ist die Visitenkarte des Unternehmens.» Freundliche Stimme, positive Ansprache, den Anrufer nicht weiterleiten, sondern sein Problem sofort lösen - mit solchen Lehrsätzen machen Z`Graggen und Kollegen bis heute gute Geschäfte.
Aber der Wandel lässt sich nicht aufhalten. Bevor heute einer anruft, hat er sich längst im Netz schlaugemacht. Paket noch nicht angekommen? Mit welcher Taste gelingt der Neustart der Kamera? Antworten auf Fragen wie diese bekommt der digital vernetzte Verbraucher heute auf den zahlreichen Selbstbedienungsseiten. Amazon hat die Verbraucher längst umerzogen - sie rufen nicht mehr an, sondern versuchen erst einmal, die Antwort im Netz selbst zu finden. Der Anruf beim Bestell- oder Kundencenter wird weiter an Bedeutung verlieren und damit auch das Training für Telefonagenten. Ganz aussterben wird das Telefongespräch dennoch nicht. Sobald es im Büro um komplexe Themen geht, ist der Griff zum Telefon auch in Zukunft der Weg der Wahl. «Kompliziertes am besten im Gespräch miteinander klären», empfiehlt Kommunikationsprofessor Eppler. Das vermeidet das digitale Pingpong, bei dem immer wieder hin- und hergemailt wird. Nächste Seite: Interview mit einer Telefon-Verweigerin

Im Gespräch mit Philippa Pauen, Gründerin und Geschäftsführerin der Wummelkiste


Die jungen Unternehmen von heute sind die Grosskonzerne von morgen. Deshalb lohnt der Blick auf das, was Internet-Startups tun. Wir sprachen mit Philippa Pauen, Gründerin und Geschäftsführerin der Wummelkiste, die Kinderspielzeug im Abonnement verschickt. Die 31-Jährige Startup-Gründerin aus Berlin erklärt, warum sie im Geschäft kaum telefoniert.
Welche Bedeutung hat der Telefonanruf in Ihrem Geschäftsalltag?
Philippa Pauen: Eine sehr geringe. Es gibt kaum Gründe, sich gegenseitig anzurufen. Die Verständigung über Textkanäle ist viel besser. Heute ist E-Mail für uns die Nummer eins der Kanäle, mit weitem Abstand. Intern nutzen wir auch Skype. Für die Arbeit an Projekten gibt es spezialisierte Werkzeuge, zum Beispiel das Collaboration-Tool Asana.
Was ist das Problem von Telefonanrufen?
Pauen: Sie unterbrechen. Der Arbeitsfluss wird gestört. Deshalb bevorzuge ich Kanäle, die es erlauben, Nachrichten dann zu bearbeiten, wenn es gerade passt. Das gebietet auch die Rücksichtnahme auf den Empfänger der Kommunikation.
Was bedeutet die Telefonabstinenz für Ihre Firma?
Pauen: Wir haben intern sieben Mitarbeiter. Für die reichen zwei Festnetztelefone. Persönliche Durchwahlnummern gibt es bei uns nicht. Wir telefonieren noch mit einigen traditionellen Handwerksbetrieben, die uns beliefern. Da ist die digitale Welt noch nicht angekommen. Die wollen Aufträge am Telefon besprechen – und eine Bestätigung per Fax.
Erledigen Sie wirklich alles per E-Mail und Textkommunikation?
Pauen: Bei Standardabläufen ja. Aber wenn erklärungsbedürftige Themen anstehen, schätze ich das persönliche Gespräch. Man sitzt gemeinsam am Tisch, kann sich in die Augen sehen und die Dinge in Ruhe ansprechen und klären. Solche Begegnungen sind weder durch E-Mails noch durch Telefonate zu ersetzen.
Gibt es denn noch Momente, in denen Sie doch zum Telefon greifen?
Pauen: Klar. Wenn ich auf dem Weg zu einer Verabredung bin, kann ich von unterwegs aus anrufen: "Wo seid ihr gerade?" Oder auch in Fällen, in denen eine schnelle Entscheidung getroffen werden muss. Dann ist das Telefon einfach der direktere Kanal.


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